Reich und über Reich hinaus

Knuth Müller rezensiert „Unpolitische Wissenschaft?“ für Amazon:

Das im Sommer 2013 im Psychosozial-Verlag erschienene Buch des Berliner Psychoanalytikers und Psychoanalysehistorikers Andreas Peglau besticht m.E. nicht nur in der Fülle neuer Informationen durch bisher nicht beachtete Archivdokumente über die Person und Werk Reichs (wie der Rezensent »Freudianer« eindrücklich herausgehoben hat), sondern macht auf eine eklatante Geschichtsverfälschung innerhalb der psychoanalytischen Geschichtsschreibung aufmerksam: War bisher der Mythos genährt worden, dass die Psychoanalyse Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurde und damit die organisierte Psychoanalyse den Familienroman einer gegenüber dem NS-Regime widerständischen Institution aufrecht erhielt, so belegt Peglau eindrücklich, dass die Verfolgung sich im Wesentlichen gegen jüdische und sozialistisch bzw. kommunistisch aktive Psychoanalytiker/innen richtete, nicht jedoch auf die Theorie und Praxis der Psychoanalyse selbst. Der Beruf des Psychoanalytikers konnte – wenn man sich politisch erwünscht verhielt und seinen »Ariernachweis« leistete – während des NS-Regimes ohne wesentliche Einschränkungen weiterhin ausgeführt werden.

Damit war die Psychoanalyse (insbesondere in Berlin) alles andere als apolitisch, sondern handelte, wie neben Peglau insbesondere auch die Berliner Psychoanalytikerin und Psychoanalysehistorikerin Regine Lockot aufzeigen konnte, systemkonform und damit politisch. Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) schloss ihre jüdischen Mitglieder aus, und untersagte politische Aktivitäten ihrer Mitglieder, die sich im Kampf gegen das NS-Regime engagierten bzw. engagieren wollten. Gleichfalls exkommunizierte die Internationale Psychoanalytische Vereinigung (IPV/IPA) Wilhelm Reich, gerade weil dieser, wie kaum ein anderer Psychoanalytiker zur damaligen Zeit (Ausnahmen sind u.a. Edith Jacobson und John Rittmeister), sich aktiv gegen das menschenverachtende NS-Regime zu stemmen versuchte. So stand der Schutz des eigenen Berufsstandes im Vordergrund, auch wenn dieser auf Kosten der jüdischen Mehrheit ihrer kontinentaleuropäischen Mitglieder ging. So ist das von Andreas Peglau vorgelegte Buch weit mehr als eine gelungene Ergänzung des Literaturkanons über die Person Wilhelm Reich – es ist ein längst fälliger Beleg für eine hoch politisierte Psychoanalyse, die ihre eigene Politisierung nicht selten zu verleugnen verstand.

Quelle: http://www.amazon.de/review/R3UAI0KEREMDHI/ref=cm_cr_dp_title?ie=UTF8&ASIN=3837920976&channel=detail-glance&nodeID=299956&store=books