»Möglichst keine tödlichen Diagnosen«. Zuarbeiten des Göring-Institutes zur »Eugenik« (Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Teil 8)

 von Andreas Peglau

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Gegen »erbkranken Nachwuchs«, für »rassische Reinheit«

1934 war das »Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses« in Kraft getreten. Damit knüpften die Nationalsozialisten an »eugenische« Bestrebungen an, die seit Ende des 19. Jahrhunderts im »linken« wie im »rechten« Lager, unter Ärzten, Biologen, Theologen und anderen Berufsgruppen weit verbreitet waren (vgl. Klee 1997, S. 15–33; Peglau 2000b; May 2009, S. 6f.).
Die Befürwortung von Sterilisation und Euthanasie war also nichts spezifisch Nationalsozialistisches – wohl aber deren radikale, sich institutionalisierende und zum hunderttausendfachen Massenmord ausweitende Anwendung.

Um »Erbkranke« zu erfassen und der Sterilisation zuzuführen, wurden Gesundheitseinrichtungen ab 1934 aufgefordert, grundsätzlich »erbbiologische« Daten der Patienten mitzuerfassen, zu dokumentieren und bei Verlangen an staatliche Stellen weiterzugeben. Das führte zu ca. 400.000 Sterilisationen an Menschen zwischen 10 und 60 Jahren, zu vielfachen schweren seelischen und/oder körperlichen Folgeschäden sowie zu ca. 6.000 Todesfällen. Weitere im Zuge der Sterilisation bereits »Erfasste« fielen später der Euthanasie zum Opfer (Hinz-Wessels 2004, S. 101ff., 168ff.).

Auch am Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie (DIPFP) – dem „Göring-Institut“ – galt die Norm, den Festlegungen des »Gesetz[es] zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses« zu entsprechen,[1] was unter anderem Institutsleiter M.H. Göring mehrfach bekräftigte[2] (Peglau 2017, S. 478ff.).

»Unheilbare Psychopathen«

Dass das Erbgesundheitsgesetz »Psychopathien« nicht explizit miteinbezog, führte in der Folge zu Kontroversen. Namhafte deutsche Psychiater wie Kurt Schneider standen einer Einordnung von »Psychopathien« als Erbkrankheiten jedoch skeptisch gegenüber.

Dennoch entwickelte, offenbar aus eigenem Antrieb, eine Arbeitsgruppe des DIPFP ein »Diagnose-Schema«, das für angeblich unheilbare »Psychopathen« genau diese Einordnung vornahm (Knebusch 2005).
Zu dieser Arbeitsgruppe gehörten die »Freudianer« Felix Boehm, Werner Kemper, Carl Müller-Braunschweig, »Neo-Freudianer« Harald Schultz-Hencke, Ex-»Jungianer« John Rittmeister, die »Jungianer« Gustav R. Heyer, Wolfgang M. Kranefeldt und Werner Achelis, die »Adlerianer« M.H. Göring und Edgar Herzog sowie die sich keiner Therapieschule (mehr) zurechnenden, sich aber als Tiefenpsychologen verstehenden Hans v. Hattingberg und J.H. Schultz, der Erfinder des „autogenen Trainings“.[3]

Im Februar 1940 wurde das Schema im Institut vorgestellt und im Heft 1940, 2/3 des Zentralblattes für Psychotherapie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, anschließend wurde es angewendet (Boehm 1942, S. 81).

Das bedeutete unter den im Institut gut bekannten[4] gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Zusätzlich wurden nun weitere ca. 10 bis 15 Prozent der eigenen Patienten (ZfP 1939, Bd. 11, S. 52) mit einer Stigmatisierung versehen, die nicht nur zur Sterilisation, sondern – spätestens seit 1939 (vgl. dazu Peglau 2000a, S. 66f.) – auch zur Euthanasie führen konnte. Und offenbar bereits geführt hatte, wie das Referat belegt, mit dem J.H. Schultz dieses Diagnoseschema im Institut bzw. im Referatabdruck des Zentralblattes für Psychotherapie präsentierte:

»Wir sind übereinstimmend [!] der Ansicht, daß es auch eine hysterische Psychopathie, eine Entartungshysterie gibt, die völlig unheilbar ist. […] [E]s gibt ganz zweifellos diesen erblich-degenerativen, psychopathischen, unheilbaren hysterischen Typ. Meistens scheint es sich hier um eine sehr durchschlagende Vererbung zu handeln.
Die wenigen Fälle, wo ich dies Todesurteil in Form einer Diagnose gestellt habe [!], zeigten das deutlich; Sie wissen, dass im neuen Scheidungsrecht in Deutschland mit Recht diese Form der Hysterie als Scheidungsgrund gilt; denn es kann keinem Mann zugemutet werden, mit einer solchen Bestie zu leben« (ZfP 1940, Heft 2/3, S. 114f.; Hervorhebung von mir – A.P.).

