Unpolitische Wissenschaft? Vorwort zur dritten und erweiterten Auflage 2017

von Andreas Peglau

Die Vorarbeiten zu diesem Buch begannen 2007, im Jahr von Wilhelm Reichs 110. Geburts- und 50. Todestag. An Reichs Berliner Wohnhaus – das mit Fug und Recht als »Geburtshaus der Körperpsychotherapie« angesehen werden kann – wurde damals eine Gedenktafel eingeweiht.

Schlangenbader Straße 87 in Berlin-Wilmersdorf, der Wohnort von Wilhelm und Annie Reich mit ihrem Töchtern Eva und Lore. Das von Gudrun Peters aufgenommene Foto entstand 2007 bei der Gedenktafel-Einweihung. Linkes sitzened: Lore Rubin-Reich, rechts daneben Regine Lockot, Andreas Peglau.

Lore Rubin Reich (ganz links) bei der Einweihung der Gedenktafel für Wilhelm und Annie Reich am 23. Juni 2007 (Foto: Gudrun Peters).

Dabei kam ich mit Lore Rubin Reich, Psychoanalytikerin und jüngere Tochter Reichs, in Kontakt, was sowohl einen lebendigen Austausch als auch eine Verabredung zum Theaterbesuch nach sich zog. Denn in der Probebühne der Staatsoper wurde gerade – glückliche Fügung! – ein 1946 entstandener Text ihres Vaters in dramatisierter Fassung gegeben: Rede an den kleinen Mann. Vor Veranstaltungsbeginn zeigte ich Lore Rubin Reich den vom Aufführungsort nur wenige hundert Meter entfernten Bebelplatz gegenüber der Humboldt-Universität: Hier wurden am 10. Mai 1933 tausende mit nationalsozialistischen Auffassungen unvereinbare Schriften verbrannt. Nur vier den Initiatoren der Vernichtungsaktion offenbar besonders verhasste Psychoanalytiker waren, soweit bekannt, davon betroffen. Lore Rubin Reichs Vater war einer von ihnen.

Dieses Zusammentreffen verstärkte meinen Wunsch, zu erfahren, wie überhaupt im faschistischen Deutschland mit analytischen Schriften umgegangen wurde. Erstaunlicherweise lagen dazu jedoch keine gründlichen Ausarbeitungen vor. Ich entschloss mich, selbst zu recherchieren – ohne zu ahnen, dass daraus eine siebenjährige Suche in unzähligen Dokumenten, diversen Archiven und Institutionen werden sollte, bei der sich die zu beantwortenden Fragen immer mehr ausweiteten. Was ich dabei entdeckte, widersprach vielfach meinen Erwartungen.

Der pauschale Vernichtungswille, der sich bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 noch demonstrativ in einem eigenen »Feuerspruch« für die »Freud’sche Schule« artikuliert hatte, wurde von der NS-Administration nicht umgesetzt. Entgegen tradierter Behauptungen unterlag die Psychoanalyse im Hitler-Staat keiner umfassenden Unterdrückung, sondern fand, von Sozialkritik »bereinigt«, weitgehende Anerkennung im Gesundheitswesen, wurde später zur Aufrechterhaltung der »Wehrbereitschaft« und für die psychologische Kriegsführung genutzt. Nur ein kleiner Teil der psychoanalytischen Literatur war im »Dritten Reich« verboten; kein einziger Analytiker wurde verfolgt, weil er Analytiker war. In den tausenden psychoanalytischen Publikationen, die weltweit zwischen 1933 und 1940 erschienen, wurde der Faschismus so gut wie gar nicht thematisiert, ab 1941 gab es vereinzelte Gegenbeispiele. Wo ich mit Konfrontation gerechnet hatte, fand ich im Wesentlichen Anpassung, Schweigen, Kollaboration.

Der einzige Psychoanalytiker, der vor 1941 öffentlich eine Psychoanalyse des Faschismus und gegen den Faschismus betrieb, war Wilhelm Reich – der nicht zuletzt wegen seines antifaschistischen Engagements von der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung zunehmend geächtet wurde.

