von Andreas Peglau
Individuelle Spielräume
Bei denen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts meist noch immer täglich mehr als 10 Stunden für wenig Geld Knochenarbeit verrichteten, blieb in der Tat wenig Kraft und Gele-genheit, um sich über die Verhältnisse zu erheben. Schon deshalb und wegen des Machtgefälles war die Verantwortung eines einzelnen Proletariers für das kapitalistische Wirtschaftssystem gering.
Doch zu allen bekannten Zeiten sind Menschen aus ihren Verhältnissen ausgebrochen.
Im Jahre 73 v. u. Z. taten dies bespielweise die sich befreienden Sklaven des Spartakus-Aufstandes – ein Beispiel, das Marx bekannt war.[1] Unzählige haben sich seither für andere Menschen, für unterschiedlichste Ziele und Ideen selbst dann engagiert, wenn sie wussten, dass sie damit ihre körperliche Unversehrtheit oder ihre Existenz aufs Spiel setzten. Zu Lebzeiten von Marx und Engels geschah dies bereits zur Befreiung von kapitalistischer Unterdrückung, wie 1871 im Aufstand der Pariser Kommune. Bei dessen Niederschlagung wurden bis zu 35.000 Menschen niedergemetzelt, tausende später deportiert.[2]
Marx setzte noch im selben Jahr den „selbstopfernden Vorkämpfern einer neuen und bessern Gesellschaft“ in seiner Schrift Bürgerkrieg in Frankreich[3] ein Denkmal. Hatten diese Vorkämpfer nicht ihre „Charaktermasken“ weit von sich geworfen?
Im Kommunistischen Manifest erwähnten Marx und Engels „Bourgeoisieideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben“:[4] vermutlich eine Selbstdarstellung. Nahmen sie damit für sich die Ausnahme in Anspruch, ihre Masken ablegen zu können? Oder glaubte Marx, da er weder Prolet noch Unternehmer war, hätte diese Frage für ihn nicht bestanden? Und wie sah er das bei Engels?
Erfolgreicher Kapitalist, führender Sozialist
Engels Vater, ein angesehener Textilunternehmer, verlangte, dass Friedrich in seine Fußstapfen trete, untersagte ihm darum, das Abitur abzuschließen und zwang ihn in eine kaufmännische Ausbildung. Dem versuchte der Sohn auf seine Art etwas abzugewinnen. Im August 1840 berichtete er seiner Schwester Marie über eine „wesentliche Verbesserung“ in seinem Büro. Da es „immer sehr langweilig“ gewesen sei, „nach dem Essen gleich ans Pult zu stür-zen, wenn man doch so schauderhaft faul ist“, habe man, „um diesem Übelstande abzuhelfen“, auf dem Dachboden „zwei sehr schöne Hängematten errichtet, in welchen wir […] zuweilen auch einen kleinen Dusel halten. […] Ich stahl mich aus dem Comptoir und nahm Cigarren und Streichhölzchen mit und bestellte Bier; […] und legte mich in die Hängematte und schaukelte mich äußerst sanft“.[5] Seinen rasch wachsenden Widerwillen gegen das politische und wirtschaftliche System[6] drückte er ab 1839 – da war er 19 Jahre alt – in Zeitungsartikeln aus, die er unter dem Pseudonym Friedrich Oswald veröffentlichte.
1841 gelang es Engels, sich der direkten Einflussnahme des Vaters zu entziehen. Er entwickelte ein intensives Interesse an Philosophie, Politik und – noch vor Marx – an Ökonomie. 1844 lernte er Marx näher kennen. Die 1845 gemeinsam mit diesem entworfene Schrift Die heilige Familie[7] trug auch Engels‘ Namen. Bald darauf kämpfte er mit Worten und Taten, 1849 auch mit dem Degen in der Hand im „Pfälzischen Aufstand“,[8] gegen die bestehende Ordnung, wurde per Steckbrief gesucht, musste flüchtend mehrfach die Länder wechseln.
Dreißigjährig kehrte Engels zurück ins Unternehmen, wurde Prokurist, dann Teilhaber des väterlichen Betriebsteils in Manchester, nicht zuletzt, um Marx materiell zu unterstützen. Dies war nun vor allem nötig, weil Marx nicht mit Geld umgehen konnte aber Wert legte „auf den äußeren Schein bürgerlicher Respektabilität“ – und den Gelderwerb zugunsten seiner wissenschaftlichen Interessen hintanstellte.[9] Ohne Hilfe von Engels, ohne Nutznießung von dessen Profit, hätte es das Werk von Marx nicht gegeben.
