Eine “unerfüllbare Forderung” an die “Gesetzgeberin des Philosophierens”. Die erste öffentliche Weltanschauungsdebatte der Psychoanalytiker

von Andreas Peglau

1983 berichtete Helmut Dahmer in der Psyche von Publikationen, die Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre zur Identität der Psychoanalyse Stellung nahmen. Kernpunkte waren auf der einen Seite Wilhelm Reichs Plädoyers für eine Annäherung von Psychoanalyse und Marxismus, auf der anderen die Betonung des naturwissenschaftlich-objektiven, daher „unpolitischen“ Charakters der Analyse sowie die Distanzierung von „linker“ Psychoanalyseauslegung und Bolschewismus. Dahmer wies auch darauf hin, dass es Vergleichbares schon „am Vorabend des ersten Weltkriegs“ gegeben habe, „in Gestalt einer Erörterung des Verhältnisses von Psychoanalyse und Philosophie“ (Dahmer 1983, S. 1133). Auch diese frühere Kontroverse ist der Betrachtung wert.  Vom 20.-22. September 1911 versammelten sich 55 der damals 106 Mitglieder der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) im Weimarer Hotel „Erbprinz“ zu ihrem dritten Kongress. Unter ihnen befanden sich die meisten wichtigen Analytiker der ersten Generation: Abraham, Brill, Eitingon, Federn, Ferenczi, Freud, Hitschmann, Jones, Jung, Pfister, Putnam, Rank, Sachs, Stekel. Eugen Bleuler und Ludwig Binswanger. Lou Andreas-Salomé war erstmals zugegen.

Franz Vältl: Kongressfoto 1911, zur Verfügung gestellt von Michael Schröter. Philosophie

Franz Vältl: Kongressfoto 1911, Kopie von Michael Schröter nach einem Originalabzug von Tina Joos-Bleuler.

Am Morgen des 21. September begannen die Referate. Und gleich der erste Redner, James Jackson Putnam, 64-jähriger Harvard-Professor, Neurologe von internationalem Rang und Präsident der neugegründeten US-amerikanischen Analytikervereinigung, sollte die erwähnte Kontroverse anstoßen.

James Jackson Putnam Philosophie

James Jackson Putnam

Weil sein Besuch, der den Durchbruch der Analyse in den USA signalisierte, als „Höhepunkt des Kongresses“ galt (Jones 1984, S. 109), wurde ihm das Eröffnungsreferat angetragen. Diesem gab Putnam den Titel: „Über die Bedeutung der Philosophie für die weitere Entwicklung der Psychoanalyse“. Er nutzte die Gelegenheit, neben positiver Wertschätzung auch Kritik an der Freudschen Lehre anzubringen, die ihn seit längerem bewegte (Hale 1971, S. 117-119). Aus seinem facettenreichen, 1912 als 16-seitiger Beitrag in der Zeitschrift Imago veröffentlichten Text werde ich im Folgenden nur die Thesen nennen, die in direktem Zusammenhang mit meinem Thema stehen.

Putnam konstatierte, der Mensch sei „in allererster Linie ein geistiges Wesen“. Dies lasse sich aber mit der für die Psychoanalyse üblichen „biogenetischen“ Methode, laut der sich – analog zur Biologie – aus einfacheren früheren spätere komplexere Formen entwickeln, nicht hinreichend ergründen. Der Blick zurück, in die Kindheit, sei unzureichend. Nur der Inhalt dessen, womit sich der menschliche Geist befasse, wachse mit den Lebensjahren und werde komplexer – das, aber eben auch nur das, erforsche die biogenetische Methode. Der Geist sei auch keine „bloße Funktion des Gehirns“, wie die meisten sich Naturforscher nennenden Wissenschaftler behaupteten, sondern a priori vorhanden, gehe „der körperlichen Entwicklung voran“, könne deshalb kein „Endresultat anderweitiger, in der körperlichen Entwicklung primär vorkommender Kräfte“ sein (Putnam 2012a, S. 104-5-106).

