Hindernisse für Lust und Liebe. Hans-Joachim Maaz, befragt von Andreas Peglau

Ein Blick auf gestörte und ungestörte sexuelle Lust und erfüllte Liebe aus psychoanalytisch-körperpsychotherapeutischer Sicht.

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A.P.: Liebe ist ja doch ein Wort, was ziemlich inflationär gebraucht wird. Es gibt unheimlich viel Definitionsversuche über Liebe, vorwiegend im Bereich geistreicher Aphorismen. Können Sie aus Sicht der Psychotherapie noch eine Definition hinzufügen?

Maaz: Das Wort Liebe hat für uns zweierlei Bedeutung: Es gibt das Bedürfnis geliebt zu werden und das Bedürfnis zu lieben. Liebe hat also einen aktiven und einen passiven Teil. Liebe wird gegeben und genommen. Wir zählen Liebe zu den menschlichen Grundbedürfnissen, es ist ein somato-psycho-soziales Grundbedürfnis – Liebe hat also körperliche, seelische und soziale Dimensionen.

Wie jedes andere Grundbedürfnis auch ist also Liebe ein von Natur vorgegebenes Bedürfnis, das befriedigt werden will, wenn der Mensch gesund und zufrieden leben möchte. Ein Mangel an Liebe ist eine wesentliche Ursache für viele Störungen und Krankheiten im Leben des Menschen.

Erfüllte Liebe äußert sich körperlich als wohltuendes Lustgefühl mit Glühen und Strömen, mit Freude und wohliger Entspannung. Unerfüllte Liebe verursacht Schmerz, Leid, Angst, Spannung und Enttäuschung. Liebe ist an Beziehungen gebunden, Liebe erschafft Beziehungen und Liebe braucht Partner. Sie schafft Nähe, Vertrauen und ermöglicht Hingabe und Aufopferung. Liebe öffnet den Menschen und macht ihn ehrlich, fehlende Liebe verschließt den Menschen, macht ihn unehrlich; mißtrauisch, selbstunsicher und ist eine wesentliche Ursache für Gewalttätigkeit.

Es gibt auch sehr viele Mißverständnisse, was Liebe eigentlich meint. In unserer Arbeit ist es von großer Hilfe, zwischen bedingungsloser Liebe und an Bedingungen geknüpfter ,,Liebe“ zu unterscheiden.

Bedingungslose Liebe ist bestrebt, ohne Wenn und Aber dafür zu sorgen, daß es dem Geliebten oder der Geliebten gut geht. Dagegen ist die „Liebe“, die sich an Bedingungen knüpft, darauf aus, daß der ,,Geliebte“ etwas hat oder tut, das der ,,Liebende“ braucht oder ihm gefällt, und allein dafür wird der ,,Geliebte“ dann gemocht. Diese Art ,,Liebe“ ist leider häufiger, die bedingungslose Liebe dagegen eher selten. Diese Unterscheidung wird in der Realität leider viel zu wenig beachtet.

In der Regel verliebt man sich nur in jemanden, der etwas bietet, vor allem Zuwendung, und ist dann sehr enttäuscht, wenn diese Zuwendung mal ausbleibt, dann bricht auch meistens das Verhältnis auseinander. Man verliebt sich also in der Regel mit der Hoffnung, endlich die liebende Zuwendung zu bekommen, die man als Kind nie bekam. Damit wird aber in der Regel jeder Partner, jede Partnerin überfordert, so daß die anfangs so glücklich erscheinenden Beziehungen sehr bald in Vorwürfe und Enttäuschung ausarten.

A.P.: Sind Bedingungen so etwas Schlechtes? Wenn mich jemand schlecht behandelt, dann werde ich ihn doch kaum lieben. Also sind es doch bestimmte Leute, die mich gut behandeln, die dann auch so ein Gefühl in mir hervorrufen, daß ich sie liebe. Das würden Sie schon als Liebe mit Bedingungen einstufen, insofern als nicht anstrebenswert, als nicht die eigentliche Liebe?‘

Maaz: Ich halte den Wunsch, daß jemand gut zu mir ist, und daß ich ihn dafür auch gern habe, tatsächlich für ganz normal. Das Problem ensteht, wenn dies jetzt als Liebe ausgegeben wird. Ehrlicherweise müßte man sage: Ich liebe dich, weil du … – um deutlich zu machen, daß das Gefühl für den anderen an ein von mir gewünschtes Verhalten gebunden ist.

Das Gefühl, geliebt zu werden, stellt sich für den Menschen bereits als Säugling dadurch her, daß er zuverlässig und hinreichend in all seinen Bedürfnissen von (einem) Menschen befriedigt wird. Wenn ein Kind erleben kann: Ich bin da, ich habe Bedürfnisse, und ich werde darin selbstverständlich angenommen, also ich bekomme regelmäßig Nahrung, Zuwendung, Körperkontakt, Wärme und Schutz – dann bringt diese regelmäßige Befriedigung dem Kind die Gewißheit, daß es angenommen, also verstanden, gemocht und geliebt ist.