1867, kurz bevor Marx das Kapital veröffentlichte, offenbarte ihm Engels: „Ich sehne mich nach nichts mehr, als nach Erlösung von diesem hündischen Commerce, der mich mit seiner Zeitverschwendung vollständig demoralisiert. Solange ich da drin bin, bin ich zu nichts fähig […].“[10] Letzterer Satz war unzutreffend: Nie ließ sich Engels dauerhaft davon abbringen, sich politisch zu engagieren. Er führte, wie Thomas Kuczynski mitteilt,
„über 20 Jahre ein Doppelleben, zum einen als Junggeselle im ‚Scheißhandel‘ mit einer dazu passenden Wohnung, zum anderen als Lebensgefährte von Mary Burns, einer irischen Proletarierin, die ihn seit 1843/44, ihrer ersten Begegnung, mit den Elendsvierteln Manchesters und irischer Lebensart vertraut gemacht hatte. Die beiden lebten in Wohnungen zusammen, die er unter wechselndem Namen mietete und in denen er des Nachts auch seine Studien betreiben und Artikel verfassen konnte“.[11]
Sobald wie möglich hing der nun 49-jährige Engels den verhassten Job wieder an den Nagel, wurde ein begüterter Rentier,[12] der weiterhin für die Familie von Marx aufkam. 1870 zog er mit seiner neuen Lebensgefährtin Lizzy Burns – deren Schwester war 1863 verstorben – nach London, „stürzte sich wieder in die Arbeit,“ unter anderem im „Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation“ und als Publizist der sozialistischen Presse.[13]
1883 hielt er in einem Brief fest, man könne
„ganz gut selbst Börsianer und zu gleicher Zeit Sozialist sein und deshalb die Klasse der Börsianer hassen und verachten. Wird es mir je einfallen, mich zu entschuldigen dafür, daß ich auch einmal Associe [Teilhaber] in einer Fabrik gewesen bin? Der sollte schön ankommen, der mir das vorwerfen wollte. Und wenn ich sicher wäre, an der Börse morgen eine Million profitieren zu können und damit der Partei […] Mittel in großem Maß zur Verfügung zu stellen, ich ging sofort an die Börse“.[14]
Nach dem Ableben von Marx wurde Engels zum „Ein-Mann-Korrespondenzbüro“, „zum de facto führenden Kopf der europäischen sozialistischen Bewegung“;[15] bis zum Lebensende folgten diverse Publikationen und politische Aktivitäten.
Aber hat Engels zumindest als Teilhaber der väterlichen Firma als „ökonomische Charaktermaske“ fungiert? Nur begrenzt.
Engels kümmerte sich zwar mit unerwartet großem Eifer um die Geschäfte, sah sich manchmal gezwungen, Angestellte zu entlassen, zum Beispiel wegen „Liederlichkeit.“ Doch in seinem Betrieb fanden die Proletarier „bessere Arbeitsbedingungen“ vor als anderswo. In „wenigen Fabriken“, zitiert Engels-Biograf Tristram Hunt, seien „die Arbeiter so einträglich und regelmäßig beschäftigt“ worden.[16]
Große Teile seiner Überschüsse verwendete er, um das Leben zu genießen und um bis zu seinem Tod „der Familie Marx regelmäßig über die Hälfte seiner Jahreseinkünfte zukommen“ zu lassen. Nach heutigem Wert waren das allein in den 19 Jahren seiner Firmenzugehörigkeit insgesamt bis zu 400.000 Pfund.[17]
Engels engagierte sich also nicht nur selbst anhaltend gegen den Kapitalismus, er finanzierte auch das antikapitalistische Wirken von Marx und versorgte diesen kontinuierlich mit unverzichtbaren Insiderinformationen aus der Arbeitswelt.[18]
Um seiner Mutter belastende Erbschaftsstreitigkeiten zu ersparen, verzichtete Engels 1860 in einer für ihn finanziell „äußerst ungünstigen Regelung“ auf seine Anteile am deutschen Zweig der väterlichen Firma.[19] Ebenso stimmte er einer unvorteilhaften Vereinbarung zu, um sich 1869 ganz aus dem Unternehmen zurückziehen zu können. Die Marx-Tochter Eleanor berichtet: „Ich werde niemals das triumphierende ‚zum letzten Mal‘ vergessen, das er ausrief“, als er sich am Tag seines Ausscheidens ins Geschäft begab. Stunden später kehrte er von dort zurück, schwang „seinen Stock in der Luft und sang und lachte mit dem ganzen Gesicht. Dann tafelten wir festlich und tranken Champagner und waren glücklich“.[20]
Ich konnte nicht herausfinden, ob Engels trotz der permanenten Geschenke an Marx in der Lage war, „sein Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten“ – wozu er ja laut Marx gezwungen gewesen wäre. Dass Kapitalausdehnung für Engels Priorität hatte, bezweifle ich.
