Altes Denken löst keine neuen Probleme. Der Demograph Parviz Khalatbari, befragt von Andreas Peglau (1995)

Zu Ursachen und Wirkungen von Flüchtlingsströmen, globalen Veränderungen in Bevölkerungswachstum- und verteilung.

„Das Grundübel unserer Welt ist ihre Polarisierung!
Die Wurzeln dafür liegen in der Industriellen Revolution und dem Kolonialismus: An einem Pol konzentrierten sich Industrie und Reichtum, der andere Pol lieferte Rohstoffe und hier konzentrierten sich Armut und Rückständigkeit. (…)
Ich teile also die Meinung, daß spätestens unsere Nachkommen Massenwanderungen unbekannten Ausmaßes erleben werden. Und das wird kaum friedlich ablaufen.“
Parviz Khalatbari, 1995

 

Parviz Khalatbari

Parviz Khalatbari

Parviz Khalatbari wurde 1925 im Iran geboren, wuchs auf in einer bürgerlichen Familie. Einem Ökonomiestudim in Teheran folgte später die Mitgliedschaft in der verbotenen kommunistischen Partei, Inhaftierung, Flucht aus dem Gefängnis, jahrelanges Leben im Untergrund. 1956 reiste er illegal in die DDR aus, wurde hier 1969 Professor für Demographie, 1990 Staatsbürger der DDR.
Seit 1991 war er im Ruhestand – der ihm vor allem die Möglichkeit gab, noch gezielter in Artikeln, Büchern, Vorträgen, auf Kongressen im In- und Ausland auf demographische Probleme aufmerksam zu machen. Auch in unserem, unten wiedergegebenen Gespräch traf er eine Reihe bemerkenswerter Voraussagen für das 21. Jahrhundert. Noch bis 2001 lehrte er an der Berliner Humboldt-Universität.
2012 ist Parviz Khalatbari verstorben.

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A.P.: Wie hängt Ihr Lebenslauf mit Ihrem Beruf zusammen, was hat Sie dazu gebracht, Demographie zu Ihrem Thema zu machen?

Khalatbari: Ich hatte sehr früh eine gewisse Tendenz zu Gerechtigkeit. Meiner Familie ging es etwas besser als vielen anderen, aber wir waren umgeben von Elend und von Ausbeutung. Ich wußte nicht, daß das Sozialismus bedeutet, wenn ich für arme Leute bin, aber gefühlsmäßig stand ich auf ihrer Seite. Und als ich dann in der Illegalität gelebt habe, habe ich etwa 200 iranische Dörfer besucht und Aufzeichnungen gemacht: Haben die Leute überhaupt ein Bad im Dorf, gibt es irgendeine Form von ärztlicher Betreuung oder Medikamentenversorgung in der Nähe, wie hoch ist die Kindersterblichkeit?

Als ich Jahre danach in die DDR kam und begann, meine Dissertation zu schreiben über die Agrarfrage im Iran, habe ich mir gedacht: Wenn diese Aufzeichnungen noch existieren und du da rankommst, dann kannst du eine gute Dissertation schreiben. Dann habe ich meiner Mutter geschrieben: Sind die Aufzeichnungen noch da oder hast du sie weggeschmissen? Denn sie hatte auch Angst. Aber sie hat geantwortet: Deine Sachen habe ich nie weggeschmissen. Und der nächste Reisende, den sie kannte, und der nach Paris kam, hat sie mir dann von dort aus geschickt.

Und je länger ich an der Agrarfrage in den Entwicklungsländern weitergearbeitet habe, desto klarer ist mir geworden: Wachstum der Bevölkerung in einer stagnierenden Landwirtschaft, das ist dort das wichtigste Problem. Überbevölkerung! Und das war ja schon ein ganz entscheidendes demographisches Problem.

A.P.: Wie wichtig wurde denn in der DDR dieses Fachgebiet genommen? Ich habe weder in der Schule noch im Studium etwas davon gehört. Und in einem DDR-Lexikon habe ich als Erklärung für Demographie nur gefunden: Teil der Bevölkerungsstatistik.