Es geht um die einfache aber wesentliche Erfahrung: Nur weil ich lebe und so bin wie ich bin, bin ich gemocht. Aber genau diese Erfahrung wird vielen Menschen heute nicht mehr ermöglicht, weil die Eltern, die ja in erster Linie aufgerufen sind, die Fülle der Grundbedürfnisse gut zu befriedigen, entweder nicht mehr zeitlich hinreichend für ihre Kinde da sind oder aber sich nicht in die Bedürfnisse ihrer Kinder einfühlen können oder aus ihren eigenen Mangelzustand an erfahrener Liebe auch nicht in der Lage sind, Liebe weiterzugeben. Wer selber noch bedürftig ist, und da sind heute sehr viele Menschen, ist zur wirklichen Befriedigung anderer Menschen nur schlecht in der Lage. Aber genau dies ist auch ein Riesenproblem, denn viele ungeliebte Menschen wollen den Schmerz darüber dadurch abwehren daß sie sich jetzt große Mühe geben, andere Menschen gern zu haben, für andere Menschen dazusein. Diese liebende Fürsorge hat dann häufig etwas Aufdringliches, Einengendes, Besitzergreifendes und schadet letztlich besonders, weil es unter dem Deckmantel der ,,Liebe“ geschieht.

Und die meisten Kinde müssen die Erfahrung machen, daß sie die Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen haben – und erst dann von ihnen auch bestätigt und angenommen werden. Dies ist in der Regel ein mehrjähriger schmerzlicher Prozeß, bis die Kinder „folgsam“ geworden sind und den Eltern ,,Freude bereiten“.

Im Grunde genommen steh damit aber die Natur auf dem Kopf. Statt die Eltern für das Kind da wären, muß das Kind erst herausfinden, was die Eltern von ihm wollen, um ihr Interesse, ihre Zuwendung und Bestätigung zu bekommen. So entwickelt sich das Kind nicht mehr nach seinen natürlichen Bedürfnissen und Rhythmen, nicht mehr nach seinen einmaligen, individuellen Möglichkeiten und Eigenarten sondern nach den Vorstellungen der Eltern und muß sich damit zwangsläufig von der eigenen Individualität und Natürlichkeit entfremden. Und die Erwartungen der Eltern haben natürlich immer etwas mit den Normen einer Gesellschaft zu tun, denn die Eltern erziehen ja so, wie sie glauben, daß ein Mensch in dieser Gesellschaft und in dieser Kultur gebraucht wird.

Die damit abgerungene Entfremdung ist die Grundlage für viele spätere Konflikte und Krankheiten, die wir unter dem Begriff der ,,Zivilisationserkrankungen“ zusammenfassen.

So lernen Kinder gewünschtes Verhalten und bekommen für Anpassung, letztlich also für Entfremdung und Unterwerfung: Lob und Anerkennung. Daraus wächst ein verhängnisvoller Irrtum: Daß man sich ,,Liebe“ durch Anstrengung und Leistung verdienen könne. Aber man kann sich Liebe nicht verdienen, durch nichts. Jedoch die meisten Menschen glauben und hoffen ein Leben lang, daß sie durch Wohlverhalten und Anstrengung doch noch eines Tages wirklich angenommen würden. So bilden sie die tragische Basis für jede Leistungsgesellschaft. Keine Leistungsgesellschaft würde funktionieren, wenn sie nicht auf ein Heer von Menschen zurückgreifen könnte, die an einem Liebesdefizit leiden und sich von daher zu übermäßigen und krankmachenden Anstrengungen verleiten ließen.

A.P.: Welcher Zusammenhang besteht nach Ihrer Erfahrung zwischen Liebe – und Lust?

Maaz: Diesen Zusammenhang will ich so erklären: Die Grundbedürfnisse melden sich nach eigenen Rhythmen, um befriedigt zu werden. Ein unbefriedigter Zustand wird als Spannung erlebt und im Falle der Befriedigung entsteht Entspannung.

Werden Bedürfnisse immer wieder vernachlässigt und bleiben unbefriedigt, wird aus dem Spannungszustand regelrechte Unlust, Angst und Verzweiflung. Dagegen ist das Entspannungserlebnis der Befriedigung ausgesprochen lustvoll. Wir finden also ein Gegensatzpaar von Lust und Angst. Und diese Empfindungen haben natürlich auch physiologische und biochemische Korrelate, es sind auch energetische Prozesse. Im Zustand der Lust öffnet sich der Mensch nach außen, seine Augen leuchten, die Haut wird warm und ist gut durchblutet, er gibt wohlige Laute von sich, er stellt Kontakt zur Umwelt her, alles strömt von innen nach außen. Im Zustand der Unlust verschließt sich der Mensch, er blockiert, hemmt und bremst sich, der Blick wird unsicher und angstvoll, die Haut wird blaß, kalt und feucht, die Muskeln sind verspannt, alles ist auf Zurückhaltung und Kontaktabbruch ausgerichtet, die Lebensenergie wird zurückgehalten und strömt nicht mehr nach außen, es staut sich alles im Menschen und verursacht starkes Unwohlsein.

Liebe und Lust sehe ich wie die zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Liebe ist dann der soziale Vorgang zwischen zwei Menschen und Lust der körperliche Ausdruck dazu. Wirkliche Lust ist also ohne Liebe nicht denkbar und wer liebt, der empfindet auch Lust.

