von Andreas Peglau
Dass das, was ab dem 26. August 2018 in Chemnitz geschah, Gegenreaktionen auslöste, war äußerst wünschenswert. Soweit diese Gegenreaktionen aber von der Vorstellung getragen wurden, die große Mehrheit vermeintlich „guter“ Deutscher müsse nur eine Randgruppe „rechter“ Gewalttäter zur Räson bringen, beruhte das auf einer gefährlichen Illusion.
So hieß es in einem dazu von avaaz verbreitetem Aufruf:
Ihr könnt noch so oft „Wir sind das Volk“ brüllen — ihr seid es nicht. Ihr seid nicht Deutschland. Ihr seid nicht Sachsen. Ihr seid nicht Chemnitz. (…) Ab heute gilt: Die stille Mehrheit schweigt nicht mehr.
Die Realität sieht leider gänzlich anders aus. Etwa vier Millionen Deutsche haben ein „geschlossenes rechtes Weltbild“. Mehr als 80 Prozent der Deutschen vertraten 2016 zumindest einzelne fremdenfeindliche Einstellungen. Das zieht sich durch die Wählergruppen sämtlicher Parteien.
Es geht um eine gesamtgesellschaftliche Störung.
Wer wissen will, wie aktuelle sozialwissenschaftliche Erhebungen unser Land diesbezüglich beurteilen, kann das dem Kapitel „Bundesdeutsche Seelenverhältnisse“ meines „Rechtsruck“-Hörbuchs entnehmen (Hörzeit 10 Minuten) –
oder im entsprechenden Text nachlesen – siehe unten.
Kapitel 6: Bundesdeutsche Seelenverhältnisse
„Empirische Sozialforschung hat“, bilanziert der Soziologe Helmut Dahmer, „im Nachkriegs-Westdeutschland Jahrzehnt um Jahrzehnt ein stabiles Potential von (latentem) Antisemitismus registriert“.[1] 1979 bis 1980 durchgeführte Untersuchungen zu rechtsextremistischen Einstellungen ermittelten in der BRD „ein Potenzial von 13% der Befragten mit einem geschlossenen rechtsextremistischen Weltbild.“[2]
Seit 2002 befasst sich eine Leipziger Forschergruppe um Oliver Decker und Elmar Brähler mit rechtsextremen Einstellungen in der „Mitte“ der deutschen Bevölkerung. Ihre Forschungsresultate werden von anderen Untersuchungen bestätigt.[3]
Für die Zeit zwischen 2002 und 2012 stellten die „Mitte“-Studien fest, dass durchschnittlich mehr als 4% der in den alten Bundesländern Lebenden und knapp 7% der in den neuen Bundesländern inklusive Gesamt-Berlins Lebenden eine rechtsautoritäre Diktatur befürworteten. [4] Das waren im Westteil des Landes fast zweieinhalb Millionen Menschen und im Ostteil eine knappe Million.[5] 2016 hatten sich die prozentualen Anteile rechtsextrem Eingestellter in Ost und West weitgehend angeglichen.[6]
Sämtliche Leipziger Studien weisen „rechtes“ Gedankengut bei Anhängern des gesamten Parteienspektrums nach. 2016 sah die Aufteilung so aus: Mehr als sechseinhalb % der CDU/CSU-Wähler und knapp 7% der SPD-Wähler hatten ausgeprägt rechtsextreme Einstellungen. Aber dasselbe traf auch zu für fast 4% der Grünen- und mehr als 4% der „Links“-Wähler. Bei der AfD konzentrierte sich nun der bei Weitem größte Anteil dieses Potentials: Ein Viertel ihrer Wähler war als rechtsextrem einzuordnen. Auch bei den Nichtwählern waren es immerhin 12%.[7]
Zu einem „geschlossenen rechtsextremen Weltbild“ bekannten sich 2016 fast fünfeinhalb % der Befragten.[8] Damit repräsentierten sie nahezu vier Millionen[9] unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Aussagen wie den folgenden „überwiegend“ oder „voll und ganz“ zustimmen:
„Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert.
Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.
Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland.
Eigentlich sind die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen.
Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen.
Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet.
Die Ausländer kommen nur hier her, um unseren Sozialstaat auszunutzen.
Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen.
Es gibt wertvolles und unwertes Leben.
Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind in der Geschichtsschreibung weit übertrieben worden.“[10]
Eine noch weit höhere Zahl an Bundesbürgerinnen und -bürgern vertritt weitere fremdenfeindliche Positionen.
2016 pflichteten 50% islamfeindlichen Aussagen bei, knapp 60% diffamierten Sinti und Roma. 60% widersprachen der Aussage, die Asylsuchenden hätten „wirkliche Verfolgung erlitten“ oder seien „von ihr bedroht“. Mehr als 80% (!) lehnten die Forderung ab, „der Staat solle großzügig bei der Prüfung von Asylanträgen vorgehen“.[11] Einer der reichsten Staaten der Erde, der sich leisten kann, den „oberen Zehntausend“ permanent Millionengeschenke zu machen, soll also im Umgang mit dieser Menschengruppe auf „Großzügigkeit“ verzichten, damit auf eine zutiefst wünschenswerte Haltung, die ja nichts zu tun hat mit Verschwendung.