Khalatbari: Sie konnten auch gar nichts davon hören. Überhaupt wurde in Deutschland Demographie kleingeschrieben. In Westdeutschland wegen Hitler und seiner demographischen „Bevölkerungsauslese“ und bei uns paßte sie nicht in die Richtlinien der Wissenschaftspolitik. Und was Sie da in diesem Lexikon gefunden haben, ist falsch.
Demographie ist – nach meiner Definition – die Untersuchung der Gesetzmäßigkeiten der Bevölkerungsentwicklung in Geschichte und Gegenwart und die daraus folgende Ableitung von Zukunftsperspektiven.
Also räumlich gesehen, geht es um die ganze Welt. Und zeitlich gesehen um die gesamte Menschheitsgeschichte – wenn Sie so wollen, bis zu unseren tierischen Vorfahren zurück. Wir sind auch biologische Wesen. Und der Kern demographischer Prozesse ist die Fortpflanzung.

A.P.: Also spannt sich der Bogen von globalen Prozessen bis hinein in das intimste Zusammensein von Männern und Frauen?

Khalatbari: Ja. Es geht darum: Wie hat sich die Vermehrung der Menschen in ihrer Geschichte entwickelt und welchen Gesetzmäßigkeiten ist sie dabei unterworfen.

A.P.: Sie haben schon gesagt, daß Demographie letzten Endes auch dazu da ist, zukünftige Entwicklungen vorauszusagen. Wenn alle gegenwärtigen Trends anhalten, wie könnte dann die Welt in 30 Jahren aussehen, im Jahre 2025? Diese Zahl wird in Prognosen immer wieder genannt.

Khalatbari: Zunächst möchte ich sagen: Es gibt keine globalen Probleme nebeneinander. Unterentwicklung, Bevölkerungsexplosion, Klimakollaps, Ozonloch, Energiekrise, Bürgerkriege und so weiter, alles das hängt zusammen wie ein Gewebe. Zur verständlicheren Darstellung kann man ein Problem in den Vordergrund drehen. Aber dann bleiben alle anderen Probleme gewissermaßen im Schatten. Das ist das, wo ich mich auf den Physiker Werner Heisenberg berufe und seine „Unschärfe-Relation“.

Es gibt auch kein psychologisches Problem an sich. Das ist verbunden mit sozialen, kulturellen, sexuellen, politischen, ökonomischen Problemen. Sie können diese Probleme nie wirklich voneinander trennen, nur im Gedankenexperiment. Als Demograph stelle ich natürlich die Bevölkerungsprobleme in den Mittelpunkt. Aber sie sind trotzdem ganzheitlich verknüpft mit allen anderen globalen Problemen.

Aber gut. Wissen Sie, ich habe ein Modell entwickelt – gestützt auf den amerikanischen Wissenschaftler Edward Deevey – für die Bevölkerungsentwicklung in der Geschichte. Und ich habe gefunden, daß es in den zwei Millionen Jahren, die die Menschheit existiert, eine gesetzmäßige Entwicklung in dieser Hinsicht gab. Die Weltbevölkerung hat sich bis zur Entstehung des heutigen Menschen außerordentlich langsam entwickelt.

Vor sechshunderttausend Jahren waren wir nur etwa 125.000 Menschen. Vor vierzigtausend Jahren, zu Beginn der Ära des Homo sapiens sapiens, hatten wir uns dann zwar vermehrt auf vier bis fünf Millionen – aber das entsprach auf diesen langen Zeitraum gesehen nur einem Wachstum von 0,0007 Prozent pro Jahr. Mit dem Auftreten des Homo sapiens sapiens wuchs die Zahl der Menschen zwar weiter kontinuierlich, aber sehr viel schneller als zuvor – vielleicht weil er mit stärkerer sexueller Potenz ausgezeichnet war, vielleicht weil er tatsächlich das erste menschliche Wesen war mit ganzjähriger Paarungsbereitschaft. Auf jeden Fall lagen die Ursachen dafür in biologischen Veränderungen.

Diese ursprüngliche Kontinuität der Bevölkerungsentwicklung, die den Bedingungen des Jagens und Sammelns entsprach, wurde dann vor zehntausend Jahren plötzlich unterbrochen – im Zuge der neolithischen Revolution mit Ackerbau und Viehzucht. Es gab einen Sprung, eine demographische Revolution: exponentielles Wachstum der Bevölkerung. Aber dieses Wachstum war nur von vorübergehendem Charakter. Nach diesem „neolithischen Übergang“ setzte sich die Kontinuität auf einer höheren Ebene fort.

Und das ging so weiter bis Mitte des 18. Jahrhunderts, bis zur Industriellen Revolution. Seit dieser Zeit haben wir erneut eine Bevölkerungsexplosion, die bis heute andauert.

