Wie funktioniert politische Psychoanalyse? Zur Bedeutung Ernst Federns

von Andreas Peglau [1]

Vom Ettersberg, auf dem Ernst Federn mehr als sechseinhalb Jahre als KZ-Häftling zubrachte, hat man eine beindruckende Sicht auf den Ort, der wie kaum ein anderer für deutsche Kultur steht: Weimar.

Blick von der Gedenkstätte Buchenwald hinunter nach Weimar

Foto: Gudrun Peters)

Zur Arbeit in den Gustloff-Werken wurde auch Federn dorthin transportiert (Kuschey 2003, Bd. 2, S. 740-743), befand sich damit unweit der Wirkungsstätten von Goethe, Schiller, Herder, Bach und Liszt. Aus der Lager-Bibliothek in „Buchenwald“ entlieh sich der Inhaftierte Goethes Versepos Hermann und Dorothea, eine konfliktreiche Liebesgeschichte mit Happy End. Hoffnung erweckende Zeilen daraus notierte Federn auf die Rückseite des Fotos seiner späteren Frau, das ihm die Haftzeit ertragen half (ebd., Bd. 1, S. 296-297).

Fast auf den Tag genau siebenundzwanzig Jahre bevor Ernst Federns Transport am 24. September 1938 am Weimarer Bahnhof eintraf und drei Jahre bevor er überhaupt geboren wurde, hatte sein Vater die thüringische Kleinstadt besucht. Vom 21. bis 22. September 1911 nahm Paul Federn dort am Dritten Internationalen Psychoanalytischen Kongress teil. Auch Freud, Jung, Ferenczi, Abraham, Eitingon, Jones, Rank, Stekel, kurz: die Elite der damaligen Analytiker war zugegen (Peglau/Schröter 2013). Spätestens als Ernst Federn in den 1950er Jahren die Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zur Veröffentlichung vorbereitete, muss er davon erfahren haben. Reflektiert hat er es anscheinend nicht, zumindest nicht öffentlich, ebenso wenig wie die bedrückende Nähe von Klassikhochburg und KZ, von Höhe- und Tiefpunkt deutscher Kultur.

Was die Weimarer Tagung betrifft, hätte es gerade für Federn einen spezifischen Anknüpfungspunkt gegeben. Seit 1936 beschäftigte ihn die mögliche Verbindung der Ideen von Freud und Marx. Mit vergleichbaren Bestrebungen hatten sich die Analytiker schon auf und nach dem dritten IPV-Kongress befasst – und sie mehrheitlich abgelehnt (Peglau/Schröter 2013, S. 138-140). 1912 rekapitulierte Sándor Ferenczi in der Imago, die Psychoanalyse könne sich keiner philosophischen Anschauung „unterordnen oder in diese einordnen“, müsse „voraussetzungslos Tatsachen […] sammeln“, sei „Richterin auch über die Philosophie“, lasse sich „in jedes materialistische oder spiritualistische, monistische oder dualistische System einverleiben“ (ebd., S. 139). Ab 1930 sollte die Selbstdarstellung der Analyse als neutrale Wissenschaft immer üblicher werden (und bald darauf die Einverleibung analytischer Inhalte in das NS-System erleichtern – siehe Peglau 2013). So hieß es im Herbst 1931 in der Psychoanalytischen Bewegung: „Die Psychoanalyse ist selbstverständlich ›unpolitisch‹. Sie […] ist […] eine naturwissenschaftliche Disziplin, die schon durch ihr Forschungsobjekt in die großen sozialen Fragen nur als unparteiliche, der Wahrheit dienende Instanz einzutreten vermag“ (Peglau 2013, S. 39).

Ich nehme an, dass Ernst Federn diese Statements irgendwann zur Kenntnis genommen hat. Das Thema als solches war ihm ohnehin geläufig. Seine Äußerungen zum Verhältnis zwischen Politik und Analyse sind jedoch widersprüchlich.