 

Entscheidungen über Leben und Tod

Regine Lockot schreibt in diesem Zusammenhang:

»Die Diagnose entschied über Leben und Tod des Patienten. Indem ein phänomenologisches Diagnoseschema empfohlen wurde, versuchten [!] wohl Psychotherapeuten, die Diagnosen so zu stellen, dass die Patienten von dem Euthanasie-Programm verschont blieben« (Lockot 2002, S. 220f.).

Einzelne Institutsmitglieder, so Regine Lockot weiter,

»waren als Psychiater in Kliniken tätig. Eine Psychoanalytikerin, die Assistenzärztin in Buch bei Berlin war, berichtete davon, dass sie die Meldebögen des RMDI [Reichsministerium des Inneren – A.P.] auszufüllen hatte. Da sie ahnte, welchem Zweck sie dienen sollten, habe sie möglichst [!] keine ›tödlichen Diagnosen‹ gestellt« (ebd., S. 223).

Über dieselbe Analytikerin, Ingeborg Kath, ergänzt Regine Lockot an anderer Stelle, dass sie nach eigener Aussage nur alte Patienten ausgewählt habe, »die sowieso bald gestorben wären« (Lockot 1994, S. 78).
1950 wurde Kath dann eines der sechs Gründungsmitglieder[5] der von Carl Müller-Braunschweig geführten Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (ebd., S. 243f.).

Allein der im Zentralblatt für Psychotherapie 1942, Heft 1/2, S. 65 f. veröffentlichte Bericht Felix Boehms für das Jahr 1941 nennt bezüglich der 464 Poliklinikpatienten 93 Diagnosen, die Sterilisation und Euthanasie nach sich ziehen konnten: 8 Fälle Debilität, 8 Fälle Epilepsie, 22 Fälle Schizophrenie, 38 Fälle manisch-depressive Erkrankung, 17 Fälle Psychopathie.

Später wurde der von der Euthanasie betroffene Personenkreis durch die verantwortlichen NS-Funktionäre wesentlich ausgeweitet und umfasste – neben vielen anderen Gruppen – weitere »Störungen«, die auch in der Arbeit des DIPFP eine Rolle spielten: »Schulversager«, »Verwahrloste«, »Kriegsneurotiker und -hysteriker«, »Homosexuelle« (Peglau 2000a, S. 67).

Die Wahrscheinlichkeit, dass mit solchen Stigmatisierungen oder den oben aufgelisteten Diagnosen behaftete DIPFP-Patienten der Euthanasie zum Opfer fielen, dürfte zumindest immer dann hoch gewesen sein, wenn sie anschließend in Krankenhäuser oder Heilanstalten kamen.
Denn hier erfolgte der intensivste Zugriff durch die Euthanasiemaschinerie, die bis Kriegsende mehr als 200.000 Menschenleben auslöschte.

P.S.

Bei der ärztlichen Beteiligung an der NS-Euthanasie ging es nicht um die Abwägung, das eigene Leben zu opfern oder das eines Patienten.
Es ist kein einziger „Fall bekannt geworden, daß ein Arzt wegen Verweigerung seiner Mitwirkung zum Tode verurteilt oder eingesperrt wurde, obwohl in einigen Fällen die Ärzte ihre Mitwirkung verweigerten und zum Teil sogar erheblich Widerstand geleistet haben“ (Klee 1991, S. 274).

Ein Beispiel für Letzteres war Dr. Hans Roemer (1878-1947), Leiter der Anstalten in Illenau und Göppingen, der „den Kampf um jeden einzelnen Patienten mit dem allmächtigen Leiter des Gesundheitsamtes“ aufnahm (ebd.). Er wandte sich über einen längeren Zeitraum an alle ihm erreichbaren staatlichen Stellen, um Protest einzulegen, verweigerte das Mittun, rettetet so vielen seiner Patientinnen und Patienten das Leben (ausführlich dazu: Plezko 2011, S. 54–63).

Auch diese Alternative gab es also.