„Autoritäre Aggression“, das Nach-unten-treten-Wollen des autoritären Charakters, identifizierten die Leipziger Forscher bei fast 70% der deutschen Bevölkerung[12] – das sind mehr als 48 Millionen Bürgerinnen und Bürger! Da es 2014 „nur“ etwas mehr als 52% waren, denen dies zugeschrieben werden musste, also in zwei Jahren mehr als elf Millionen hinzugekommen sind, muss von einem erschreckenden Anstieg gesprochen werden, der zumal im Zuge der Befragungen den bisherigen Höchststand markiert. Die „autoritäre Unterwürfigkeit“, das Nach-oben-Buckeln, das diesen Typus komplettiert, stieg zwischen 2014 und 2016 ebenfalls deutlich an, auf über 23%: mehr als 16 Millionen Deutsche.[13] Auch diese Einstellungen ziehen sich, in unterschiedlicher Stärke, durch die Wählergruppen aller Parteien.
Doch auch wer, egal welche Partei er wählt, seine Kinder unterdrückt oder schlägt – wie berichtet: beides keine Seltenheit –, lässt die „autoritäre Aggression“ nur an anderen sozial Schwächeren aus als an Asylbewerbern. Autoritäre Aggression dürfte ebenfalls der Hintergrund dafür sein, dass fast die Hälfte aller Erwachsenen 2016 meinten, „die meisten Langzeitarbeitslosen“ seien „nicht wirklich daran interessiert, einen Job zu finden“, würden sich nur „auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen“.[14] Auch wer eine Willkommenskultur für Flüchtlinge pflegt, aber zu den 40% der Bevölkerung gehört, die es „ekelhaft“ finden, „wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen“ oder zu den 36%, die gleichgeschlechtliche Ehen verboten sehen möchten,[15] hat sich für seine Wut womöglich nur andere „fremd“ erscheinende Menschen als Zielscheibe auserkoren. Wobei die Feindlichkeit gegenüber Homosexuellen – nahezu eine „rechte“ Tradition – erneut nicht an einzelne Parteien gebunden ist. Die Ablehnung der homosexuellen Ehe war 2016 unter CDU/CSU-Wählern mit über 43% sogar noch höher als in der AfD; sie kennzeichnete bei der SPD knapp 38%, bei der Linkspartei fast 27% der Anhänger, bei der FDP 25% und bei den „Grünen“ fast 20%.[16]
Sich von der AfD abzugrenzen, ist also keinesfalls identisch damit, kein seelisches Potential in sich zu tragen, auf das „rechte“ Bewegungen zurückgreifen können.
Wie flächendeckend dieses Potential hierzulande verteilt ist, belegt auch der Zuspruch für die PEGIDA-Demonstranten. Entgegen anders lautender Parolen muss gesagt werden: „Deutschland ist auch PEGIDA“ – und dies in erheblichem Maße. In Dresden und anderswo geht seit 2014 nur auf die Straße, was seit langem im ganzen deutschen Volk in unterschiedlicher Intensität an Einstellungen existiert, in Ost wie West. Auch das bekräftigen Befragungen:
„Nach einer repräsentativen Umfrage im Auftrag von Zeit online äußerten Mitte Dezember 2014 rund die Hälfte der Deutschen Verständnis für Demonstrationen gegen eine drohende ‚Islamisierung des Abendlandes‘. Insgesamt räumten sogar drei Viertel aller Befragten eine positive bis aufgeschlossene Haltung für PEGIDA ein. Eine wenig später durchgeführte repräsentative Umfrage ergab darüber hinaus, dass auch in den alten Bundesländern die Sympathiewerte für PEGIDA ähnlich hoch waren wie im Osten.“[17]
Es geht also um eine gesamtgesellschaftliche Störung – die nicht an Landesgrenzen endet.
Es wäre deshalb naiv, „rechte“ Gruppierungen, Bewegungen oder Parteien als Vertreter von Minderheiten zu sehen. Sie repräsentieren tradierte psychosoziale Strukturen, die weit über den Kreis ihrer Mitglieder und Wähler hinaus verbreitet sind.
„Rechte“ Parteigänger sind nur die Spitze des Eisbergs, „Symptomträger“ einer psychosozialen Störung, mit der unzählige andere, sich als demokratisch, liberal, „grün“ oder „links“ Verstehende ebenfalls „infiziert“ wurden. Ähnlich einer Seuche können diese Symptome – zum Beispiel infolge von Wirtschaftskrisen – rasant um sich greifen. Die zuvor als kulturell hochstehend angesehenen Deutschen haben es in den 1930er Jahren vorgemacht.
Verbote „rechter“ Parteien können das Übel daher niemals an der Wurzel packen: Die massenhafte Destruktivität sucht sich nur neue Formen und Namen.