Dagegen wird mancher einwenden, daß er durchaus zu sexueller Lust fähig ist ohne eine liebende Beziehung. Und ein anderer wird sagen, daß er Menschen liebt, ohne körperliche Lust dabei zu erfahren. Beide Behauptungen sind in meinen Augen suspekt und geben Hinweise auf eine Luststörung beziehungsweise eine Behinderung wirklicher Liebe.

Sexualität ist der intimste körperliche Ausdruck von Liebe, und Sexualität ohne Liebe ist nicht wirklich lustvoll, befreiend und entspannend, es bleiben immer Reste von Unzufriedenheit, Angst, Schuld oder Scham.

Es gibt allerdings auch Liebesbeziehungen, die Sexualtät im engeren Sinne ausschließen, wie z. B. zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern, zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Therapeuten und Patienten. Und wenn wir in solchen Beziehungen von echter Liebe sprechen wollen, dann basiert sie zumindest auf der phantasierten Möglichkeit auch sexueller Beziehungen, die allerdings aus notwendigen Gründen nicht ausgelebt werden beziehungsweise werden dürfen. Dafür hat die menschliche Zivilisation sinnvolle Tabus entwickelt, und solche Tabus nicht als belastende Verbote zu erleben, sondern als eine gebotene und sinnvolle Einschränkung, ist oft entscheidend für seelische Gesundheit. Es ist aus dieser Perspektive schon ein Unterschied, ob man sich Wünsche zugestehen kann oder sie vor sich selber peinlichst verbergen muß und damit durch Scheu, Scham und Schuldgefühle die eigene Lebendigkeit wesentlich beeinträchtigt. Aber sich Wünsche und Phantasien einzugestehen und gleichzeitig zu verstehen und zu akzeptieren, daß man auch verzichten kann und muß, ist gesunderhaltend und befreiend, auch wenn es mitunter durchaus als bitter und schmerzlich empfunden wird.

Bei unseren Analysen haben wir häufig finden müssen, daß Eltern, die mit ihrer eigenen Lustfähigkeit Schwierigkeiten haben, auch ungetrübt lustvolle Kinder schwer aushalten können und stets dazu neigen, den spontanen Ausdruck von Lebensfreude und Lust irgendwie zu dämpfen. Um ein Beispiel zu nennen: Es kann durchaus vorkommen, daß ein Säugling, der gestillt wird, diesen Zustand von Nahrungsaufnahme, Zuwendung, Wärme und Körperkontakt als ausgesprochen lustvoll empfindet, entsprechend körperlich darauf reagiert, z. B. auch mit einer Erektion des Penis. Der gestreßten und lustgestörten Mutter kann das durchaus Unbehagen, ja sogar Angst machen und sie reagiert irgendwie abweisend, ohne daß sie das selbst merken muß.

So gerät das Kind in eine echte Zwickmühle, es bekommt unterschiedliche Signale vermittelt: auf der einen Seite den lustvollen Zustand des Gestilltwerdens und auf der anderen Seite die ablehnend-angstvolle Reaktion der Mutter. Auf diese Weise kann das Kind Erfahrungen machen, daß eigene Lust von anderen Menschen nicht angenommen und akzeptiert wird, eine Erfahrung also, die bereits geschieht, noch bevor darüber nachgedacht oder gar gesprochen werden könnte. So tief kann Lustangst wurzeln. Und die Lustangst vieler Eltern resultiert aus ihre eigenen unbefriedigenden Erfahrungen, d.h. die Lust ihrer Kinder macht ihnen Angst, denn sie werden dadurch an ihre eigenen unerfüllten Sehnsüchte erinnert und damit an schmerzliche und bittere Erlebnisse ihres eigenen Lebens.

Was sie also selbst nicht leben durften, können sie dann auch ihren Kindern nicht mehr wirklich gestatten, es sei denn, sie akzeptierten auch den Schmerz über das eigene defizitäre Leben.

A.P.: Besteht da zwischen der Mutter, die stillt und dem Kind, das gestillt wird, eine gegenseitige lustvolle Beziehung?

Maaz: Ja, wenn dieser Zustand von beiden ungetrübt zugelassen wird, ist er auch für beide lustvoll. Beide – Mutter und Kind – ergänzen sich in ihrer Lust und befördern wechselseitig ihr Lusterlebnis. Gestillt werden ist für das Kind einfach ein wunderbares Erlebnis, und eine gesunde Mutter hat auch ein starkes Bedürfnis zu stillen, vorausgesetzt, sie ist selbst voller Liebe und kann von daher gern und freimütig hergeben. Ist dies aber nicht der Fall, ist die Mutter selbst bedürftig, wird sie unweigerlich, auch wenn sie stillt, vermitteln, daß es ihr schwerfällt, etwas herzugeben, weil sie lieber selbst noch ,,gestillt“ werden möchte. Ein solcher psychodynamischer Hintergrund besteht für viele Störungen des Stillens, auch wenn diese körperlich, wie z. B. bei einer Brustdrüsenentzündung, erscheinen mögen.