Es waren nicht Putnams bloße Privatansichten, die er präsentierte: Die Reihe der Denker, auf die er sich berief, wurde angeführt von Hegel und Henri Bergson. Manches Gesagte lässt zudem an die heutige Diskussion über die Vereinbarkeit von Psychoanalyse und Neurobiologie denken. Aber wie immer man zu Putnams Thesen steht: In jedem Fall berührte er hier einen wichtigen Punkt, nämlich das „scientistische Selbstmissverständnis“ der Psychoanalyse als angeblicher Naturwissenschaft (Dahmer 2012). Um sich dem Geist als „selbsttätige Kraft“ anzunähern, genüge, so Putnam weiter, die „gewöhnliche psychologische Ausbildung“ nicht. Die Psychoanalytiker, die doch „nicht mehr bloße Therapeuten, sondern Seelenkenner im edelsten und weitesten Sinne“ werden wollten, bräuchten vielmehr auch jenes Wissen, dass die Philosophen seit langer Zeit anhäuften (ebd., S. 107). Doch dazu

„müssen wir uns entschließen, uns zu Gunsten dieser oder jener Weltanschauung auszusprechen. Unsere bisherige Stellung in dieser Hinsicht ist eine negative gewesen. Man hat sich keiner solchen Anschauung angeschlossen, aber auch keiner gegenüber eine besondere Ablehnung zeigen wollen. Tatsächlich aber legen die psychoanalytischen Schriften im Allgemeinen seitens ihrer Verfasser Zeugnis ab von Ansichten, die keineswegs tendenzlos sind“ (ebd., S. 108).

Der „seitens vieler Naturforscher sowie auch mancher Psychoanalytiker bekundete Mangel an Bereitwilligkeit, sich irgendeiner allgemeinen Weltanschauung anzuschließen“, beruhe, so Putnam, auf einem „Widerstand, im psychoanalytischen Sinne“: Einer „störenden“ – ich denke, gemeint war: konkurrierenden – „Beweisführung schenkt man eben nicht gern seine Aufmerksamkeit“ (ebd., S. 112).

Wie bewerteten die Analytiker Putnams Herausforderung?
In seiner Freud-Biografie teilt Ernest Jones mit, alle zwölf Referate des Weimarer Kongresses hätten „auf hohem Niveau“ gestanden (Jones 1984, S. 109). Damit brachte Jones aber wohl weder seine eigene, schon gar nicht Freuds ehrliche Meinung zum Ausdruck.

Freud 1911 PhilosophieLetzterer äußerte sich ohnehin über mehrere Kongressvorträge recht herablassend (Peglau/Schröter 2013, S. 140-146), am abfälligsten tat er das jedoch in Bezug auf Putnam.
Zu dessen, ihm in Grundzügen vorab mitgeteilten Referat schrieb Freud an Jung, es „ist nichts wert, aber […] wird sich als Verzierung gut machen“ (Freud/Jung 1974, S. 488). Laut Jones ergänzte Freud später: „Putnams Philosophie kommt mir wie ein sehr dekorativer Tafelaufsatz vor; jeder bewundert ihn, aber niemand rührt ihn an“. Und vom Weimarer Treffen berichtet Jones: Putnams

„stärkstes Anliegen, die Einführung der Philosophie in die Psychoanalyse […], fand nicht sehr viel Beifall. Die meisten von uns sahen nicht die Notwendigkeit, irgendein bestimmtes System anzunehmen“ (Jones 1984, S. 109-110).

An Putnam selbst, der wegen seines Renommees und seiner Position in der US-amerikanischen Psychoanalyse wichtig war, sandte Freud weit positivere aber offenkundig unwahre Rückmeldungen: Der Vortrag habe auf ihn „bedeutend gewirkt“, der aus dem Vortrag entstandene Imago-Artikel habe „viel Beifall gefunden“. Allerdings werde Ferenczi diesen Artikel zum Anlass einer Entgegnung nehmen, „in welcher unser bescheidener Standpunkt vertreten werden soll“ (Hale 1971, S. 364-366).

Die Formulierung „unser Standpunkt“ deutet darauf hin, dass Ferenczis, von Freud ohnehin gebilligte Replik (Freud/Ferenczi 1993 S. 102), im Wesentlichen auch Freuds damals aktueller Haltung entsprach. Ferenczi 1911 PhilosophieIn dieser, ebenfalls in der Imago erscheinenden Erwiderung gab Ferenczi mehrere Begründungen an, warum sich die Psychoanalyse keiner philosophischen Anschauung „unterordnen oder in diese einordnen“ dürfe. Zunächst habe die Analyse ja weiterhin die Aufgabe, „voraussetzungslos Tatsachen zu sammeln“. Darüber hinaus sei sie

„verpflichtet, jede Art seelischer Leistung, die Philosophieen nicht ausgenommen, auf ihre Entstehungsbedingungen zu untersuchen und zu trachten, den sonst im Psychischen herrschenden Gesetzmäßigkeiten auch in ihnen Geltung zu verschaffen.“