Engels mit dem Etikett „personifiziertes“ Kapital versehen, das Wesentliche seiner Persönlichkeit mit „Kapitalseele“ erfassen zu wollen, erscheint mir in jedem Fall grotesk. Seine Aktivitäten als Revolutionär, sozialistischer Publizist und Politiker, als Sponsor, Bearbeiter und Erbeverwalter des Marxschen Werkes, als Begründer des „Marxismus“ waren unvergleichlich wirksamer als sein Mittun im „hündischen Commerce“: Er war ein Kapitalist, der den Kapitalismus weitaus mehr geschwächt als gestärkt hat. Sein Sich-über-die-Verhältnisse-Erheben war kennzeichnender für ihn als sein Agieren in der „Charaktermaske“.
Marx und Engels hatten zudem recht genaue Kenntnis von einem Kapitalisten, der diese Maske sogar komplett ablegte.
Unternehmer, Philanthrop und Kommunist
Der 1771 geborene Robert Owen war ein Paradebeispiel dafür, dass, wie Engels meinte, „das menschliche Herz […] in seinem Egoismus uneigennützig und aufopfernd ist“.[21] Aus einer verschuldeten Handwerkerfamilie stammend, entwickelte sich Owen früh zum „Selfmademan“.[22] 28-jährig übernahm er im schottischen New Lanark die Leitung einer Baumwollspinnerei mit bald über 2.000 Beschäftigten, von denen viele „durch Trunksucht und geschlechtliche Ausschweifungen, durch Diebstahl und Arbeitsscheu, durch Rohheit und Unwissenheit aufgehört hatten, Menschen zu sein“.[23] Owen standen, erzählte er, zwei Wege offen, mit ihnen umzugehen. Der eine wäre gewesen, sie „fortwährend zu tadeln“, viele von ihnen „als Diebe verklagen müssen, sie einsperren, ausweisen, ja zum Tode verurteilen lassen, denn zu dieser Zeit stand auf Diebstahl, in dem von mir entdeckten Umfang, Todesstrafe. Dies war die bisher geübte Praxis der Gesellschaft“. Oder aber, setzte er fort, er betrachtete sie als das, was sie waren: „Geschöpfe törichter und schädlicher Umstände, für die allein die Gesellschaft die Verantwortung trug“.[24]
Um die „Quellen der Übel“ zu beseitigen, reduzierte er die damals übliche Arbeitszeit von bis zu 16 auf 10,5 Stunden, verbot Nachtarbeit, ordnete 30 Minuten Frühstücks- und 60 Minuten Mittagspause an. Die Fabrikräume wurden „hell und luftig gestaltet“, die Wohnverhältnisse verbessert, Gärten angelegt, eine Bibliothek, ein Vortrags- und Tanzsaal gebaut, „für kranke und alte Arbeiter“ eine Versicherung eingeführt, diverse Arbeitsschutzmaßnahmen umgesetzt, wie sie in Großbritannien erst 50 Jahren später zur Regel werden sollten. Um die Verschuldung der Arbeiter abzubauen, ließ Owen einen Laden einrichten, der Waren „ohne Gewinnaufschlag“ verkaufte.[25] Nachdem er 1806 für „vier Monate den vollen Lohn weiterzahlte, obgleich der Betrieb wegen Rohstoffmangels stillag“, hatte er die Beschäftigten endlich auf seiner Seite.[26]
Besonderes Augenmerk richtet Owen auf die Kinder. Waren in New Lanark früher Fünfjährige für die Produktion verschlissen worden, hob er die Altersgrenze auf 10 Jahre an. Er trat in Kontakt mit renommierten Pädagogen wie Heinrich Pestalozzi, richtete für Kinder ab fünf Jahren in „großen, luftigen und gut temperierten Räumen“ eine vorwiegend kostenfreie Beschulung ein, die unter anderem „Schreiben, Rechnen, Lesen, Naturgeschichte, Erdkunde sowie Neue Geschichte“, „Turnen, Tanzen und Musik“ umfasste.