Es ist auch wichtig zu wissen, daß die lustvolle Übereinstimmung zwischen Mutter und Kind nicht nur eine wunderbare Erfahrung für beide ist, sondern den Grundstein legt für so wichtige Eigenschaften wie Selbstsicherheit, Gewißheit, Vertrauen, Glaube und Hoffnung. Wird diese Urerfahrung aber getrübt durch Spannungen, wird damit die Grunderfahrung von Verunsicherung, Angst, Zweifel, Selbstwertstörungen und Hoffnungslosigkeit gelegt.

Dazu kommt: Kinder, die nicht hinreichend geliebt werden, reagieren auf ganz natürliche und verständliche Weise mit Protest, sie reagieren ungehalten, sie zeigen ihre Unzufriedenheit, ihren Zustand von Spannung. Sie werden also weinen und schreien und strampeln, immer in der Hoffnung, doch noch die Eltern zur Liebe zu bewegen oder eben zur Befriedigung des jeweils anstehenden Bedürfnisses. Der Mensch hat also seine Gefühle, um einen Zustand zu signalisieren und damit auch zu kommunizieren.

Und nun passiert häufig etwas ganz Tragisches, daß Kinder für den Ausdruck ihres Unmutszustandes auch noch von den Eltern bestraft, beschuldigt oder beschämt werden, oder die Eltern haben völlig falsche Vorstellungen, daß man Kinder nicht verwöhnen dürfe und deshalb dürfe man sich ihnen auch nicht zuwenden und sie trösten beziehungsweise befriedigen, wenn sie danach verlangen. Aber gesunde Kinder kann man nicht verwöhnen. Wenn ihre Bedürfnisse gestillt sind, haben sie einfach genug und brauchen nicht mehr, bis ein anstehendes Bedürfnis sich erneut meldet und wieder befriedigt werden will, allerdings ohne ,,Steigerungsrate“.

Dagegen entsteht Verwöhnung nur dort, wo Bedürfnisse unbefriedigt bleiben und dafür auf Ersatz zurückgegriffen werden muß, also z. B. Süßigkeiten. Und da solche Ersatzmittel nie wirklich zufriedenstellen, müssen sie immer wieder und immer mehr und häufiger wiederholt werden, es kommt also zu einer Steigerung, und das ist das, was wir dann als Verwöhnung erleben. Übrigens ein Zustand, der, wenn er massenweise auftritt, den inneren Motor jeder Konsumgesellschaft darstellt. Konsum als Ersatz für Liebe.

Kinder, die in ihren Bedürfnissen nicht verstanden, angenommen und befriedigt werden und die ihren Unmut darüber nicht äußern dürfen, müssen diese bitteren Erfahrungen verdrängen, und das führt schließlich zu Gehemmtheiten und Minderwertigkeitsgefühlen, letztlich zu dem Gefühl: Mit mir ist irgend etwas nicht in Ordnung. Denn, daß mit den Eltern etwas nicht in Ordnung sein könnte, das kann und wagt ein Kind noch nicht zu denken oder festzustellen. Die Auseinandersetzung mit den Eltern geschieht häufig auf eine unbewußte und indirekte Art und Weise, z. B. dadurch, daß ungeliebte Kinder häufiger krank werden und dabei die Erfahrung machen können, wenn sie krank sind, bekommen sie mehr Zuwendung als im gesunden Zustand. Und dies führt zu einer tragischen Kopplung zwischen der Sehnsucht nach Bestätigung und Zuwendung und der Notwendigkeit, dafür krank werden zu müssen. Solche Zusammenhänge sind dem Menschen aber in der Regel nicht mehr bewußt zugängig, häufig erst durch eine langwierige Therapie wieder erfahrbar.

Aber wenn rein medizinisch, z. B. nur mit Medikamenten auf diese Erkrankungen reagiert wird, wird auch die Chance tieferer Erkenntnis in die Zusammenhänge und Ursachen meistens verhindert. Und in vielen späteren Partnerschaften ist Kranksein dann ein unbewußtes Mittel, um den Partner zu mehr Zuwendung und Rücksichtnahme zu bewegen. In der Beziehung wirkt es eigentlich wie eine Erpressung, rührt aber aus diesem tiefen inneren Notzustand her, der dem Betreffenden nicht mehr bewußt zugängig ist.

Auf diese Weise wird auch Kranksein zu einem Ersatz für Liebe.

A.P.: Kann man aus all dem schlußfolgern, daß das, was Eltern mit ihren Kindern machen, die Beziehung, die sie zu ihnen haben, die Art und Weise, wie sie mit ihnen umgehen, daß das generell Vorbild wird für jegliche weitere Partnerschaft?

Maaz: Ja, das kann man sagen. Man will irgendwie immer wieder diese Urerfahrungen in den späteren Beziehungen herstellen, auch wen diese ursprünglichen Erfahrungen unglücklich waren. Das ist eine regelrechte Tragik. Viele Menschen glauben, in ihrem Partner, ihrer Partnerin das genaue Gegenteil von Vater oder Mutter gefunden zu haben, doch bei genauerem Hinsehen sind die Unterschiede oft nur oberflächlicher Art, denn in der Beziehung zueinander stellen sich die alten Zustände wieder her.

Zugespitzt würde ich sagen, man verliebt sich immer gerade in den Partner, der zur Urerfahrung mit den Eltern – das heißt auch: zur Urstörung – paßt. Und damit verfehlt man genau die Partner, mit denen man besser leben könnte.