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Zusätzliche Literatur: Plezko, Anna (2011): Handlungsspielräume und Zwänge in der Medizin im Nationalsozialismus: Das Leben und Werk des Psychiaters Dr. Hans Roemer (1878-1947) Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Zahnmedizin des Fachbereichs Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen. https://d-nb.info/1064838332/34

Stark gekürzter sowie veränderter und ergänzter Auszug aus Andreas Peglau: „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“, 3. und erweiterte Auflage 2017, Gießen: Psychosozial. Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus

Dessen KOMPLETTES Quellen- und Literaturverzeichnis findet sich hier: Quellen und Literatur Peglau Unpolitische Wissenschaft, Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Psychosozial-Verlag-Gießen 2017

Anmerkungen

[1] Einige Zitate aus dem Zentralblatt für Psychotherapie 1942, Heft 1/2 mögen das belegen. J.H. Schultz: »[A]n erster Stelle (steht) eine gründliche psychiatrische Erfassung jedes Klienten, auch wenn er nur zu einer ›Eheberatung‹ od. dgl. kommt […]. Die Erfahrung unserer Poliklinik geht dahin, daß alle ernsthaften und gesundungswilligen Kranken durchaus einsichtig und dankbar sind […], während allerdings asoziale Psychopathen oder gemeinschaftsfeindliche Schizoide und ähnliche Minderwertige dazu neigen, ›beleidigt‹ zu sein […]. Dabei muss die Lebens- und Gemeinschaftswertigkeit der Kranken eingeschätzt und berücksichtigt werden, damit die produktiv-heilerischen Potenzen unseres Institutes für werthafte Persönlichkeiten erhalten bleiben […], kann doch z.B. die Heilarbeit ergeben, daß ein unheilbarer erbmißgebildeter Psychopath bei der poliklinischen Aufnahme als Neurose verkannt wurde« (ebd., S. 15f.). Die »Jungianerin« Olga von Koenig-Fachsenfeld zur »Erziehungshilfe« am Institut bzw. in dessen Zweigstellen: »Erbbiologische Gesichtspunkte werden nachdrücklich wahrgenommen, da erbkranke Kinder […] nicht psychotherapeutisch behandelt werden […]. Alle im Verlauf der Therapie erforderlichen Verhandlungen mit Behörden und Dienststellen, Überweisungen an andere Ärzte, in Heime usw. haben über die Erziehungshilfe zu gehen […]. Wie wichtig gut geführte Krankengeschichten für unsere Arbeit sind, hat auch die Poliklinik wieder und wieder betont […]. Wir brauchen sie [unter anderem] aus Gründen der Vertretung unserer Arbeit gegenüber Behörden« (ebd., S. 27–30). Parallel dazu wurde ohnehin die ärztliche Schweigepflicht staatlicherseits systematisch unterhöhlt (Rüther 1997).
[2] Zum Beispiel indem er zum »Abfassen von Zeugnissen und Gutachten« am Institut mitteilte: »Es geht nicht an, daß wir etwa schreiben […], Es liegt keine Geisteskrankheit vor […], der Strafrichter muß erfahren, ob ein Angeklagter Psychopath ist, d. h. erbmäßig abnorm ist […]. Mit anderen Worten, ob er noch zu einem brauchbaren Mitglied der Volksgemeinschaft werden kann oder nicht« (Zentralblatt für Psychotherapie 1942 Heft 1/2, S. 36).
[3] Leider erst am 15.6.2019 habe ich von einem Beitrag erfahren, den der Psychoanalytiker Ulrich Schultz-Venrath schon am 20.6.1984 in der Zeitung TAZ veröffentlichte: „Autogenes Training und Gleichschaltung aller Sinne – 100 Jahre Johannes Heinrich Schultz.“ Darin ist bereits alles Wesentliche über das schuldhafte Handeln von J.H. Schultz in der NS-Zeit auf den Punkt gebracht. Erst 2002 raffte sich die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) auf, J. H. Schultz die 1950 verliehene Ehrenmitgliedschaft wieder abzuerkennen.
[4] Teilweise waren die DIPFP-Mitglieder auch aus »erster Hand« informiert. So hielt der Leiter der Euthanasieaktion »T4«, Herbert Linden, der auch Mitglied im Verwaltungsrat des Institutes war, dort Vorträge über »Erb- und Rassenpflege« (Brecht et al. 1985, S. 148). Über den ohnehin schnell wachsenden Bekanntheitsgrad der »Euthanasie« in der deutschen Bevölkerung berichtet ausführlich Klee 1997, 130–134, 193–219, 334–344. L.M. Hermanns weist in diesem Zusammenhang auch auf die »›Arbeitsteilung‹ zwischen Psychiatrie und Psychotherapie‹ hin (Hermanns 1982, S. 163).
[5] Außer Kath und Müller-Braunschweig waren das Käthe Dräger, Hans March, Gerhart Scheunert, Margarete Steinbach (Hermanns 2010, S. 1159f. u. Fn 4, hier auch Details zur DPV-Gründung).

 

Tipp zum Weiterlesen:

Tiefenpsychologische Kriegsführung am „Göring-Institut“ (Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Teil 9 und vorläufiger Schluss)