Mit all dem wollte er „charakterbildend“ wirken und „zum eigenen Denken anregen“.[27] Die von ihm ausgewählten Lehrer „sollten Freunde und Gefährten ihrer Schüler sein“, auf Drohungen, Strafen, gar Züchtigungen ebenso verzichten wie auf Belobigungen: „Nicht Strenge, sondern Güte lenkten die Schüler, Grundsätze, die Owen auch in der Erziehung seiner eigenen“ sieben „Kinder befolgte“.[28]
Um New Lanark nach „philanthropischen“ Maßstäben führen zu können, gründete er 1813 eine Gesellschaft, deren gesamter Reingewinn „nach Abzug der Kapitalzinsen für die Erziehung der Kinder und das allgemeine Wohl der Arbeiter verwandt werden“ sollte.[29]
Sowohl Engels als auch Marx bezogen sich seit 1843 mehrfach auf Owen.[30] Engels gestand seinem Fabrikantenkollegen zu, er habe eine aus „größtenteils demoralisierten Elementen sich zusammensetzende Bevölkerung […] in eine Musterkolonie“ umgewandelt: „Und zwar einfach dadurch, daß er die Leute in menschenwürdigere Umstände versetzte und namentlich die heranwachende Generation sorgfältig erziehen ließ.“[31]
Von bedingungsloser Profitmaximierung zu Lasten der Arbeiter, wie sie Marx für zwingend nötig hielt, konnte darum keine Rede sein. Trieb das Owen in den Ruin, ereilte ihn die „Strafe des Untergangs“?[32] Nein: Sein Betrieb „produzierte feines Garn, und zwar mit gutem Erfolg. […] Trotz der großen Ausgaben, die Owen im Interesse seiner Arbeiterschaft tätigte, warf New Lanark einen erheblichen Reingewinn ab“.[33] Markus Elsässer, der die finanziellen Verhältnisse der Firma genauer erforscht hat, bescheinigt ihr eine ungewöhnlich hohe, über 20 Jahre, bis zum Ausstieg Owens andauernde Profitabilität.[34]
Wurde Owen wegen seines sozialen Engagements vom Establishment bekämpft? Engels berichtet: „Solange er als bloßer Philanthrop aufgetreten, hatte er nichts geerntet als Reichtum, Beifall, Ehre und Ruhm. Er war der populärste Mann in Europa. Nicht nur seine Standesgenossen,[35] auch Staatsmänner und Fürsten hörten ihm beifällig zu.“[36] Owen-Biografin Helene Simon ergänzt: „Zwanzig Jahre lang war New Lanark das Entzücken der Tausende seiner Besucher. Darunter Könige und Abgesandte von Königen, hohe geistliche Würdenträger, Städtedeputationen, Parlamentarier und Gelehrte.“[37]
Doch mit alledem, so Engels, „war Owen nicht zufrieden. Die Existenz, die er seinen Arbeitern geschaffen, war in seinen Augen […] noch weit entfernt davon, eine allseitige und rationelle Entwicklung des Charakters und des Verstandes, geschweige eine freie Lebenstätigkeit zu gestatten“. Da die arbeitende Klasse den gesellschaftlichen Reichtum schaffe, gehörten ihr „auch die Früchte. Die neuen, gewaltigen Produktivkräfte […] boten für Owen die Grundlage zu einer gesellschaftlichen Neubildung, und waren dazu bestimmt, als gemeinsames Eigentum aller nur für die gemeinsame Wohlfahrt aller zu arbeiten.“[38]
Da Owen jetzt mit kommunistischen Thesen argumentierte, Privateigentum, Religion und die damalige Form der Ehe attackierte, erntete er andere Reaktionen. Engels schreibt: „Er wußte, was ihm bevorstand, wenn er sie angriff: die allgemeine Ächtung durch die offizielle Gesellschaft, der Verlust seiner ganzen sozialen Stellung. Aber er ließ sich nicht abhalten, sie rücksichtslos anzugreifen, und es geschah, wie er vorhergesehn.“ Wenn Engels dann fortsetzt, Owen sei hinfort „verbannt“ gewesen „aus der offiziellen Gesellschaft, totgeschwiegen von der Presse, verarmt durch fehlgeschlagne kommunistische Versuche in Amerika, in denen er sein ganzes Vermögen geopfert“,[39] malt er jedoch ein falsches Bild.