Damit sei sie „Gesetzgeberin des Philosophierens“, müsse „Richterin auch über die Philosophie“ sein. Philosophien seien zudem, „wie die Religionen: Kunstwerke, Dichtungen, die gewiß eine Menge großartiger Ahnungen in sich bergen […]. Aber sie gehören in eine andere Kategorie als die Wissenschaft“. Denn von Letzterer gebe es „nur eine, Philosophien und Religionen gibt es aber so viele, als es mit verschiedenen Geistes- und Gemütsrichtungen begabte Menschen gibt“.
Und schließlich sei die Bindung der Analyse an eine bestimmte Weltanschauung auch deshalb unmöglich, da sich „die Tatsachen der Psychoanalyse in jedes materialistische oder spiritualistische, monistische oder dualistische System einverleiben“ ließen (Ferenczi 1912, S. 520-522).
Eine weit kürzere, nicht über Ferenczi hinausgehende Replik veröffentlichte auch Theodor Reik im Zentralblatt für Psychoanalyse (Reik 1913). Putnam schrieb Erwiderungen auf Ferenczi und Reik (Putnam 1912b; 1913), in denen er seine Weimarer Ausführungen variierte.

Doch damit war die Diskussion nicht beendet. 1914 empfand es Freud als notwendig, in seiner Geschichte der psychoanalytischen Bewegung Putnams „unerfüllbare Forderung“, dass sich die Psychoanalyse „in den Dienst einer bestimmten sittlich-philosophischen Weltanschauung finden sollte“, doch noch einmal öffentlich zurückzuweisen (Freud 1914, S. 71).

Wie so oft begab sich Freud damit in Widerspruch zu sich selbst, ohne dies kenntlich zu machen. 1910, nur ein Jahr vor dem Weimarer Kongress, hatte er Alfred Adler gebeten, er möge beim nächsten psychoanalytischen Kongress

»die Frage […] erörtern, ob die P(sycho) A(nalyse) mit jeder Weltanschauung verträglich ist, oder ob sie nicht vielmehr zu einer ganz bestimmten freiheitlichen, in Erziehung, Staat und Religion reformatorischen drängt, die notwendiger Weise die Anhänger der P(sycho) A(nalyse) zum Anschlusse an eine gewisse Partei im praktischen Leben auffordert« (zitiert in Falzeder 2010, S. 1120f.).

Da Adler sozialistischen Ideen anhing und gute Kontakte zur österreichischen Sozialdemokratie hatte (Reichmayr 1994, S. 23), ist auch klar, dass es sich bei der Weltanschauung, mit der Freud zu diesem Zeitpunkt liebäugelte, um eine sozialistische handelte – wie sie ja ohnehin von vielen frühen Wiener Analytikern vertreten wurde.
Dergleichen wies man nun, auf und nach dem Weimarer Kongress also offiziell weit von sich.

Die stattdessen jetzt von Freud, Ferenczi, Reik, wohl auch Jones vertretene Haltung lässt sich so zusammenfassen:

Auf der einen, übergeordneten Seite stehen Psychoanalyse, (Natur-)Wissenschaft, objektive Tatsachen, tendenzlose Forschung, kurz: die Wahrheit – auf der anderen Seite subjektive, quasireligiöse Spekulationen gemütsgesteuerter Philosophen, denen man sich am besten annähere, indem man sie psychoanalysiere.

Auch das war natürlich eine mögliche Begründung dafür, Denkansätze zu ignorieren, die – wie der von Marx und Engels – manche Aspekte menschlichen Lebens weit tiefgründiger ausloteten als Freud. Gerade gegenüber dem Marxismus scheint es mir jedoch – trotz all seiner Begrenzungen – besonders realitätsfern, ihn auf eine „ahnungsvolle Dichtung“ reduzieren zu wollen.
Besser passt dieses Etikett auf manche psychoanalytische Schrift, einschließlich weiter Teile von Totem und Tabu (vgl. Lohmann/Pfeiffer 2006, S. 169f.), über dessen Inhalt Freud 1911 in Weimar erstmals öffentlich Andeutungen machte. Nichtsdestotrotz scheint Freud diese Sichtweise beibehalten zu haben. In einem Brief an Siegfried Bernfeld vom 22.5.1932 fasste er seine »Grundeinstellung zum Marxismus« so zusammen:

»a) Der theoretische Marxismus ist eine Theorie von Dingen, mit denen sich die PsA noch nicht befasst hat; sie kann ihn also derzeit nicht ersetzen.

b) Es besteht kein Hindernis, das der PsA den Fortschritt auf das jetzt vom Marx[ismus] umfasste Gebiet unmöglich machen kann. […]

c) Für den theoret[ischen] Marx[ismus] besteht eine solche Entwickl[un]gs- und Ausbreitungsfähigkeit nicht« (Freud 2012, S. 220).