A.P.: Was Sie vorhin schon über die lustvolle Beziehung zwischen Mutter und gestilltem Kind gesagt haben, widerlegt ja bereits eine – eigentlich spätestens seit Sigmund Freud – überholte, aber immer noch verbreitete Annahme: Sexualität wäre etwas, das plötzlich vom Himmel fällt, wenn man 13 oder 14 Jahre alt ist. Alles, was davor liegt, hätte mit Sex rein gar nichts zu tun.

Maaz: Viele Menschen glauben, daß die Sexualität erst in der Pubertät erwacht. Das ist aber nicht richtig. Der Mensch ist von Geburt an ein sexuelles Wesen, er bleibt es auch bis zu seinem Ende.

Die sexuellen Bedürfnisse des Menschen entwickeln sich, durchlaufen Reifeschritte und sind in ihrer Orientierung und Entfaltung sehr stark von äußeren Bedingungen und der Art und Weise der Beziehungsangebote abhängig. Daß Kinder bereits sexuelle Wünsche und Gefühle haben, wird nicht gern akzeptiert, häufig gar nicht zur Kenntnis genommen, sondern mit einem Tabu belegt. Aber gerade die ersten Erfahrungen, inwieweit sie bejaht, erlaubt, gefördert, also positiv besetzt werden oder nicht, sind für die weitere Entwicklung und für das spätere Sexualleben des Erwachsenen sehr wichtig. Frühe Verbote, moralisierende Einengung und die Unsicherheit vieler Eltern erzeugen Ängste und Schuldgefühle, die die Entfaltung sexueller Lust ein Leben lang beeinträchtigen können.

Menschliche Sexualität kennt viele Facetten und Varianten, sie ist ein komplexes somato-psycho-soziales Geschehen. Schon die Entwicklung der kindlichen Sexualität weist uns darauf hin, daß der ganze Körper einbezogen ist, daß Spannung und Erregung nicht allein auf die Sexualorgane beschränken bleibt. Die psychoanalytische Forschung beschreibt Entwicklungsphasen, die nach den Körperregionen benannt sind, von denen die lustvollen Erregungen ausgehen. Es gibt eine orale (Mund), eine anale (After) und eine genitale (Geschlechtsorgane) Phase. Schon das Neugeborene erlebt eine lustvolle Stimulierung durch die erogene Zone des Mundes. Der Mund ist anfangs das zentrale Organ, über das vor allem die Beziehung zur Welt aufgenommen wird. Im Stillen erfährt der Säugling nicht nur die notwendige Sättigung durch Nahrung, sondern auch Haut- und Körperkontakt, Wärme, Zuwendung, Sicherheit, Geborgenheit. Später rückt die Ausscheidungsfunktion mehr in das Zentrum des Interesses, vor allem, wenn das Zurückhalten und Loslassen als eine selbst zu regulierende Funktion lustvoll erlernt wird. Und wieder eine Zeit später geraten die eigenen Geschlechtsorgane in das Zentrum der Aufmerksamkeit und Kinder erleben beim Berühren, Streicheln, Reiben und Massieren lustvolle Gefühle. Auch die Entdeckerfreude am eigenen Körper und die Neugier am fremden Körper sind ganz natürliche Vorgänge.

A.P.: Aber halten wir zunächst fest, daß Sie nicht der Meinung sind, Sexualität verdient diesen Namen erst, wenn es möglich ist, sich sexuell zu vereinigen. Also das ,,Eigentliche“ an Sexualität ist nicht unbedingt der Geschlechtsverkehr?

Maaz: Richtig. Ich verstehe Sexualität vor allem als die körperliche Fähigkeit und das Bedürfnis, eine lustvolle Spannung aufzubauen und dann die lustvolle Entspannung zuzulassen. Dazu gehören zärtliche Berührungen und Körperkontakt in unterschiedlichen Körperbereichen ebenso wie angstfreier und liebevol1er sozialer Kontakt.

Sexualität hat also immer auch etwas mit Beziehung zu tun, wobei allerdings der lustvolle Umgang mit dem eigenen Körper, eine gute und bejahende Beziehung zu sich selbst, eine wichtige Voraussetzung ist. Dabei ist auch Onanieren sehr wichtig. Wer angst- und schuldfrei hat lernen dürfen, sich selbst zu erregen und zu befriedigen, der lernt nicht nur den eigenen Körper gut kennen, sondern auch Verantwortung für die eigene Lust zu übernehmen. Eine wesentliche Voraussetzung für gute partnerschaftliche Sexualität ist, daß man dem Partner, der Partnerin die eigene Lust bringen kann und nicht erwartet, daß einem Lust gemacht wird.

Mit der Pubertät bekommt der Wunsch nach sexueller Vereinigung eine zentrale Bedeutung. In diesem Alter ist dann allerdings auch die Fähigkeit zur Zeugung und Schwangerschaft entwickelt, was zu einem besonderen Problem werden kann, denn jetzt klaffen körperliche und soziale Reife noch längere Zeit auseinander. Mit sozialer Reife ist die Fähigkeit gemeint, für das eigene Leben selbständig sorgen zu können, die Beziehung verbindlich zu gestalten, um zuverlässige Verantwortung für Kinder übernehmen zu können. Dieses Problem unsere Kultur wird häufig dadurch verschärft, daß Eltern und Erzieher wenig Verständnis und Toleranz für jugendliche Sexualität aufbringen, sondern nur mit Verboten, Drohungen und Einschränkungen reagieren. Aber gerade in diesem Alter wäre die wohlwollende Förderung der ersten partnerschaftlichen, sexuellen Kontakte für das Selbstbewußtsein und die Beziehungsfähigkeit eine wichtige Voraussetzung. Es ist eine Zeit, in der partnerschaftliche Sexualität eingeübt wird.