Owen zog sich ab 1824 aus dem aktiven Management von New Lanark zurück und kaufte in Indiana/ USA die 20.000 Morgen[40] umspannende Siedlung New Harmony. Hier sammelte er drei Jahre lang zunächst positive, ihm insgesamt sehr wertvoll erscheinende Erfahrungen beim Versuch, eine sich selbst verwaltende Gemeinschaft zu entwickeln. Zu diesem Projekt gehörten unter anderem eine unentgeltliche Einheitsschule für Kinder vom dritten bis 16. Lebensjahr und die Gleichstellung der Frau, inklusive Wahlrecht. New Harmony wurde trotz des letztlichen Scheiterns „zur Wurzelstätte der Frauenbewegung, des amerikanischen Sozialismus und der Genossenschaft“.[41]
Owen verlor in den USA vier Fünftel seines „beachtlichen Privatvermögens“,[42] doch sein Optimismus blieb ungebrochen. Zwischen 1826 und 1837 soll er „100 öffentliche Reden gehalten, […] 2000 Zeitungsartikel geschrieben und 300 Reisen gemacht haben“.[43]
1832 startete er in England ein neues Experiment: eine Bank zum direkten Tausch von Arbeitsleistungen und -produkten, als ersten Schritt zu einer „noch radikaleren Umgestaltung der Gesellschaft“.[44] Nach anfänglich intensivem Interesse zahlreicher Kunden stellte sich auch dieser Versuch 1834 als nicht durchhaltbar heraus. Owen verlor erneut einen Teil seines Besitzes, „übertrug den Rest seinen Kindern und behielt für sich nur soviel, wie zur Bestreitung eines bescheidenen Lebensunterhaltes erforderlich war“.[45]
Nachdem auch eine kommunistisch verwaltete Siedlungsgemeinschaft sich nicht realisieren ließ, verlagerte sich Owens Schwerpunkt noch mehr hin zur Öffentlichkeitsarbeit. 1835 – da war er 64 Jahre alt – gründete er die „Assoziation aller Klassen aller Nationen“, die er zu einer „Menschheitsschule zur sozialen Demokratie“ formen wollte. Die dadurch ausgelöste Bewegung soll bis zu 100.000 „erklärte Anhänger“ gehabt und „viel zur Ausbreitung des Sozialismus in England“ beigetragen haben. Bei Reisen, auf denen er diese Idee propagierte, wurde Owen 1837 einmal mehr „von Königen, Ministern und Gesandten empfangen“, erhielt diesmal jedoch keine Unterstützung.[46]
Erst in seinen letzten Jahren zog er sich mehr zurück, gab aber weder seine Hoffnungen noch seine Publikationstätigkeit auf. Eine „bei weitem unvollständige Liste“ seiner Veröffentlichungen enthält 129 Titel, die in bis zu neun Auflagen erschienen, sowie 11 von ihm herausgegebene Periodika.[47]
1858 starb Owen 87-jährig in seinem Geburtsort Newtown. Geistlichen Trost hatte er „mit entschiedener Würde abgelehnt“ und auf die provokante Frage des Pfarrers, ob er „nicht bedauere, sein Leben an fruchtlose Anstrengungen verschwendet zu haben“, soll er geantwortet haben: „Mein Leben war nicht nutzlos. Ich brachte der Welt wichtige Wahrheiten. Und wenn sie ihrer nicht achtete, so, weil sie sie nicht verstand. Ich bin meiner Zeit voraus.“[48]
Den Anspruch von Marx, die Welt nicht nur philosophisch zu interpretieren, sondern sinnvoll zu verändern,[49] hat Owen, der „die Einheit von Theorie und Praxis“ verkörperte,[50] vor Marx konsequent eingelöst.