Sie sehen also, es gab in der Geschichte der Menschheit schon zweimal eine außerordentliche Unterbrechung ihres kontinuierlichen Wachstums durch sehr plötzliche Anstiege – vor zehntausend und vor zweihundert Jahren – beidemale verursacht durch einschneidende Veränderungen im Stoffwechsel zwischen den Menschen und der Natur.

Wenn das wirklich gesetzmäßig ist, wie ich glaube, dann befinden wir uns zur Zeit auch in einer Übergangsphase auf eine neue Stufe. Das heißt, das schnelle Wachstum der Weltbevölkerung wird sich vielleicht bis zum Ende des nächsten Jahrhunderts fortsetzen und erst danach wieder beinahe stagnieren – auf einer Höhe von 12 bis 15 Milliarden Menschen. (1) Aber es ist fraglich, ob die Menschheit diesen Zeitpunkt überhaupt erreicht.

Schon das Jahr 2025 zeigt, welche Probleme auf uns zukommen. Wir werden dann 8,5 Milliarden Menschen haben, davon sieben Milliarden in den Entwicklungsländern, über drei Milliarden von ihnen in Asien. Also 84 Prozent der Menschen leben in den Entwicklungsländern. Die Bürger der hochentwickelten Länder sind dann eine Minderheit auf der Erde, die prozentual genauso viel ausmacht, wie heute ausländische Bürger in der Schweiz: 16 Prozent. Aber diese Minderheit besitzt dann fast allen Wohlstand dieser Welt. Ob eine solche Oase des Wohlstands sich in einer Wüste der Armut halten kann? Ich zweifle daran.

Der Hunger in den Entwicklungsländern wird zunehmen, weil die Landwirtschaft mit ihren begrenzten Möglichkeiten so viele Menschen nicht ernähren kann. Die gegenwärtige Getreideproduktion von 1,8 Milliarden Tonnen könnte ausreichen, um vier Milliarden Menschen zu ernähren, wenn diese alle vorwiegend Vegetarier wären und wenn das Getreide gleichmäßig verteilt würde. Aber wir sind schon jetzt fast fünf Milliarden. Und um Fleisch auf dem Speiseplan zu haben, brauchen wir eine noch viel größere Menge Getreide als Viehfutter. Von gleichmäßiger Verteilung ganz zu schweigen.

Also, die Landwirtschaft ist überfordert. Man sagt zwar, es gibt noch große Flächen, die mit Bewässerung landwirtschaftlich genutzt werden könnten. Aber Bewässerung führt zur Versalzung, braucht viel Energie und ist sehr teuer.

Was gibt es noch für Alternativen? Rodung der Tropenwälder. Eine halbe Milliarde Menschen leben schon jetzt unmittelbar an den Rändern der tropischen Wälder und entholzen sie, um Anbauflächen zu gewinnen und Brennholz. In jeder Minute, die wir miteinander reden, werden 22 Hektar Tropenwald vernichtet – nicht nur durch arme Bauern, auch durch die Holzindustrie zum Beispiel. Aber was für ein Ackerboden wird damit erschlossen? Biologisch arm und sehr bald hart wie trockener Lehm. Darauf kann man nicht lange ernten. Und was diese Waldvernichtung für unser Klima bedeutet, wissen Sie ja. Außerdem trägt sie mit dazu bei, daß unser Planet immer mehr verwüstet: 6 Millionen Hektar Wüste entstehen jährlich neu; eine Fläche, doppelt so groß wie das Land Brandenburg.

Also der Hunger wird ein noch viel größeres Problem werden. Und Sir Walter Raleigh hat einmal gesagt vor 400 Jahren: Schlimmeres als Hunger gibt es nicht. Diejenigen, die Hunger haben, werden den Tod verachten. Und hüte dich vor jemandem, der den Tod verachtet.

Das zweite Problem ist meines Erachtens die Arbeitslosigkeit. Wir haben jetzt schon 800 Millionen Arbeitslose in den Entwicklungsländern. Das wird sich vermutlich auf das Doppelte steigern. Was wollen wir mit diesen vielen Menschen anfangen? Das sind auch keine Arbeitslosen wie in Deutschland oder Europa. Die kriegen keine Unterstützung. Das ist das blanke Elend.

