Was die Massen zum Faschismus treibt. Ein Beitrag für das Journal JACOBIN

von Andreas Peglau

Vor 90 Jahren, im Spätsommer 1933, erschien Wilhelm Reichs Klassiker »Massenpsychologie des Faschismus«. Das Buch war sein Versuch, die Anziehungskraft der Nazi-Ideologie zu erklären und gleichzeitig einen blinden Fleck der marxistischen Gesellschaftstheorie auszufüllen.

 

Bei den Vorträgen, die ich über Psychoanalyse gehalten habe, bin ich immer wieder auf denselben Vorbehalt gestoßen: Psychoanalytische Betrachtungen würden vom „Eigentlichen“, vom Klassenkampf, ablenken.Der Kern dieser Argumentation ist nicht neu. Seit sie sich um das Jahr 1845 gegen ihren philosophischen Konkurrenten Max Stirner abgegrenzt hatten, spielte für Marx und Engels Psychisches kaum noch eine Rolle oder sie meinten, es durch Produktionsverhältnisse und vermeintlich objektive Gesetze miterklären zu können. Später, im Jahr 1886, bekannte Engels in einem Brief an Franz Mehring, er und Marx hätten „die Art und Weise“ des Zustandekommens von „politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen“ vernachlässigt.Dabei ist es geblieben. Bis auf die Kritische Theorie klafft diese Lücke bis heute im Marxismus – Kindheit, Erziehung, Sexualität, Psyche, Motive, Bewusstsein, erst recht unbewusste Prozesse werden nach wie vor nicht in qualifizierter Weise behandelt.Doch wie ließe sich jemals ein Gemeinwesen errichten, in dem „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ und in dem gilt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ – wenn nicht systematisch erforscht und einbezogen wird, was genau ein freies Individuum auszeichnet, welche Bedingungen es benötigt, um frei zu sein, über welche Fähigkeiten Menschen verfügen und welche Bedürfnisse sie antreiben?In der Tat: Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hatte ein begrenztes, zum Teil reaktionäres Menschen- und Weltbild. Viele seiner bahnbrechenden Erkenntnisse haben jedoch nach wie vor Relevanz, auch für Marxistinnen und Marxisten. Und: Sie wurden weiterentwickelt, nicht zuletzt von Wilhelm Reich.

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