So heißt es in Federns 1984 publiziertem Aufsatz „Psychoanalyse und Politik – einige historische, theoretische und praktische Überlegungen“ (Federn 1999, S. 254-271), Psychoanalytiker befänden sich „in einer besonders schwierigen Lage, wenn sie sich politisch engagieren wollen“ (ebd., S. 254). Die Analyse suche ja „die Erklärung der individuellen Problematik ihrer Patienten in deren Kindheit, in der die Politik noch gar keine Rolle spielt“ (ebd.). Meinte er, Kinder träten keinen Parteien bei, gingen nicht demonstrieren? Sicherlich. Aber Politik bestimmt hochgradig sowohl die Lebensumstände ihrer Familien als auch die von den Eltern vertretenen Erziehungsnormen – und wirkt schon insofern intensiv hinein in die Kindheit. Daher erstaunt es auch, wenn Federn im nächsten Satz schloss: „Kurz, die Psychoanalyse ist an und für sich eine sehr unpolitische Tätigkeit.“ (ebd.) Man dürfe es dem „durchschnittlichen Psychoanalytiker kaum verargen […], wenn er der Tagespolitik nur ungern seine Aufmerksamkeit zuwendet“, seien doch „gerade die Politik und ihre Träger so voll von Irrationalitäten und menschlichen Schwächen“ (ebd., S. 255). An letzterer Aussage ist nicht zu zweifeln, allerdings: Wäre nicht gerade wegen dieser Irrationalitäten die Psychoanalyse gefordert, die oftmals neurotischen und gefährlichen Intentionen von Politikern aufzudecken?

Ohne dies zu reflektieren, nutzte Federn die verbleibenden Seiten seines Aufsatzes, um – spürbar involviert – genau das darzustellen, was er zu Beginn fast ad absurdum geführt hatte: Ansätze politischer Psychoanalyse. Zu guter Letzt wies er darauf hin, dass er ebenfalls dazu beigetragen hatte, zum Beispiel, indem er sich 1978 damit auseinandersetzte, warum sozialistische Parteiprogramme Freudsche Erkenntnisse nicht berücksichtigten.

Damit nicht genug, schrieb Federn ein Jahr nach diesem Aufsatz in der Psyche:

„Da die Psychoanalyse nach einem neuen Weltkrieg oder unter einer neuen, viel schrecklicheren Diktatur nicht bestehen bleiben könnte, wäre es heute vernünftig, wenn die Internationale Psychoanalytische Vereini­gung und ihre nationalen Verbände zu ihrer Selbstverteidigung politisch tätig würden. Dazu müsste allerdings wieder so etwas entstehen wie eine Psychoanalytische Bewegung im Sinne von Freud und [Paul] Federn. Davon kann gegenwärtig kaum die Rede sein“ (Federn 1985, S. 373).

Wie passt das zusammen?

Zum einen scheint auch Ernst Federn bestimmte Widersprüche nur ausgehalten zu haben, indem er sie verdrängte. Dass keine Reflexionen von ihm über die Nähe von Weimar und „Buchenwald“ überliefert sind, könnte ein weiterer Beleg dafür sein. Zum anderen war er immer bestrebt, Sigmund Freud gegenüber betont loyal zu bleiben. Das ließ ihn manchmal wie einen dogmatischen Freudianer klingen, beispielsweise wenn er argumentierte, dass die Psychoanalyse „vollständig identisch mit Freuds Werk ist“, wer von Freud in wesentlichen Punkten abweiche, daher kein Analytiker sein könne (Federn 1999, S. 195). Vielleicht blendete er deshalb aus, wie deutlich sich manche seiner Annahmen von denen Freuds unterschieden. So wies er ganz zu Recht darauf hin, dass – entgegen der auch von Freud vertretenen Meinung –, die Analyse nicht „den ‚Gesetzen‘ der naturwissenschaftlichen Forschung unterworfen werden“ könne, da ihre Resultate in hohem Maße von subjektiven Faktoren abhingen (Federn 1982, S. 301; Federn 1999, S. 192). Federn, der mit einem weit über Freuds Klientel hinausgehenden Personenkreis arbeitete, verfügte zudem über einen größeren, meiner Ansicht nach realitätsgerechteren „therapeutischen Optimismus“ als der Analysegründer (Federn 1999, S. 43-45). Aber die mir am wichtigsten erscheinende Differenz zwischen beiden bestand in ihrem Umgang mit politischer Psychoanalyse.