Wo sollen die hin? Ein Teil von ihnen ist schon heute längst vor die großen Städte gezogen und vegetiert dort in riesigen Slums vor sich hin. Um die großen Städte wie Mexiko-City, Kalkutta, Bombay oder Rio de Janeiro herum sind gigantische Slum-Ringe entstanden mit Millionen Menschen – schon 1980 waren dort mehr als ein Viertel der gesamten Stadtbewohner zu finden. Das will keiner wissen. Ihre Wohnviertel aus Hütten und Zelten sind auf keinem Stadtplan verzeichnet. Sie werden wie Aussätzige behandelt. Sie haben keine Zukunft. Sie haben nichts zu verlieren. Aber sie sehen, daß die Leute in der Stadt besser leben. Oder in Europa und in den USA. Und sie hassen diese Gesellschaft. Und der Haß von Millionen Menschen ist schlimmer als der schlimmste Vulkan.

Ich sehe die Gefahr, daß in Zukunft Fundamentalismus und Faschismus, der sich auf diese Leute stützt, noch stärker wird. (2) Khomeni im Iran, Pol Pot in Kampuchea, Gaddafi in Libyen, Saddam Hussein im Irak – und so weiter – können sich auf diese Schicht stützen. Und manche dieser Regimes werden Atomwaffen haben. Was sollte sie auf Dauer davon abhalten, sie einzusetzen? Und diese fanatisierbare Bevölkerungsschicht wächst ständig.

Was wollen wir machen? Man sagt, diese Leute können wir beschäftigen in der Industrialisierung der Entwicklungsländer. Aber die Menschen dort wollen auch einen Lebensstandard wie in Europa – den kennen sie aus den Medien. Und daher wollen sie auch eine solche Industrialisierung wie in Europa. Um das zu machen, brauchen wir das Fünf- bis Zehnfache der gegenwärtigen Industriekapazität der hochentwickelten Länder. Deren Industrie verbraucht zur Zeit 100 Milliarden Tonnen Ressourcen jährlich, emitiert 14 Milliarden Tonnen Schadstoffe. Das Fünffache davon hält unser Planet nicht aus. Oder: Der Planet vielleicht – die Menschheit bestimmt nicht. Aber wir haben kein anderes Konzept als das der Industrialisierung. Und das funktioniert nicht.

A.P.: Also Sie sehen keine realen Möglichkeiten, etwas zum Positiven zu verändern.

Khalatbari: Jain – möchte ich sagen. Finanziell sind wir in der Lage, diese Probleme zu lösen. Wir geben jährlich über eine Billion Dollar für Rüstung aus – für nichts und wieder nichts. Die Entwicklungsländer kaufen jährlich für 150 Milliarden Dollar Rüstungsmaterial von den hochentwickelten Ländern – auch das ist eine Form von Ausbeutung.

Auch die wissenschaftlich-technische Revolution bietet große Möglichkeiten. Darum steht auch immer in den UNO-Deklarationen, daß die Probleme lösbar sind. Aber diese Deklarationen scheitern, bevor begonnen wird, sie umzusetzen. Da muß etwas faul sein im System!

1950 hat Albert Einstein gesagt, mit der Spaltung des Atoms begann eine neue Ära. Zum ersten Mal in der Geschichte konnten Menschen nicht nur auf ihre nähere Umgebung Einfluß nehmen, sondern auf den gesamten Globus – schlimmstenfalls durch Atombomben. Alles hatte sich von Grund auf geändert und wir müssen, so sagte Einstein, unsere Verhaltensweise, unsere Denkweise, unsere Regierungsweise sofort anpassen an diese Veränderung. Aber wir haben statt dessen mit alten Denk-, Regierungs- und Verhaltensweisen die wissenschaftlich-technische Revolution in die falsche Richtung orientiert: Rüstung, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Hungerkatastrophen in den Entwicklungsländern, Überfluß in den Industriestaaten. Wir versuchen, mit Denkweisen aus dem 19. Jahrhundert die Probleme dieses Jahrhunderts zu lösen. Und das geht nicht. Die wissenschaftlich-technische Revolution hat den scheinbar endlosen Planeten Erde zusammenschrumpfen lassen zum sehr begrenzten Raumschiff Erde. Und wir haben kein Konzept für ein solches Raumschiff.