A.P.: Heißt das, Sexualität muß geübt werden? Muß man Sex wirklich lernen, reicht es nicht, seinen Bedürfnissen einfach freien Lauf zu lassen?

Maaz: Lernen verstehe ich hier vor allem als Erfahrungen sammeln, ausprobieren, kennenlernen. Aus Büchern und durch hilfreiche Gespräche kann man zwar etwas über Funktionen, über Techniken erfahren – natürlich muß man sich auch theoretisches Wissen über Empfängnisverhütung oder Geschlechtskrankheiten aneignen -, aber entscheidend sind persönliche Erfahrungen damit, welche Voraussetzungen und Bedingungen für die eigene Lustentfaltung wichtig sind, auf welche Weise die partnerschaftliche Beziehung förderlich oder hinderlich dabei sein kann.

Für ganz wichtig halte ich den offenen und vertrauensvollen Kontakt zu einen erfahrenen Erwachsenen, mit dem man eventuell über alle Schwierigkeiten, Konflikte und Ängste sprechen kann. Aber genau das ist eher selten. Die meisten Jugendlichen erfahren nicht nur kein Verständnis und keine Unterstützung für ihre Sexualität, sondern werden eher eingeschüchtert und geängstigt, weil die meisten Erwachsenen selbst eine gestörte Beziehung zu ihrer Sexualität haben und nicht frei und ehrlich damit umgehen können. Sie sind daher also weder gute Gesprächspartner noch gute Vorbilder.

Eltern, die auf eine selbstverständliche Weise mit ihrer Sexualität umgehen, also etwa Natürliches vorleben, ohne Angst zu verbreiten und Schuldgefühle zu erzeugen, wären das beste für die Entfaltung jugendlicher Sexualität. Solche Eltern brauchen ihre Kinder auch nicht ,,aufzuklären“, also einen bestimmten Zeitpunkt zu wählen, in dem Kinder in ein „Geheimnis“ eingeweiht werden. Solche Art Aufklärung wird von den Kindern meist als peinlich, komisch, lästig und unpassend erlebt – eine einmalige „Aufklärung“ ist in der Regel auch ein hilfloser und alberner Akt. Wenn Sexualität nicht tabuisiert oder irgendwie abgewertet wird, stellt das Kind auch ganz selbstverständlich und ungezwungen seine Fragen zu sexuellen Dingen wie zu allen anderen Angelegenheiten des zu entdeckenden Lebens. Jede Antwort, die dann ablenkt wie „Das verstehst du nicht“, ,,Das erkläre ich dir später“, ,,Da mußt du Mutti – oder Vati – fragen“ , zeugt von der unbewältigten sexuellen Problematik der Eltern und wird die gesunde sexuelle Entwicklung ihres Kindes beeinträchtigen.

A.P.: Also halten Sie Aufklärung eigentlich nicht für nötig?

Maaz: Das ist richtig. Schon das Wort Aufklärung und wie es gebraucht wird, verrät eher eine negative Einstellung zur Sexualität: Daß dort etwas Dunkles stattfindet, das man „aufklären“ müsse. Es ist im Grunde nichts aufzuklären. Wenn alle Fragen der Kinder immer dann beantwortet wären, wenn sie auftauchten, wenn die Eltern aus der Sexualität kein Geheimnis machen würden, dann bräuchten sie dieses im Nachhinein auch nicht aufzuklären.

A.P.: Sie haben betont, wie eng Lust und Liebe zusammenhängen und daß diese Zusammenhänge zumeist schon in frühester Kindheit gestört sind. Welche Konsequenzen hat eine solche Störung dann für denjenigen, der jetzt in die Phase der Pubertät eintritt?

Maaz: Kinder mit solchen Erfahrungen bleiben, wenn sie heranwachsen, in ihrer eigenen Beziehungs- und Kontaktfähigkeit unsicher, scheu und gehemmt oder sie reagieren ihre Spannungen in aggressiven Verhaltensauffälligkeiten, z.B. auch in radikalen Gruppen, ab. Durch den sexuellen Bedürfnisdruck, der in der Pubertät sehr stark wird, werden sie einerseits zu Kontakt genötigt, durch ihre schlechten Erfahrungen aber auch geängstigt So bleiben die Kontakte meist nur oberflächlich, auf die sexuelle Funktion beschränkt oder Partner werden häufig gewechselt. Eine liebende Beziehung wird nicht gesucht und auch nicht aufgebaut Die Angst vor neuer Enttäuschung ist viel zu groß, aber es ist meist auch eine Scheu vorhanden, wirkliche Liebe zu finden, weil man dadurch erst recht an die unerfüllten gebliebenen Wünsche und Sehnsüchte erinnert würde.