Dass Owen nachhaltige Wirkungen erzielte, anerkannte auch Engels:
„Alle gesellschaftlichen Bewegungen, alle wirklichen Fortschritte, die in England im Interesse der Arbeiter zustande gekommen, knüpfen sich an den Namen Owen. So setzte er 1819 nach fünfjähriger Anstrengung das erste Gesetz zur Beschränkung der Weiber- und Kinderarbeit in den Fabriken durch. So präsidierte er dem ersten Kongreß, auf dem die Trade-Unions von ganz England sich in eine einzige große Gewerksgenossenschaft vereinigten. So führte er als Übergangsmaßregeln zur vollständig kommunistischen Einrichtung der Gesellschaft einerseits die Kooperativgesellschaften ein […]; andrerseits die Arbeitsbasars, Anstalten zum Austausch von Arbeitsprodukten […].“[51]
Marx rekapitulierte im Kapital:
„Als Robert Owen kurz nach dem ersten Dezennium dieses Jahrhunderts die Notwendigkeit einer Beschränkung des Arbeitstags nicht nur theoretisch vertrat, sondern den Zehnstundentag wirklich in seine Fabrik zu New-Lanark einführte, ward das als kommunistische Utopie verlacht, ganz so wie seine ‚Verbindung von produktiver Arbeit mit Erziehung der Kinder‘, ganz wie die von ihm ins Leben gerufenen Kooperationsgeschäfte der Arbeiter. Heutzutage ist die erste Utopie Fabrikgesetz, die zweite figuriert als offizielle Phrase in allen ‚Factory Acts‘,[52] und die dritte dient sogar schon zum Deckmantel reaktionärer Schwindeleien.“[53]
Halten wir also fest: Das Agieren in der „Charaktermaske“ war, wie Marx bekannt, keinesfalls unausweichlich. Kapitalisten konnten, wie an Engels und Owen ersichtlich, nicht nur innerhalb bestimmter Grenzen, die die Konkurrenz ihnen zog, unterschiedlich agieren. Sie konnten sich, wie Owen, sogar dagegen entscheiden, Kapitalisten zu bleiben. Ihnen drohte dann nicht der Tod, sondern vor allem, nicht mehr so reich zu sein, vielleicht auch, Lohnarbeiter zu werden. Während die Unterdrückten nur mit hohem Risiko aus ihren Verhältnissen heraustreten konnten, galt das nicht für die Unternehmer. Da Letztere über mehr Geld, Zeit, meist auch bessere Gesundheit und Bildung verfügten, war der Einfluss ihrer Interessen, Anschauungen, Ziele, Persönlichkeitsstrukturen und Betätigungen zudem weitaus stärker.
Ohnehin wird niemand als Kapitalist geboren, niemand muss es werden. Es gibt daher immer persönliche Motive, Kapitalist zu werden, zu sein oder es bleiben zu lassen.[54] Das verweist freilich auf etwas, das in die Denkschablone von Marx nicht passte: individuelle Persönlichkeitsstrukturen.[55]
Da alternatives Verhalten möglich ist, gibt es auch bedeutsamen subjektiven Spielraum – und damit etwas, was Marx Unternehmern weitestgehend absprach: persönliche Verantwortung. Während er Kapitalisten einerseits in ungerechtfertigter Pauschalität der schlimmsten Verbrechen beschuldigte, billigte er ihnen andererseits genauso realitätsfern Schuldunfähigkeit zu: als Instrumente „des Kapitals“. Doch Kapitalisten sind in der Regel volljährig, daher moralisch und juristisch verantwortlich für ihr Tun, einschließlich ihrer Verbrechen. Die Argumentation von Marx taugt nicht zur Begründung „mildernder Umstände“.
Aber war es nicht verständlich, dass jemand gern als Kapitalist materiell gesichert, komfortabel leben wollte? Gegenfrage: Welcher Preis war dafür zu entrichten?
*
Weiterlesen in Teil 4: Die Lage der arbeitenden Klasse, leere Köpfe und menschenschaffende Arbeit
Quellenverzeichnis.