In einem Raumschiff müssen Sie wirklich alles völlig neu denken, völlig neu definieren. Auf dem Planeten Erde konnten sie mit Nationalregierungen sehr gut auskommen. Für ein Raumschiff geht das nicht. Oder: Was ist Demokratie? Was ist Diktatur? Ich sage, in einem Raumschiff können Sie nicht mit Demokratie in unserem Sinne leben. Also etwa mit Diktatur? Ich sage, Demokratie und Diktatur sind Kategorien aus der Zeit vor der wissenschaftlich-technischen Revolution. Was ist Regierung? Können wir Herrn Kohl oder Herrn Honecker zum Raumschiffkommandanten wählen? Das geht nicht! CDU, SPD, PDS? Oder lieber die „Grünen“? Nichts davon: Die Parteien an sich sind eine überholte Institution, hierarchisch, unflexibel, gleichmacherisch. Alle Institutionen werden sich grundlegend ändern müssen oder verschwinden.

A.P.: Auch die Institution Familie?

Khalatbari: Sicherlich. Familie sah vor ein paar tausend Jahren ganz anders aus als heute. Und in einhundert Jahren wird sie sich sehr verändert haben müssen im Vergleich zu 1995, schon daher, daß global gesehen viel weniger Kinder geboren werden dürfen, wenn die Menschheit dauerhaft Passagier des Raumschiffs bleiben will.

Das Raumschiff kann auch keine Luxusklasse, Erste Klasse, Zweite Klasse und so weiter haben. Auch keinen Bürgerkrieg. Es muß eine solidarische Gesellschaft sein. Wenn es in einem Raumschiff eine Meuterei gibt, dann ist es aus. Man kann nicht einfach in ein anderes Boot steigen. Bertrand Russel hat einmal gesagt, entweder wir leben alle zusammen oder wir werden alle zusammen sterben.

A.P.: Wie ließe sich eine solche solidarische Gesellschaft herbeiführen? Was müßte als erstes in Angriff genommen werden?

Khalatbari: Das Grundübel unserer Welt ist ihre Polarisierung! Die Wurzeln dafür liegen in der Industriellen Revolution und dem Kolonialismus: An einem Pol konzentrierten sich Industrie und Reichtum, der andere Pol lieferte Rohstoffe und hier konzentrierten sich Armut und Rückständigkeit.

Heute verfügen nicht nur 23 Prozent der Menschen – die Bevölkerung der hochentwickelten Industrienationen – über den größten Anteil des materiellen Reichtums der Erde. Sie sind auch die Hauptverbraucher von Rohstoffen, Nahrungsmitteln, Holz, Papier und Energie. Jeder neugeborene US-Amerikaner wird, durchschnittlich gesehen, unsere Umwelt und unsere natürlichen Ressourcen ebenso belasten wie 55 neugeborene Inder. Eine normale vierköpfige Familie in den USA verzehrt so viel Nahrungsmittel, wie eine achtzehnköpfige indische Familie. Eine Familie aus den Industrieländern mit mittlerem Einkommen wirft durchschnittlich ein Viertel ihrer Nahrungsmittel regelmäßig weg – und in den Entwicklungsländern gehen etwa 800 Millionen Menschen jeden Abend hungrig zu Bett. Täglich sterben dort 40.000 Menschen an Entkräftung und Hunger. In vielen Industrieländern gibt es ein ausgebautes Gesundheitssystem. In den Entwicklungsländern haben 2,5 Milliarden Menschen überhaupt keinen Zugang zu medizinischer Betreuung.

Ich könnte noch viele andere Beispiele aufzählen. Und dieser zweihundert Jahre alte Zustand der Polarisierung setzt sich fort und hat sich durch die verfehlte Anwendung der wissenschaftlich-technischen Revolution noch zugespitzt. Aber es gibt demographische Gesetze! Und die kann man nicht durch einen Regierungsbeschluß außer Kraft setzen! Auch nicht durch irgendein Einwanderungsgesetz. Die Menschen strömen aus den überbevölkerten, verarmten Regionen in die dünnerbesiedelten, reicheren.

A.P.: So ähnlich wie sich der Luftdruck von Hochdruck- und Tiefdruckgebieten durch die Windbewegung ausgleicht?

Khalatbari: Das kann man vergleichen, ja. Und das war schon immer so. Auch in Europa im 19. Jahrhundert. Als hier die Bevölkerungszahl explosionsartig wuchs, wanderten in nicht mal fünfzig Jahren 34 Millionen Menschen aus.