Freud war, was die Notwendigkeit offener Gesellschaftskritik seitens der Psychoanalytiker betrifft, immer schwankend, neigte zum Ende seines Lebens dazu, dieses Erfordernis zu leugnen. 1910 hatte er geschrieben: „Die Gesellschaft muß sich im Widerstand gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, daß sie an der Verursachung der Neurosen selbst einen großen Anteil hat.“ Die „gründlichste Prophylaxe der neurotischen Erkrankungen“ sei die „Aufklärung der Masse“, an der die Analytiker mitzuwirken hätten (Freud 1910, S. 111, 115). Im selben Jahr regte Freud den mit der österreichischen Sozialdemokratie verbundenen Alfred Adler an, er möge beim nächsten IPV-Kongress erörtern, ob die Psychoanalyse nicht „zu einer ganz bestimmten freiheitlichen, in Erziehung, Staat und Religion reformatorischen [Weltanschauung] drängt, die notwendiger Weise die Anhänger der P(sycho) A(nalyse) zum Anschlusse an eine gewisse Partei im praktischen Leben auffordert“ (Peglau 2013, S. 272). 1914, in seiner Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, deklarierte es Freud dagegen als „unerfüllbare Forderung“, dass sich die Psychoanalyse „in den Dienst einer bestimmten sittlich-philosophischen Weltanschauung“ stelle (Freud 1914, S. 71). 1927 war die Psychoanalyse für Freud eine objektive „Forschungsmethode, ein parteiloses Instrument, wie etwa die Infinitesimalrechnung“ geworden (Freud 1927, S. 360). Und zu Beginn der 1930er Jahre wurde das politische, insbesondere antifaschistische Engagement Wilhelm Reichs einer der Hauptgründe, warum Freud ihn aus der deutschen und der Internationalen Vereinigung ausschließen ließ (Peglau 2013, S. 268-280).

Ernst Federn dagegen blieb sich in dieser Hinsicht treu, war in seinem Tun eindeutiger als in seinen oben zitierten Worten. Zeitlebens betätigte er sich immer wieder offen als politischer Psychoanalytiker, das heißt als Analytiker, der soziale Gegebenheiten sowohl berücksichtigte als auch mittels seines Fachwissens gezielt zu beeinflussen trachtete. Er selbst wie auch andere haben die wichtigsten Stationen dieses Weges ausführlich beschrieben […]. Ich will deshalb nur einige Punkte herausgreifen.

Federn hat sich im Scherz gelegentlich als geborenen Analytiker bezeichnet: hineingeboren in die Familie eines der engsten Freud-Mitstreiter. Aber ab wann kann er als „richtiger Analytiker“ gelten? Die Antwort an etwas so Formalem wie der Mitgliedschaft in offiziellen Organisationen festzumachen, wäre ohnehin fragwürdig, würde auch nicht Freuds Gepflogenheiten entsprechen. Dieser bezeichnete zum Beispiel Georg Groddeck bereits 1917 als „prächtigen Analytiker“ – drei Jahre, bevor Groddeck (der zudem nie eine Lehranalyse machte), Mitglied des Berliner Analytikerverbandes wurde (ebd., S. 321). Aber was ist überhaupt Psychoanalyse? Stimmen wir Freud zu, dass dies keiner besser wisse als er (Freud 1914, S. 44), können wir auf unterschiedliche Definitionen zurückgreifen. Am angemessensten erscheint mir, was Freud in seinen Vorlesungen schrieb: Psychoanalyse lasse sich „auf Kulturgeschichte, Religionswissenschaft und Mythologie ebenso anwenden […] wie auf die Neurosenlehre […]. Sie beabsichtigt und leistet nichts anderes, als die Aufdeckung des Unbewußten im Seelenleben“ (Freud 1917, S. 403-404). Psychoanalytiker wäre daher jemand, der sich auf der Basis entsprechenden Wissens konsequent darum bemüht, Unbewusstes bewusst zu machen – und zwar grundsätzlich, nicht etwa nur bei Psychotherapiepatienten. Seit Ernst Federn 1936 Sekretär seines Vaters Paul geworden war, befasste er sich intensiv mit Psychoanalyse, begann zudem eine heilpädagogische Ausbildung (Kaufhold 1998b, S. 10).[2] Mit Sicherheit verfügte er daher über erwähnenswerte Fachkompetenz, als er 1938 verhaftet wurde.