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Anmerkungen
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Spartacus. Marx schrieb, nachdem er einen Roman über Spartakus gelesen hatte, dieser erscheine „als der famoseste Kerl, den die ganze antike Geschichte aufzuweisen hat. Großer General […], nobler Charakter, real representative des antiken Proletariats“ (Marx/ Engels 1974, S. 160).
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Pariser_Kommune
[3] Marx 1962b, S. 357. Das Wort „Charaktermaske“ oder eine Auseinandersetzung damit taucht nicht auf in dieser Schrift.
[4] Marx/ Engels 1972b, S. 472.
[5] Marx/ Engels, 1975, S. 192f.
[6] Hunt 2021, S. 42–57.
[7] Marx/ Engels 1962.
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Pf%C3%A4lzischer_Aufstand
[9] Hunt 2021, S. 258f. Ähnlich dargestellt in Neffe 2017, S. 367–370, 382–386.
[10] Marx/ Engels 1965, S. 293.
[11] Kuczynski 2020.
[12] Hunt (2021, S. 16) beschreibt auch die Seiten von Engels als „Mann, der an Fuchsjagden teilnahm, […] Frauenhelden und Champagner schlürfenden Kapitalisten“. Vielleicht hatte Marx (1963, S. 470) Engels im Kopf, als er betonte, er betrachte den Kapitalisten „nicht als kapitalistischen Konsumenten und Lebemann“.
[13] Kuczynski 2020.
[14] Marx/ Engels 1967a, S. 444.
[15] Krätke 2020, S. 23.
[16] Hunt 2021, S. 256.
[17] Ebd., S. 258.
[18] Ebd., S. 268f.
[19] Ebd., S. 284f.
[20] Zitiert ebd., S. 319f.
[21] Marx/ Engels 1975, S. 252.
[22] Zahn 1989, S. 18f.
[23] Aus einem Artikel über Owen zitiert in Schultz 1948, S. 14.
[24] Zitiert in Simon 1925, S. 37.
[25] Alle Angaben und Zitate in Schultz 1948, S. 14–16.
[26] Ebd., S. 15, ebenso Engels 1962a, S. 244.
[27] Schultz 1948, S. 16–18.
[28] Ebd., S. 18. Ausführlich zu „Robert Owen als Erzieher“: Elsässer 1984, S. 216–238.
[29] Simon 1925, S. 63.
[30] Siehe https://aaap.be/Pages/Transition-de-Robert-Owen.html.
[31] Engels 1962a, S. 244.
[32] Marx 1983a, S. 255.
[33] Schultz 1948, S. 20.
[34] Elsässer 1984, S. 63–67.
[35] Simon (1925, S. 61f.) schildert allerdings auch Widerstände von Owens Teilhabern.
[36] Engels 1962a, S. 245.
[37] Simon 1925, S. 66.
[38] Engels 1962a, S. 245.
[39] Ebd.
[40] 80 Millionen Quadratmeter (Elsässer 1984, S. 90).
[41] Simon 1925, S. 199.
[42] Elsässer 1984, S. 91.
[43] Schultz 1949, S. 56.
[44] Ebd., S. 52.
[45] Ebd., S. 53.
[46] Ebd., S. 61f.
[47] Zahn 1989, S. 18.
[48] Schultz 1948, S. 65.
[49] „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern“ (Marx/ Engels 1978, S. 7).
[50] Zahn 1989, S. 59.
[51] Engels 1962a, S. 245f.
[52] Vom britischen Parlament beschlossene Gesetze zur Regelung industrieller Arbeit.
[53] Marx 2021, S. 317, Fn 191.
[54] Eine Stelle im ersten Kapital-Band (ebd., S. 591) wirkt, als hätte es Marx ähnlich gesehen: „Die ökonomische Charaktermaske des Kapitalisten hängt nur dadurch an einem Menschen fest, daß sein Geld fortwährend als Kapital funktioniert.“
[55] Für Owen beschreibt Simon (1925) diese Strukturen insbesondere auf S. 13–52, in Bezug auf Engels ziehen sich Hinweise darauf durch die gesamte Biografie von Hunt (2021). In Owens Erfolge hineinspielende wirtschaftliche Rahmenbedingungen und seine speziellen geschäftlichen Vorgehensweisen hat Elsässer (1984, S. 46–88) detailliert erfasst.