Oder ich will Ihnen ein anderes Beispiel nennen: Auf dem riesigen australischen Kontinent werden im Jahr 2025 nur 23 Millionen Menschen wohnen. Dicht daneben liegt das viel kleinere Indonesien, dessen Bevölkerungszahl bis dahin auf 286 Millionen anwachsen wird. Was denken Sie, wohin werden die gehen? Und ganz ähnliche demographische Mißverhältnisse gibt es zwischen Europa und Afrika oder Asien. Ich teile also die Meinung, daß spätestens unsere Nachkommen Massenwanderungen unbekannten Ausmaßes erleben werden. Und das wird kaum friedlich ablaufen.

Also diese Polarisierung ist das Hauptübel, das beseitigt werden müßte. Aber auch dafür haben wir keine schlüssigen Ideen. Und – lassen Sie mich das ergänzen – selbst wenn wir jetzt sofort welche hätten, wäre es bereits zu spät. Die Widerstände sind zu groß. Ich bin also der Meinung, daß es später ist als 5 vor 12.

A.P.: Aber wenn Sie sich da so sicher sind, warum reden wir beide dann überhaupt miteinander?

Khalatbari: Sehen Sie, lieber Freund, ich kann mich ja auch irren. Und ich hoffe, daß ich mich irre. Ich bin auch nur ein Mensch und ich möchte am Leben bleiben. Und ich möchte, daß meine Nachkommen am Leben bleiben.
Aber wenn es überhaupt nur die geringste Chance einer Änderung zum Positiven geben soll, müssen die Menschen informiert werden. Der „Club of Rome“ hat 1992 einen Bericht gegeben unter dem Titel „Globale Revolution“. Die sagen, die Sache ist noch zu retten, wenn die Menschheit zusammenhält und etwas macht zusammen. Aber dafür müssen wir unsere Denkweisen einander anpassen. Sonst können wir keine einheitlichen Aktionen machen. Und wir können unsere Denkweise nur ändern, wenn die Menschen auf diese Gefahr aufmerksam werden.

Ich habe mir diese Aufgabe gestellt, diese Gefahr publik zu machen, soweit das möglich ist. Und ich glaube, das größte Potential, das wir haben, sind die jungen Gehirne, junge Menschen. Auf keinen Fall die Regierungen. Von denen erwarte ich gar nichts. Die Regierungen müssen von uns gezwungen werden, Veränderungen einzuleiten.

Ich bin mir aber auch sicher, daß durch die wissenschaftlich-technische Revolution alle unsere Systeme – ob sie Sozialismus hießen oder Kapitalismus – sich in einer Transformation befinden, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. So wie eine verpuppte Raupe. Diese Puppe kann zu einem Schmetterling werden. Sie kann auch vorher sterben. Aber zum Zustand einer Raupe kann sie nie wieder zurückkehren – das ist unmöglich.

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Frühere Veröffentlichungen finden sich in ICH – die Psychozeitung 2/95 sowie in „Weltall, Erde …ICH“ bzw. www.weltall-erde-ich.de.

(1) Die Weltbevölkerung umfasste im Oktober 2018 rund 7,63 Milliarden Menschen. Die UNO rechnet für den Zeitraum 2015 bis 2020 mit einem Bevölkerungswachstum von rund 78 Millionen Menschen pro Jahr. Die Vereinten Nationen erwarten 2050 etwa 9,7 Milliarden Menschen auf dem Globus. Für das Jahr 2100 werden 11,2 Milliarden Menschen prognostiziert. Quelle: Wikipedia

(2) Dass im Zuge der „Globalisierung“ immer mehr Menschen so sehr ins Elend gedrängt werden, dass sie im wahrsten Sinnen des Wortes kaum noch etwas zu verlieren haben, ist nicht zu bezweifeln, ebensowenig, dass dies Fundamentalismus fördert. Faschistoide oder „rechte“ Tendenzen entstehen im 21. Jahrhundert jedoch bislang vor allem in Europa und den USA – also dort, wo der materielle Wohlstand noch relativ hoch ist. Genauer dazu in „Rechtsruck im 21. Jahrhundert“, S. 82 und dazugehörige Fußnoten.

Tipps zum Weiterlesen:

Über „Die neuen Grenzen des Wachstums“

Weltall, Erde, Ich – und „Gaia“. Über sinnvolles Handeln in einer widersprüchlichen Einheit