Mittels dieses Wissens betätigte er sich dann im KZ tatsächlich psychoanalytisch. Er hielt Vorträge über analytische Themen, half Leidensgenossen, seelische Symptome zu verstehen und zu reduzieren, Träume zu deuten, Alltagskonflikte oder Partnerschaftsprobleme zu verarbeiten, linderte Todesängste, bemühte sich, Menschen in ihren letzten Stunden Stärke zu geben. „Was bis dahin dem Klerus vorbehalten war, […] haben Psychoanalytiker erst viel später begonnen, in ihr Interesse aufzunehmen“, schreibt er dazu (Federn 1999, S. 29). In dem Mithäftling und von Wilhelm Reich ausgebildeten Psychoanalytiker Otto Brief fand er bis zu dessen Abtransport nach Auschwitz einen „Supervisor“ (ebd., S. 27; vgl. auch Plänkers & Federn 1994, S. 158-162).

Da er dies alles in einem faschistischen Konzentrationslager tat, damit auch dem gegen (Mit)Menschlichkeit und Individualität gerichteten NS-Terror Widerstand leistete, betrieb er ohne Zweifel politische Psychoanalyse. Und Federn beließ es nicht beim Behandeln und Aufklären – er leistete sogar tiefenpsychologische Forschung.

Spätestens seit 1940 verfolgte er die Idee, eine „Psychologie des Terrors“ zu verfassen. Deren wesentliche Punkte hatte er bereits im Kopf, als „Buchenwald“ im April 1945 befreit wurde; im Juni 1946 beendete er sein Manuskript (Federn 1998a). Was er damit vorlegte, war eine brisante, diversen, insbesondere „linken“ Legendenbildungen über das KZ-System teils völlig widersprechende Feldstudie mit psychoanalytischem Hintergrund. Das Lager war, berichtete Federn, keineswegs einfach gespalten in die Bösen oben und die Guten unten. Die Basis des SS-Terrorregimes bildeten die sich hochgradig selbst verwaltenden, vielfach wechselseitig bekämpfenden und unterdrückenden Häftlinge. Viel Kollaboration, wenig Widerstand, Federn behauptete öfter: gar kein Widerstand (Kaufhold 1998b, S. 16) – in diesen Spiegel der NS-Gesellschaft wollte nach 1945 kaum jemand blicken. Auf Deutsch erschien Federns Manuskript erst 1989 (ebd., S. 20-22). Auch die Psychoanalytiker mochten von seinen Erfahrungen im Konzentrationslager zumeist nichts hören. Das lag sicher nicht nur daran – wie Federn ihnen freundlicherweise pauschal unterstellte –, dass seine Berichte zu bedrohliche Gefühle aufgewühlt hätten (Federn 1986, S. 467-468). Längst waren seine Kollegen, insbesondere in Deutschland und in den USA, mehrheitlich auf Medizinalisierungskurs gegangen – und da musste das Thema „Psychoanalytiker im Nationalsozialismus“ aus mehreren Gründen abgewehrt werden (vgl. Peglau 2013, S. 479-484).

Federn hatte also wieder bedeutsame politische Psychoanalyse betrieben: tiefenpsychologische Erkenntnisse zur Aufdeckung der psychosozialen Basis des Faschismus genutzt, gegen die Verdrängung und Verleugnung der NS-Realität angeschrieben, somit dagegen, „daß unsere Kultur neuerlich in ‚Barbarei‘ versinkt“ (Federn 1998a, S. 37).