A.P.: Also hat man Angst vor dem, was man eigentlich braucht, nämlich vor der wirklichen Liebe?

Maaz: Ja. Und manchmal hören wir in unseren Krankengeschichten auch davon, daß, wenn es dann doch in der Sexualität zu größerer Nähe kommt, oder zum lustvollen Orgasmus, plötzlich auch ein Mensch anfängt zu weinen. Das ist ja zunächst paradox und unverständlich. Aber es läßt sich dadurch erklären, daß nun doch diese Sehnsucht wieder durchbricht: Ich möchte endlich geliebt sein, ich möchte gerne diese Annahme, auch diese körperliche Annahme erfahren, die mir so sehr gefehlt hat.

Um solchen Schmerz zu vermeiden, ist die typische Situation in der Pubertät leider eher so, daß Liebe und Sexualität voneinander abgespalten werden, daß man zwar Sexualität braucht und ausübt, aber es sich so einrichtet, daß es – wie in der frühen Beziehung zu den Eltern – nicht zur Liebe kommen kann. Wenn sich daraus dann trotzdem eine Partnerschaft oder später eine Ehe entwickelt, ist damit schon das Scheitern voraus geplant. Und schließlich wird dann auch die Sexualität sehr bald nicht mehr befriedigend sein: Streit, Spannungen und ein heimlicher, nicht offen ausgetragener ,,Wettkampf“, wer von den Partnern mehr Zuwendung vom anderen bekommt, garantiert dann wieder die altbekannte Enttäuschung und Distanz.

A.P: Wann hat nach Ihren Erfahrungen ein 14jähriger die besten Chancen, diese bei ihm neu aufbrechende, sich in einer neuen Qualität befindende Sexualität in vollen Zügen zu genießen bzw. umgekehrt: Was hindert ihn normalerweise daran, das zu tun?

Maaz: Ich will das so zusammenfassen: Die besten Chancen hätte er, wenn er in einer Gesellschaft leben könnte, Eitern und Erwachsene um sich hätte, die die Sexualität, auch die der Kinder und Jugendlichen eindeutig und ohne Einschränkung bejahen und das auch vorleben würden. Doch das ist leider nicht der Fall.

Wir leben in einer Gesellschaft, die massenhaft sexuelle Störungen produziert. Ängste, Unsicherheiten und Schuldgefühle sind immer noch weit verbreitet infolge einer autoritär-einschüchternden und moralisierenden Erziehung. Die vielfachen Beziehungsstörungen zwischen Eltern und Kind belasten auch die Beziehungsfähigkeit des Heranwachsenden. Autoritäre Erziehung verursacht viel Empörung, Wut, Haß, aber auch Schmerz, die nicht gezeigt werden dürfen. Also müssen sie seelisch verborgen und körperlich unterdrückt werden. Das führt zu körperlich-muskulären Spannungen, die auch das Loslassen, das Strömen-Lassen, die Ausbreitung einer Lustwelle verhindern. Dadurch ist die Fähigkeit zu einem vollständigen Orgasmus bei vielen Menschen eingeschränkt.

Das ist einer der Gründe, wodurch auch Sexualität zur Sucht wird, davon lebt das vielfache Geschäft mit dem Sex. Wenn es nicht mehr zu umfassender befriedigender Entspannung kommt, wird durch Partnerwechsel, durch „Techniken“, gesteigerte Raffinessen oder Abartigkeiten Entlastung gesucht. Davon sind leider nicht nur Kranken- und Gerichtsakten voll, sondern auch die meisten Zeitungen.

Die notwendige Bejahung der Sexualität schließt also vieles ein: daß Kinder hinreichend zärtlichen Körperkontakt bekommen, daß sie schuldfrei onanieren lernen, daß sie im Ausdruck ihrer Vitalität, ihrer Freude und Lust nicht eingeengt und zum Ausdruck ihres Zorns und ihres Schmerzes ermutigt werden, daß Jugendlichen Raum, Zeit und Gelegenheit zu ungestörten sexuellen Kontakten eingeräumt und zugebilligt wird, daß sie schließlich verständnisvolle Begleitung, Beratung und Hilfe bei allen entstehenden Konflikten erfahren und nicht Belehrung, Ermahnung und Einschüchterung.

Ein wichtiges Kapitel ist, daß man Verantwortung für die eigene Lust übernehmen kann und nicht für die eigene Behinderung den Partner verantwortlich macht. Ein Partner kann dem anderen nicht den Orgasmus machen, was z.B. viele Frauen von ihren Männern erwarten, aber auch viele Männer machen ihre Lustfähigkeit an der Partnerin fest – nein, der Partner kann höchstens förderlich oder hinderlich sein, aber die eigene Lust kann man nur selbst zulassen oder blockieren.

Erwähnen möchte ich noch, daß heute ganz strenge und unterdrückende Sexualerziehung durchaus seltener geworden ist, doch kann auch eine prüde und verlogene Atmosphäre in der Familie, das beschämte und unsichere Weg-Schauen und Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen ähnliche Verunsicherung und Einengung bewirken. Ganz offensichtlich nimmt aber sexueller Mißbrauch der Kinder durch ihre Eltern zu, wobei nicht nur Mädchen Opfer werden. Auch die emotionale Ausbeutung der Kinder, wenn diese zur Freude ihrer Eltern leben müssen, wenn sie zum Partnerersatz gemacht werden oder belastete Eltern trösten und ihre Konflikte schlichten und ihre Beziehung zusammenhalten sollen, führt schließlich zu schweren psychosexuellen Störungen.