Während ich mühsam begriff, in welchem Umfang ich die real existierende Psychoanalyse idealisiert hatte, wuchs mein Respekt für Reich. In der psychoanalytischen Geschichtsschreibung meist totgeschwiegen, diffamiert oder zumindest marginalisiert, war er in Wirklichkeit einer der bekanntesten Psychoanalytiker – und ist einer der wichtigsten geblieben. Neben Erich Fromm hat er den sozialkritischen Gehalt der Freud’schen Theorie am konsequentesten und ertragreichsten weiterentwickelt, mit der Originalfassung seiner Massenpsychologie des Faschismus 1933 eines der bedeutsamsten psychoanalytischen Werke verfasst, das je erschienen ist.

Heute, da von einem europäischen »Rechtsruck« gesprochen werden muss, sich in Deutschland per AfD und PEGIDA eine »enthemmte Mitte« (Decker et al. 2016) immer lauter artikuliert, nimmt die Brisanz dieser Schrift wieder zu. Reich mithilfe meines Buches ein Stück seiner verdienten Popularität zurückzugeben, sollte daher, so hoffte ich, auch dazu beitragen, dass sich die Psychoanalyse endlich wieder ihrer gesellschaftlichen Verantwortung besinnt und ihr vorgeblich »unpolitisches« Image aufgibt: eine dringende Forderung in einer Welt, in der sich unverstandene psychosoziale Konflikte zwischen Menschengruppen und Völkern häufen.

Zu Reichs 120. Geburtstag am 24. März 2017 erscheint Unpolitische Wissenschaft? nun in dritter Auflage. Hat sich zehn Jahre nach dem Zusammentreffen mit Lore Rubin Reich und vier Jahre nach Veröffentlichung der Erstauflage tatsächlich etwas geändert in der Bewertung Wilhelm Reichs?
Ich denke: ja. Nicht nur haben zwei bereits verkaufte Auflagen interessierte Leserinnen und Leser gefunden, ich hatte auch Gelegenheit, wesentliche Inhalte des Buches in diversen Artikeln, Vorträgen und Diskussionen darzustellen sowie durch zusätzliche Forschungsergebnisse auf meiner Internetseite zu ergänzen. Zudem gab es eine ganze Reihe positiver Rezensionen in wichtigen deutschen Psychoanalyse-Periodika sowie in anderen Zeitschriften und Zeitungen.
Deshalb ist wohl die folgende Einschätzung nicht übertrieben: Wilhelm Reich ist wieder deutlich fester in der Historiografie der Psychoanalyse verankert. Insbesondere wer zu den Entwicklungen bis 1934 seriöse Forschung betreiben will, wird unweigerlich auf ihn stoßen. Wer ihn ausspart, kann die Geschichte der Freud’schen Lehre ohnehin nicht schlüssig erzählen.

Dieser Erfolg ist freilich nicht damit gleichzusetzen, dass Reich wieder den gebührenden Platz in Theorie und Praxis der Psychoanalyse eingenommen hätte. Ich kann bislang wenig Anzeichen dafür entdecken, dass sich der analytische »Hauptstrom« der Herausforderung (und Chance!) stellen wollte, die eine Re-Integration Reichs mit sich brächte.[1]

Viele Einsichten Wilhelm Reichs sind jedoch über den Rahmen der Psychoanalyse hinaus bedeutsam.[2] Wer die wachsende Ausländerfeindlichkeit in Deutschland und die zunehmende Destruktivität in den internationalen Beziehungen begreifen will, findet bei ihm Erklärungen, die weit über das hinausgehen, was üblicherweise in der Tiefenpsychologie oder andernorts dazu angeboten wird.[3] Wer nach sinnvollen Alternativen, nach einem realitätsnahen Menschen- und Weltbild als Basis für ein friedliches Miteinander sucht, wird ebenfalls fündig. Insbesondere jene Sätze, die Reich im Nachwort zur zweiten Auflage seiner Massenpsychologie formulierte, halte ich für einen Schlüssel nachhaltiger psychosozialer Umwälzungen:

»Versucht man die Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann« (Reich 1934b, S. 283).