Hatte er seine Terror-Studie noch als glühender Trotzkist und Marxist verfasst (vgl. Federn 1998b, S. 180), ließ sein Interesse an Marx nach, nachdem er 1948 in die USA emigrierte – wohl auch dem antikommunistischen Klima seiner neuen Heimat geschuldet. Doch noch 1976 fasste er für Kindlers „Psychologie des 20. Jahrhunderts“ seine Ansichten zu Marxismus und Psychoanalyse so zusammen:

„Wenn eines der Ziele des Marxismus ‚Die freie Entwicklung eines jeden als Bedingung für die freie Entwicklung aller ist‘ […] und für Freud ‚Wo Es war, soll Ich werden‘ […], dann drängt sich eine Beziehung dieser beiden Gedankenkomplexe vom selber auf. […] Das Gemeinsame in Marxismus und Psychoanalyse ist offenbar. Marx wie Freud erkennen das Individuum nicht nur als ein ‚vergesellschaftlichtes Wesen‘ an, sondern auch als eine auf diese Gesellschaft in einzigartigerweise einflußnehmende Einheit. Die Berechtigung zu einem Vergleich zwischen den beiden liegt schon in dem ihnen gemeinsamen Forschungsobjekt: dem Menschen als sozialen Wesen“ (Federn 1982, S. 301).

Was die ursprünglich als kritische Sozialwissenschaft konzipierte Freudsche Lehre betrifft, hatte Federn mit letzterer Einschätzung Recht. Mitte der 1970er Jahre war vom Betrachten des vergesellschafteten Individuums im analytischen Hauptstrom oder in der IPV jedoch nicht mehr viel übrig. Federn trat also, sicherlich in vollem Bewusstsein daraus möglicherweise resultierender Konflikte, der herrschenden Tendenz in seinem Berufsstand entgegen und machte sich so einmal mehr um die politische Psychoanalyse verdient.

Bereits in den USA, ab 1972 auch wieder in Österreich, hier nun in- und außerhalb des Strafvollzuges, überschritt Ernst Federn den Rahmen üblicher analytischer Behandlung, wandte sich in der Tradition August Aichhorns „verwahrlosten“ und besonders schwer gestörten Klienten zu, wurde (später auch im West- und Ostteil Deutschlands) zum Mentor psychoanalytischer Sozialarbeit. Dabei wie auch in seiner Tätigkeit als „Konsulent für die Strafrechtsreform“, also als Berater von Politikern, brachte er erneut analytisches Wissen in größere soziale und in politische Zusammenhänge ein (vgl. Plänkers& Federn 1994, S. 210-222).

Als Historiker der Psychoanalyse hielt Federn dem fragwürdigen Freud- und Psychoanalyse-Bild, das Freud-Biograf Ernest Jones gezeichnet hatte, die von ihm mitherausgegebenen WPV-Protokolle entgegen, verwies dabei mehrfach auf die dort dokumentierten politischen Diskussionen (Federn 1999, S. 208-221, 255-256). Er stellte zudem Freuds Engagement gegen die Medizinalisierung heraus, betonte auch selbst:

„Wer die Psychoanalyse als Teil der Medizin betrachtet, hat einen Widerstand gegen sie. Das Medizinstudium ist viel eher eine Kontraindikation für den Beruf des Psychoanalytikers. Denn der Arzt lernt alles, was er in der Psychoanalyse nicht braucht“ (Plänkers & Federn 1994, S. 47).

Für mich spielte Federn ab 1994 eine wichtige Rolle. Auf einer Tagung in Berlin sah ich den Film von Wilhelm Rösing und Marita Barthel-Rösing „Überleben im Terror – Ernst Federns Geschichte“. Kurz darauf gab mir Federn ein Interview, das mich zwang, noch genauer als zuvor über die DDR und mein Leben in diesem Staat nachzudenken (Peglau 2000a, b). Indem ich unser Gespräch veröffentlichte, konnte ich dazu beitragen, dass Federns „Buchenwald“-Erfahrungen auch anderen ehemaligen Ostdeutschen halfen, ihr früheres Dasein realistischer zu betrachten.