A.P.: Jugendlichen Gelegenheit zu ungestörten sexuellen Kontakten einzuräumen – das ist sicherlich weniger eine Wohnungsfrage als eine Frage der Einstellung der Gesellschaft überhaupt zu diesem Problem. Wenn etwas als wichtig erkannt ist, ist es in der Regel ja auch möglich, die entsprechenden materiellen Werte zur Verfügung zu stellen.

Maaz: Viele Menschen wissen von der großen Bedeutung der Sexualität für ihr Leben, auch wenn sie darüber nicht offen und ehrlich sprechen mögen. In der Psychotherapie ist längst bekannt, daß gesundes Leben ohne befriedigende Sexualität nicht möglich ist und daß eine Fülle von Erkrankungen durch sexuelle Störungen und Behinderungen ihre Ursache haben. An den weit verbreiteten neurotischen Fehlhaltungen und -entwicklungen kann man das besonders eindrucksvoll nachweisen. Was aber weiterhin hartnäckig geleugnet und meist mit Empörung zurückgewiesen wird, ist der Einfluß der Sexualität auf gesellschaftliche Verhältnisse.

Gesellschaftliche Normen tragen wesentlich dazu bei, wie die Sexualität sich entfalten und wie sie gelebt werden kann. Aber sexuell frustrierte Menschen tragen auch erheblich zu gesellschaftlichen Fehlentwicklungen bei. Wenn sie sich nicht mehr über Sexualität regelmäßig und ausreichend entspannen und befriedigen können, müssen sie versuchen, die vorhandene oder zurückbleibende Spannung anders abzureagieren, zu kompensieren oder zu dämpfen. Hier finden wir eine entscheidende Ursache für den verbreiteten Drogenmißbrauch – Alkohol, Nikotin, Medikamente, harte Drogen

– aber auch für die Arbeitssucht oder die Sucht nach Konsum, Besitz und Macht, die eine Gesellschaft in totalitäre oder beziehungs- und umweltzerstörende Entwicklungen treibt.

A.P.: Also Sexualität ist genauso wie Hunger und Durst ein Trieb – das muß man vielleicht noch mal ganz deutlich sagen. Und ein Trieb, der sich irgendwie seine Bahn bricht. Wenn er nicht direkt das darf, wofür er eigentlich da ist, dann sucht er sich irgend etwas anderes. Es ist also keine Sache, über die man rational entscheiden kann: Bin ich sexuell oder bin ich nicht sexuell, habe ich sexuelle Bedürfnisse oder nicht. Man hat sie. Man kann sie vielleicht verleugnen und man sie ersatzbefriedigen – aber man kann sie auf keinen Fall wegmachen. Sie wirken auf irgendeine Art und Weise: wenn nicht natürlich oder gesund, dann ungesund und unnatürlich.

Maaz: Genau. Man kann daher auch sagen: Sexuell befriedigte Leute müssen nicht so viel kaufen, konsumieren, haben, müssen nicht so viel Macht anstreben oder Geltung, Ruhm ernten. Sie sind mehr interessiert an liebenden Kontakten, an emotionalen Beziehungen, an einer guten Möglichkeit, zu einer lustvollen Entspannung zu kommen und würden dann natürlich ihr Leben, ihre Beziehung und auch ihre Gesellschaft nach diesen Werten einrichten wollen. Und ich glaube, daß das schon eine bemerkenswerte Alternative wäre zu der bisherigen Struktur unserer Gesellschaft. Jede Diskussion um gesellschaftliche Veränderungen und Entwicklungen, um die Normen und Werte – eine Diskussion, die wir zur Zeit dringend brauchen – muß also die Sexualität mit einschließen. Daß wir unseren Kindern eine gesunde sexuelle Entwicklung ermöglichen, ist für das gesellschaftliche Leben, letztlich für das Überleben, von größter Wichtigkeit. Das gilt auch andersherum: Wer die Jugend sexuell frustriert, erzeugt damit Gewalttäter und bereitwillige Soldaten und Mitläufer für jedes politisch, militärisch oder religiös motivierte destruktive Handeln.

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Der Text ist die bearbeitete Fassung zweier Jugendradio-DT-64-Sendungen mit Hans-Joachim Maaz. Sie wurden am 23.10. und 22.11.1989, 20.03- 21 Uhr unter dem Titel „Mensch, Mensch – Was hindert Dich an Lust und Liebe?“ ausgestrahlt. Frühere Veröffentlichungen finden sich in ICH – die Psychozeitung 2/91 bzw. 1/92 sowie in „Weltall, Erde …ICH“ bzw. www.weltall-erde-ich.de.

 

Tipps zum Weiterlesen:

Jeder hat den Partner, den er verdient

Vom Nutzen der sexuellen Enthaltsamkeit für den sozialistischen Aufbau in der DDR

Zur sexuellen Aufklärung der Kinder. Offener Brief von Sigmund Freud