Der Marxismus könne also die Psychoanalyse nie ersetzen – umgekehrt durchaus.

Noch einen zweiten Punkt in Ferenczis, wahrscheinlich also auch in Freuds Haltung von 1911/12 empfinde ich als unerfreulich: den Stolz über die angeblich beliebige Passung zwischen Psychoanalyse und jedweder Weltanschauung. Gobineau hatte da längst seinen Essay über die Ungleichheit der Menschenrassen veröffentlicht, Chamberlain die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, Helena Blavatsky die Theosophie inklusive ihrer Vorliebe für „arische Wurzelrassen“ verbreitet.
Ferenczis Befriedigung über die pauschale Verwendbarkeit der Psychoanalyse war also bereits zu dem Zeitpunkt befremdlich, als sie geäußert wurde.

Zwei Jahrzehnte später sollte dieses sich festigende Selbstbild der Analyse dazu beitragen, weite Teile der Freudschen Schöpfung dem nationalsozialistischen System einzuverleiben (Peglau 2013, S. 319-383).

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Literatur:

Dahmer, Helmut (1983): Kapitulation vor der »Weltanschauung«. Zu einem Aufsatz von Carl Müller-Braunschweig aus dem Herbst 1933, Psyche Jg. 37, H. 12, S. 1116–1135.

Dahmer, Helmut (2012): Die unnatürliche Wissenschaft. Soziologische Freud-Lektüren, Münster, S. 111–125.

Falzeder, Ernst (2010): Die Gründungsgeschichte der IPV und der Berliner Ortsgruppe, Psyche, Jg. 64, S. 1110–1133.

Ferenczi, Sándor (1912): Philosophie und Psychoanalyse, Imago 5/1912, S. 519-526.

Freud, Sigmund (1914): Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, in: ders., GW, Bd. 10, Frankfurt a. M., S. 43-113.

Freud, Sigmund (1933): Neue Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in ders.: GW Bd. 15, Frankfurt/M.

Freud, Sigmund (2012): Briefe an Siegfried Bernfeld, hg. von A. Peglau/M. Schröter, Luzifer-Amor, Jg. 25, H. 50, S. 112–121.

Freud, Sigmund/Ferenczi, Sándor (1993): Briefwechsel 1911–1916, Bd. I/2, hg. von E. Brabant/E. Falzeder/P. Giampieri-Deutsch, Wien/Köln/Weimar.

Freud, Sigmund/ Jung, C. G. (1974.): Briefwechsel, hg. von W. McGuire/W. Sauerländer. Frankfurt a. M..

Hale, Nathan G., Jr. (Hg.) (1971): James Jackson Putnam and Psychoanalysis: Letters Between Putnam and Sigmund Freud, E. Jones, Etc.: Letters, 1877-1917, Cambridge.

Jones, Ernest (1984): Sigmund Freud. Leben und Werk, Bd. 2, München.

Lohmann, Hans-Martin/Pfeiffer, Joachim (Hg.) (2006): Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar: Metzler.

Peglau, Andreas (2013): Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Gießen.

Peglau, Andreas/Schröter, Michael (2013): Relative Ruhe nach und vor dem Sturm. Der III. Psychoanalytische Kongress in Weimar, Luzifer-Amor, Jg. 26, H. 52, S. 126-157.

Putnam (1912a): Über die Bedeutung philosophischer Anschauungen und Ausbildung für die weitere Entwicklung der psychoanalytischen Bewegung, Imago 2/1912, S. 108-118.

Putnam (1912b): Antwort auf die Erwiderung des Herrn Dr. Ferenczi, in Imago 5/1912, S. 527-520.

Putnam (1913): Eine Erwiderung auf die Kritik von Dr. Otto [sic] Reik, Zentralblatt für Psychoanalyse 6/7/1913, S. 265-269.

Reichmayr, Johannes (1994) [1990]: Spurensuche in der Geschichte der Psychoanalyse, Frankfurt/M..

Reik, Theodor (1913): James Putnam: Über die Bedeutung philosophischer Anschauungen und Ausbildung für die weitere Entwicklung der psychoanalytischen Bewegung, Zentralblatt für Psychoanalyse 1/1913,

Gesamter Text erstmals veröffentlicht in Werkblatt. Psychoanalytische Gesellschaftskritik Nr. 72, Heft 1/31. Jg. 2014: http://www.werkblatt.at/text/Peglau%20_unerfuellbare%20Forderung_.pdf

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Wie funktioniert politische Psychoanalyse? Zur Bedeutung Ernst Federns