2013 ergab sich für mich die Möglichkeit, wieder öfter auf Ernst Federn zurückzukommen. Ich hielt Vorträge zu meinem Buch über die eben auch unter Hitler nur angeblich „unpolitische“ Psychoanalyse und ihre Verstrickung in das NS-System (Peglau 2013). Bei diesen Vorträgen warfen psychoanalytische Therapeuten mehrfach die Frage auf: „Was sollten wir konkret tun, um uns angemessen politisch zu engagieren?“ Dazu konnte ich unter anderem sagen: Analytische Therapeuten, Therapeutinnen, Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen wirken meiner Ansicht nach schon dann auf sinnvolle Weise politisch, wenn sie gute Arbeit leisten. Das umfasst allerdings, die gesellschaftliche Realität und ihre neurosenerzeugenden und -erhaltenden Aspekte im Umgang mit Patienten und Klienten zu erkennen, zu berücksichtigen – und, auch in der Öffentlichkeit, zu kritisieren. Ernst Federn, so konnte ich konkretisieren, ist einer derjenigen, an denen man sich dabei mit großem Gewinn orientieren kann: Zum Beispiel so, zeigt uns sein Leben, funktioniert politische Psychoanalyse.

Sich an ihm zu orientieren, muss freilich auch beinhalten, ihm da zu widersprechen, wo seine Ansichten dem Verständnis psychosozialer Zusammenhänge eher im Weg stehen. Das betrifft insbesondere sein Festhalten an der Freudschen Todestriebmythologie. Auf deren Basis ordnete Federn auch destruktives Verhalten bei sich und anderen KZ-Häftlingen als „Regression“ auf vermeintlich üblichen kindlichen Sadismus und genetisch programmierte Mordlust ein (Federn 1998a, S. 67-69). Das ersparte ihm, dieses Verhalten als erklärungsbedürftigen Ausdruck psychischer Gestörtheit zu erkennen und erlaubte ihm den fragwürdigen Schluss, langjährige KZ-Haft ließe sich ohne seelische Schädigung überstehen (Federn 1985, S. 465-466). Auch indem er die Fehlurteile seines Vaters über Wilhelm Reich übernahm (Plänkers & Federn 1994, S. 123), tat er der politischen Psychoanalyse keinen Gefallen. Doch Ernst Federn hatte immerhin Reichs Massenpsychologie des Faschismus gelesen und würdigte es als „grundlegendes Buch“, in dem erstmals „die sexuellen Beweggründe im Massenerfolg des Faschismus aufgezeigt“ wurden (Federn 1992, S. 44). Er dürfte dort zugleich bemerkenswerte Übereinstimmungen mit seiner eigenen „Buchenwald“-Analyse entdeckt haben: Autoritäre Führung funktioniert nur durch Untertanen, die bereit sind, das System zu stützen, das sie knechtet oder sogar vernichtet.

Und seine Ressentiments hielten Ernst Federn auch nicht davon ab, 1997 „als Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ öffentlich zu konstatieren: „Natürlich gehört Wilhelm Reich zu uns!“ (Dahmer 2013, S. 15).

Beipflichten kann ich Federn zudem, wenn er schreibt:

„Die Psychoanalyse hängt von der Freiheit des Individuums ab, in die analytische Vereinbarung ohne Furcht vor irgendeiner – sei es einer sozialen, ökonomischen, religiösen oder politischen – Einmischung einzutreten. Dies ist die condition sine qua non der psychoanalytischen Arbeit. Deshalb kann ein Psychoanalytiker Kräften gegenüber, die diese Freiheiten einschränken, nicht neutral sein“ (Federn 1999, S. 243).

Was er dann ergänzt, trifft für ihn selbst, der alles andere als ein „durchschnittlicher Psychoanalytiker“ war, ebenfalls zu. So kategorisch, wie er es formuliert, entspricht es leider nicht der Realität: „Der Psychoanalytiker kann nicht anders, als sich für Lebensziele zu engagieren, die unvereinbar sind mit Diktatur, wirtschaftlicher Not und sozialem Elend“ (ebd.).

 

 

Literatur

Dahmer, H. (2013). Wilhelm Reich, die Psychoanalyse und die Politik. Vorwort. In: Peglau, A.. Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, 11-17. Gießen: Psychosozial-Verlag.,.

