Kritische Psychologie als politisch handelnde Reflektion

Hartmut Rübner in der Sozialwissenschaftlichen Literatur Rundschau 70, 2015 (Auszüge):

Individuelle Befreiung und gesellschaftliche Emanzipation bei Peter Brückner und Wilhelm Reich

Wilhelm Reichs Ausschlüsse aus Kommunistischer Partei Deutschlands und IPV/DPG vor dem Hintergrund der Einbindung und Gleichschaltung der anpassungswilligen Psychoanalyse im Nationalsozialismus schildert im Detail die vielschichtige Studie von Andreas Peglau.
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Seit 1927 hatte sich Reich zunächst in der sozialistischen, dann in der kommunistischen Bewegung engagiert und in deren Kultur- und Gesundheitsorganisationen eine Synthese von psychoanalytischer Sexualwissenschaft und marxistischer Ökonomie als »Sexpol« implementiert. Allerdings stießen sein Einsatz gegen die bürgerliche Sexualmoral, seine Forderung, »die geheime oder offene sexuelle Rebellion der Jugend im revolutionären Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung verwandeln«, insbesondere aber wohl seine Empfehlungen für die »Schaffung einer offeneren und freieren sexuellen Atmosphäre« zur Behebung individueller »Schwierigkeiten« als Vorbedingung zur Verbesserung der »Parteiaufgaben«, nicht auf ungeteilte Begeisterung in den Verbandsspitzen. Unmittelbar nach der Machtübertragung an Hitler hatte sich Reich auf einer Diskussionsveranstaltung der Arbeitsgemeinschaft marxistischer Sozialarbeiter (AMSO) mit Vorwürfen von Parteifunktionären auseinanderzusetzen, seine Aufklärungsschrift habe »eine schwere Verwirrung in die kommunistischen Jugendorganisationen gebracht«, weil »seit Erscheinen dieses Buches […] in der Jugend nur noch das eine Interesse vorhanden [sei], sich sexuell auszuleben.« Dies »ginge so weit, dass die Jugendlichen von der Organisation die Stellung eines Zimmers zur Abwicklung des Geschlechtsverkehrs fordern.«
Reichs praktisches »Ziel war es, die Kluft zwischen dem Klassenbewußtsein der Avantgarde und dem der Arbeitermassen durch Artikulation und Politisierung der Alltagsbedürfnisse und -sehnsüchte dieser Massen zu schließen – sie durch Propagierung einer sexualpolitischen ‚Gegenideologie‘ zum Faschismus der politischen Passivität zu entreißen.« Gänzlich unvereinbar mit der »Sozialfaschismus-These«, mit der die Komintern und die KPD-Führung die Sozialdemokratie als ihren primären politischen Kontrahenten auswiesen, war indessen Reichs Massenpsychologie des Faschismus, zumal der darin aufgezeigte basale Zusammenhang von autoritärer Triebunterdrückung und faschistischer Ideologie, bei dem sich in einem irrationalen Mechanismus rassistische Phraseologie und Führerkult zu einem mystischen Religionssurrogat verbindet, durchaus Analogieschlüsse zur sowjetischen Propaganda nahe legte.
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»Was bleibt von Reich?« Diese Frage stellte Helmut Dahmer schon 1975 und prognostizierte ein Fortleben von dessen Gedankengängen auf ganz unterschiedlichen Terrains.
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Was die Sozialwissenschaften oder speziell die Psychologie anbelangt, so dürfte vor allem die sowohl von Peter Brückner als auch von Wilhelm Reich gezeigte Bereitschaft als vorbildlich gelten, sich »öffentlich an gesellschaftskritischen Diskussionen und Veränderungsprozessen zu beteiligen«.
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