von Andreas Peglau
Deutsche Leserinnen und Leser, die Ende 1933 oder später Mystische Erhebung. Ein Buch für junge Männer von Pastor Friedrich Traub aufschlugen, hatten fürs erste keinen Anlass, sich zu wundern: ein Kirchenvertreter mehr, der dem NS-Regime huldigte. Hieß es doch gleich zu Beginn: „Mit starker Hand hat der Nationalsozialismus unter Gottes Führung Materialismus und Bolschewismus, Individualismus und Liberalismus, überhaupt alles undeutsche und unchristliche aus unserm öffentlichen Leben hinweggefegt.“ Brachen sie die Lektüre an dieser Stelle ab und verzichteten auf weitere Nachforschung, dürften sie keinen Grund gesehen haben, warum sie der Besitz dieser Schrift gefährden könnte. Bei genauerer Betrachtung wären sie jedoch zu einem ganz anderen Resultat gekommen.
Zunächst einmal: Der „Kreuz“-Verlag Marburg, in dem Mystische Erhebung angeblich erschienen war, existierte nicht. Auch den Buchautor umhüllte ein Geheimnis. In den Akten der evangelischen Kirche hätte sich zwar ein Mann gleichen Namens finden lassen: der evangelische Missionar Friedrich Traub. Allerdings war dieser bereits am 8.2.1906, gerade 33jährig, im chinesischen Jiujiang an Typhus verstorben. Zuvor hatte der gebürtige Schwabe mehrere kirchliche Lieder verfasst, deren bekanntestes „Jesus lebet, Jesus sieget!“ hieß (Hägele S. 10ff.). Doch Bücher hatte er nie geschrieben.
Schon auf Seite zwei der Vorrede zu Mystische Erhebung drängt sich zudem der Schluss auf, dass Traub nicht nur ein erstaunliches Nachleben, sondern auch schizophren anmutende Züge gehabt haben musste. Dem glühenden „rechten“ Bekenntnis schloss sich nämlich ein radikaler Gesinnungswandel an. Eingeleitet von der bereits leicht irritierenden Information, der Autor habe innerhalb von Arbeiterorganisationen gewirkt, wird die „Gottgesandtheit“ der NS-Führer durch Anführungsstriche hinterfragt, dann die von diesen zu „Untermenschen“ Abgestempelten als Träger der „Zukunft der Menschheit“ gewürdigt. Anschließend heißt es: „Wenn heute Millionen Schaffender dem Faschismus folgen, […] so besteht dennoch kein Grund zur Verzweiflung“. Damit nicht genug: „Hitler ist […] objektiv ein Volksbetrüger“, dem sein „Riesenerfolg […] den Ausbruch einer Geisteskrankheit erspart hat, die er in sich trägt […]. Der Nationalsozialismus ist unser Todfeind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn wir seine Stärken richtig einschätzen und dies auch mutig aussprechen.“
In diesem Stil und mit diesem Inhalt ging es nun weiter, auf insgesamt 283 Seiten. Was war geschehen? Die Leserinnen und Leser waren in Wirklichkeit auf den Text der Massenpsychologie des Faschismus (vgl. Peglau 2013, S. 241-268) gestoßen, geschrieben von dem bekannten Psychoanalytiker, Sexualreformer und Kommunisten Wilhelm Reich!
Die Originalausgabe dieser Schrift hatte Reich im August oder September 1933 in seinem dänischen Exil im Sexpol-Verlag veröffentlicht. Doch er druckte sein Buch noch einmal: mit unverfänglichem Cover und „rechts“-lastigem Einstieg, den er auf Seite zwei in den Originaltext übergehen ließ. Wie es auch andere emigrierte Autoren mit ihren NS-kritischen Werken taten, sorgte er dafür, dass diese Tarnausgabe nach Deutschland geschmuggelt wurde.
Reich hat das im Vorwort der englischsprachigen Neuauflage der Massenpsychologie von 1946 erwähnt (Reich 1986, S. 17). Belegen ließ es sich bislang nicht, da offenbar so gut wie keine getarnten Exemplare erhalten geblieben sind. Selbst im Bundesarchiv, das über eine beeindruckende Tarnausgaben-Sammlung verfügt, findet sich nicht einmal ein Hinweis darauf (Stand 2013).
Insofern kam es einer kleinen Sensation gleich, als mir im Zuge meiner Recherchen zur Psychoanalyse im Nationalsozialismus genau jenes Buch präsentiert wurde. Heinz Peter, der inzwischen leider verstorbene Bibliothekar und Mitbegründer der Berliner Peter-Weiss-Bibliothek, hatte es im Nachlass eines früheren KPD-Mitgliedes entdeckt. Ein weiteres Scheinargument dafür, dass Reichs autobiografische Angaben angeblich höchst ungenau und übertrieben seien (vgl. Peglau 2013, S. 115-118), zerplatzte.
Übrigens lässt sich den Berliner Adressbüchern entnehmen: Otto Schleenvoigt, der Mann, dessen Name auf der Tarnausgabe von Reich eingestempelt ist (siehe Abbildungen), hat tatsächlich existiert. Spätestens 1932 wohnte er in der Pfalzburger Straße 80, Berlin W. 15. Von Beruf war er Krankenpfleger. Von 1940 bis 1942 ist er, vielleicht wegen Kriegsdienstes, nicht verzeichnet. Dann taucht er als Hauswart in der Uhlandstr. 152 auf – also genau wie auf dem Umschlag gestempelt. Es sieht also so aus, als ob er das Buch erst recht spät in die Hand bekommen hat. Sollte es noch vor 1945 gewesen sein, hätte er damit ein beträchtliches Risiko auf sich genommen.
Die unten stehenden Abbildungen zeigen jeweils das Frontcover und die ersten Buchseiten von Original- und Tarnausgabe im Vergleich.
Zur besseren Lesbarkeit bitte ins Bild klicken.
Literatur:
Hägele, Friedemann (Hg.) (1995): Friedrich Traub – ein Pionier der Chinamission. Aus Liebe zu Christus, Holzgerlingen.
Reich, Wilhelm (1986): Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln.
Reich, Wilhelm (1995): Menschen im Staat, Frankfurt a. M..
Berliner Adressbücher: http://www.zlb.de/besondere-angebote/berliner-adressbuecher.html
Der erst Teil des Beitrages wurde mit freundlicher Genehmigung gekürzt aus Mystische Erhebung. Pastor Traub und Wilhelm Reich entnommen, erschienen in: Werkblatt. Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Nr. 70 (2013), S. 118-127.