Federn, E. (1982). Marxismus und Psychoanalyse. In: Eicke, D. (Hrsg.). Tiefenpsychologie, Bd. 2: Neue Wege der Psychoanalyse – Psychoanalyse der Gesellschaft – Die psychoanalytische Bewegung, 300-321. Weinheim/Basel: Beltz..

Federn, E. (1985). Weitere Bemerkungen zum Problemkreis „Psycho­analyse und Politik“. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 4, 367-374.

Federn, E. (1986). Besprechung von H.-M. Lohmann (1984): Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Beiträge zur Bearbeitung eines unbewältigten Traumas. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 5, 463-466.

Federn, E. (1992). Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Bemerkungen eines Zeitzeugen. Luzifer-Amor – Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse 9, 43-47.

Federn, E. (1998a). Versuch einer Psychologie des Terrors. In: Kaufhold, R. (Hrsg.). Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des Terrors. Material zum Leben und Werk von Ernst Federn, 35-75. Gießen: Psychosozial..

Federn, E. (1998b). Der Terror als System. Das Konzentrationslager. In: Kaufhold, R. (Hrsg.). Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des Terrors. Material zum Leben und Werk von Ernst Federn, 179-218. Gießen: Psychosozial..

Federn, E. (1999). Ein Leben mit der Psychoanalyse. Von Wien über Buchenwald und die USA zurück nach Wien. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Freud, S. (1910). Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie. In: ders.: GW Band 8, 103-115. Frankfurt/M.: Fischer.

Freud, S. (1914). Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. In: ders.: GW Band 10, 43-113. Frankfurt/M.: Fischer.

Freud, S. (1917). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: ders.: GW Band 11, Frankfurt/M.: Fischer.

Freud, S. (1927). Die Zukunft einer Illusion. In ders.: GW Band 14, 325-380. Frankfurt/M.: Fischer.

Kaufhold, R. (Hrsg.) (1998a). Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des Terrors. Material zum Leben und Werk von Ernst Federn. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Kaufhold, R. (1998b). Einleitung. In: ders. (Hrsg.). Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des Terrors. Material zum Leben und Werk von Ernst Federn, 9-31. Gießen: Psychosozial.

Kuschey, B. (2003). Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse der Binnenstrukturen des Konzentrationslagers. Bd. I u. II. Gießen: Psychosozial.

Peglau, A. (2000a). „Nackt unter Wölfen“ oder „Wolf unter Wölfen“? Ein Psychoanalytiker im KZ Buchenwald. In: ders. (Hrsg.). Weltall, Erde, … ICH. Anregungen für ein (selbst)bewussteres Leben, 40-43. Berlin: Ulrich Leutner, siehe auch http://www.hagalil.com/archiv/2010/04/10/peglau-federn.

Peglau, A. (2000b). Gesäuberter Antifaschismus. Nachbemerkungen zum Gespräch mit Ernst Federn. In: ders. (Hrsg.). Weltall, Erde, … ICH. Anregungen für ein (selbst)bewussteres Leben, 44-48. Berlin: Ulrich Leutner..

Peglau, A. (2013). Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Gießen: Psychosozial.

Peglau, A. & Schröter, M. (2013). Relative Ruhe nach und vor dem Sturm. Der III. Psychoanalytische Kongress in Weimar. Luzifer-Amor, Jg. 26, H. 52, 126-157.

Plänkers, T & Federn, E. (1994): Vertreibung und Rückkehr. Interviews zur Geschichte Ernst Federns und der Psychoanalyse. Tübingen: edition diskord.

Anmerkungen

[1] Erstveröffentlichung als: Peglau, Andreas (2014): Wie funktioniert politische Psychoanalyse?, Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung, 18. Jg., Heft 2/2014, S. 354–362.
Roland Kaufhold danke ich für zahlreiche Anregungen und zur Verfügung gestelltes Material, Bernhard Kuschey für wertvolle Hinweise.

[2] Eine Lehranalyse zu absolvieren, gelang ihm umständehalber erst von 1950 bis 1953 bei Hermann Nunberg in New York (Plänkers & Federn 1994, S. 179, 224).

 

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