Aber auch wer wissen will, welche Erfahrungen ein anderer bei dem Versuch gemacht hat, gegen den Druck entfremdender Normen, repressiver Institutionen und autoritärer Sozialstrukturen eigene Wege zu gehen, sich nicht zu verlieren in einer Welt, die es schwer macht, authentisch zu sein, kann von der Auseinandersetzung mit Wilhelm Reich profitieren.

In dieser dritten Auflage war es nun möglich, in größerem Umfang einzuarbeiten, was sich seit 2013 an ergänzenden Informationen und Korrekturen ergeben hat. Erfreulicherweise war nur eine erwähnenswerte Streichung vorzunehmen.[4] Hinzugekommen sind dagegen zahlreiche, oft auf neuen Dokumentenfunden beruhende Details und Präzisierungen. Das Bild der unauflöslichen Beziehung zwischen Psychoanalyse und Politik hat zusätzliche Facetten bekommen.

Auch bei der Arbeit an dieser dritten Auflage habe ich vielfältige Unterstützung und wertvolle Anregungen erhalten.
Ich danke insbesondere Werner Abel, Jairus Banaji, Philip Bennett, Hanna Eggerath, Karl Fallend, Bastian Fleermann, Florian Fossel, Winfried R. Garscha, Gerhard Hanloser, Gabriella Hauch, Hans Hautmann, Bert Hoppe, Galina Hristeva, Mario Keßler, Bernd A. Laska, Benedikt Mauer, Anne Mommertz, Knuth Müller, Ulrike May, Dieter Nelles, Gudrun Peters, Ute Räuber, Karl Heinz Roth, Hartmut Rübner, Detlef Siegfried und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Psychosozial-Verlags.

Andreas Peglau, Berlin im März 2017

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Anmerkungen

[1] Dass ich meine Forschungsergebnisse 2014 der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und 2015 auf der Frühjahrstagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung vorstellen konnte oder dass die Psyche ein ausführliches Essay abdruckte, in dem Bernd Nitzschke sich anerkennend zu meinem Buch äußerte (Nitzschke, Bernd: Wilhelm Reich und der Nationalsozialismus: die Geschichte der Psychoanalyse einmal anders betrachtet, Psyche 2014, Jg. 68, Heft 2, S. 162–175), lässt sich allerdings schon als positive Reaktionen dieses »Hauptstroms« einordnen. Die spannende Frage ist, ob daraus noch etwas folgt.

[2] Daher war ich sehr erfreut, als mich Samuel Salzborn 2013 bat, in dem von ihm herausgegebenen Band 100 Klassiker der Sozialwissenschaften Reichs Massenpsychologie des Faschismus zu portraitieren (Peglau 2016a). Dass Kurt Pätzold (2015) einige wichtige Stellen aus Reichs Büchern in seine Sammlung von »Faschismusdiagnosen« aufnahm, nährt die Hoffnung, Reich könnte auch unter »Linken« endlich wieder mehr Aufmerksamkeit gezollt werden, ebenso, dass ich 2015 eingeladen wurde, über Reich auf der Internationalen Willi-Münzenberg-Konferenz in Berlin zu sprechen (Peglau i.V.).

[3] Siehe dazu auch Andreas Peglau: Anregungen zu einer Psychoanalyse des europäischen »Rechtsrucks«, andreas-peglau-psychoanalyse.de/anregungen-zu-einer-psychoanalysedes-europaeischen-rechtsrucks/#more-281.

[4] Ernst Bornemanns Mitteilungen zu Reich müssen mittlerweile als Erfindung gelten, sie tauchen daher nur noch in Fußnoten auf.

 

Tipp zum Weiterlesen:

„Unpolitische Wissenschaft?“ Rezensionen

Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Eine Kurzfassung