Dass vier Fünftel der Deutschen die großzügige Bearbeitung von Asylanträgen ablehnen, heißt auch, nur ein Fünftel sieht das anders. Schon das ist eine klare Minderheit. Aus den Befragungen geht zudem nicht hervor, dass jene, die hier Großzügigkeit befürworten, keines der anderen Vorurteile gegenüber Flüchtlingen hegen, dass sie keine Ressentiments in Bezug auf Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Arbeitslose, Arme oder andere, von ihnen als „fremd“ eingestufte Menschengruppen oder in Bezug auf Frauen haben. Anzunehmen ist, dass die Zahl der Erwachsenen, die tatsächlich frei sind von all dem, äußerst gering ist.
Wilhelm Reich schrieb 1946:
„Meine charakteranalytischen Erfahrungen überzeugten mich […], dass es heute keinen einzigen lebenden Menschen gibt, der nicht in seiner Struktur die Elemente des faschistischen Fühlens und Denkens trüge.“[18]
Zumindest in Form von Fremdenfeindlichkeit und „autoritärer Aggression“ prägen uns erwachsene Deutsche nachweislich noch immer in großer Mehrheit Züge, die konstituierende Elemente von Faschismus sind.
Beide Komponenten dürften im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ihrer Intensität gemildert sein. Doch die Milderung kann abgeschwächt werden durch belastende Lebensumstände. Dass „rechte“ Einstellungen nun insbesondere durch die AfD-Führung und im Umfeld von PEGIDA so offen und erfolgreich zur Schau gestellt werden, trägt zudem unweigerlich zu ihrer Festigung und weiteren Verbreitung bei.
Aber das ist beileibe nicht die einzige Komponente, die auch in unserem Land dafür sorgt, dass „rechte“ Einstellungen bestehen bleiben – und an Stärke gewinnen.
Literatur:
Dahmer, Helmut (1994): Pseudonatur und Kritik. Freud, Marx und die Gegenwart, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (Hg.) (2013): Rechtsextremismus der Mitte. Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose. Gießen: Psychosozial.
Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (Hg.) (2016): Enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland, Gießen: Psychosozial.
Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (2015) [2012]: Deutsche Zustände. Folge 10, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Reich, Wilhelm (1986) [1971]: Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln: Kiepenheuer und Witsch
Stöss, Richard (2010): Rechtsextremismus im Wandel, Friedrich-Ebert-Stiftung.
Vorländer, Hans/ Herold, Maik/ Schäller, Steven (2016): PEGIDA. Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, Wiesbaden: Springer VS.
Zick, Andreas/Küpper, Beate/Krause, Daniela (2016): Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016, hg. von Melzer, Ralf, Bonn: Dietz.
Anmerkungen
[1] Dahmer 1994, S. 236.
[2] Stöss 2010, S. 61.
[3] Heitmeyer 2015; Zick et al. 2016; https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-07/rechtspopulismus-azubis-baden-wuerttemberg-studie.
[4] Decker et al. 2013, S. 108.
[5] Die 81 Millionen Deutschen setzten sich 2014 aus etwa 65 Millionen West- und 16 Millionen Ostdeutschen (inkl. Berlins) zusammen. Die von Decker et al. untersuchte Stichprobe umfasst aber nur die Altersgruppen 14 bis 91, also 71,2 Millionen = etwa 88% der Deutschen (https://www.destatis.de/bevoelkerungspyramide/). Dementsprechend können auch nur 88% der Ost- und Westdeutschen zur Berechnung der Absolutzahlen herangezogen werden: etwa 14 Millionen Ostdeutsche, 57 Millionen Westdeutsche. „Ost“ und „West“ ist hier aber nicht gleichbedeutend mit ehemaligen DDR- bzw. BRD-Bürgerinnen und -Bürgern. Zum einen ist der größte Teil der knapp 3,5 Millionen Berliner nicht DDR-sozialisiert. Zum anderen wäre für eine gültige Aussage dazu auch der Grad der Ost-West-Durchmischung der Bevölkerung zu berücksichtigen sowie der Zeitpunkt der Geburt (vor oder nach 1990).
[6] Ebd., S. 37.
[7] Ebd., S. 41.
[8] Ebd., S. 48.
[9] 5,5 % sind zwar nur 3,84 Millionen. Das wäre jedoch als Angabe über die Gesamtbevölkerung positiv verzerrt, weil die nicht Befragten unter den unter 14-Jährigen (10,2 Millionen) und über 91-Jährigen (mehr als 300.000) sicher ebenfalls nicht durchweg demokratische Einstellungen haben.
[10] Ebd., S. 30f.
[11] Decker et al. 2016, S. 50.
[12] Genau: 67,5%. Ebd., S. 56.
[13] Hier gab es allerdings 2006 und 2012 bereits etwas höhere Werte (ebd.).
[14] https://www.uni-bielefeld.de/ikg/zick/Report%20Zick%20Arbeitslose%203_2010.pdf, S. 46, 49.
[15] Ebd., S. 50f.
[16] Ebd., S. 86. Decker et al. haben diese Einstellung 2016 erstmals miterfasst. Zick et al. 2016, S. 74f., die danach bereits länger fragen, verweisen darauf, dass die diesbezüglichen Werte im Vergleich zu Vorjahren rückläufig seien.
[17] Vorländer et al. 2016, S. 17.
[18] Reich 1986, S. 15.