„Vergeßt das Unbewußte nicht!“ Die Neue deutsche Seelenheilkunde (Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Teil 5)

von Andreas Peglau

Hitler und Freud 1937

»An der Wand des Institutes hinge nun wieder das Bild Freuds; allerdings neben dem Bild des Führers«. Diese – unten zitierte – Mitteilung von 1937 hat mich während der Arbeit an „Unpolitische Wissenschaft?“ zu dieser Montage inspiriert – A.P.

Der „Reichsführer“ der Psychotherapie

Matthias Heinrich Göring (1879–1945) war einer derjenigen, die nach der NS-Machtübernahme zu unerwarteter Macht gelangten. Vermutlich gab es im Dritten Reich niemanden, der auf den Umgang mit der Psychoanalyse mehr direkten Einfluss nahm als er.Göring, Nervenarzt und »Adlerianer«, war im Sommer 1933 Vorsitzender der neu gegründeten Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie geworden – nicht zuletzt, weil die hier maßgeblichen Ärzte Hoffnungen in Görings verwandtschaftliche Beziehungen setzten. Diese aktivierte er auch umgehend, indem er im Herbst 1933 bei einem Treffen »mit [m]einem Vetter Hermann die Lage der Psychotherapie besprach«, wobei Hermann Göring, damals unter anderem preußischer Ministerpräsident, sich angeblich »sehr für die Psychotherapie einsetzte« (BA Koblenz, Kleine Erwerbungen, Nr. 762–2). Auch ansonsten hielt M.H. Göring privat und beruflich Kontakt zu seinem mächtigen Verwandten (Lockot 2002, S. 85).

Zwei Jahre später verschaffte die Gründung des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie (DIPFP), später oft als »Göring-Institut« bezeichnet, M. H. Göring die Basis, um der von ihm angestrebten »neuen deutschen Seelenheilkunde« näherzukommen.

Das „Göring-Institut“

Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) übernahmen hier von Anfang an wichtige Funktionen, DPG-Chef Felix Boehm Vorstandsmitglied (Schröter 2010, S. 1144–1150; Boehm 1978, S. 304). »Ohne die Psychoanalytiker«, konstatiert Dierk Juelich (1991, S. 91), »hätte die Psychotherapie während des Nationalsozialismus im ›Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie‹ nicht die eminent wichtige Bedeutung erhalten, wie es der Fall war«.

Die offizielle Gründung des DIPFP erfolgte am 14.6.1936 (Boehm 1978, S. 303f.). Michael Schröter beschreibt, wie auffällig das Institut

»im Organisatorischen an die freudianische Tradition anknüpfte. Es übernahm vom Berliner Psychoanalytischen Institut nicht nur die Räume mitsamt Bibliothek, die Poliklinik und den Dreiklang von Vorlesungen/Seminaren, Lehranalyse und Supervision, sondern auch das Prinzip einer Psychotherapeutenausbildung außerhalb der Universität« (Schröter 2001, S. 734).

Bereits 1937 konnte Felix Boehm intern mitteilen: »An der Wand des Institutes hinge nun wieder das Bild Freuds; allerdings neben dem Bild des Führers, das er aufzuhängen gezwungen war« (Fenichel 1998, Bd. 1, S. 552).

Im selben Jahr hatte sich die DPG auch von Sigmund Freud die nachträgliche Zustimmung für ihren DIPFP-Beitritt eingeholt (Hermanns 1982, S. 165). In der psychoanalytischen Abteilung des Instituts wurden, zeitweise unter Tarnbezeichnungen, bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Analytiker ausgebildet und Analysen durchgeführt (Brecht et al. 1985, S. 164ff.; Hermanns 1989, S. 28–33; Bräutigam 1984); gegen Unterschrift blieben den Ausbildungskandidaten Freuds Werke zugänglich (Dräger 1994, S. 49).

Michael Schröter teilt nach Durchsicht der Mitgliederkartei des DIPFP mit, »die Ausübung der Psychoanalyse« habe sich unter anderem hinter Ausdrücken wie »große tiefenpsychologische Behandlung«, »Tiefenpsychologie (Entwicklungspsychologie)« sowie »wirkliche psychotherapeutische Behandlung von langer Dauer« verborgen. Aber auch »Psychoanalyse« sei gelegentlich eingetragen worden, allerdings nicht von (ehemaligen) DPG-Mitgliedern, sondern von den Therapeuten Gebsattel und Muthmann (Schröter 2000a, S. 19 und Fn 6).

Dietfried Müller-Hegemann, der seine analytische Ausbildung am DIPFP 1936 begonnen hatte, sprach später von dem »höchst lebhafte[n] Interesse der faschistischen Machthaber […] an der Tiefenpsychologie«, das zum Aufbau des Instituts geführt habe (zitiert in Bernhardt 2000, S. 186). Geoffrey Cocks schreibt: Die Nationalsozialisten konnten »das Bedürfnis nach psychologischer Betreuung und Hilfe, innerhalb und außerhalb ihrer eigenen Reihen, schlechterdings nicht ignorieren«. Und Freud war nun einmal »für alle psychotherapeutischen Denkschulen, wie groß auch die Unterschiede zwischen ihnen waren, eine unverzichtbare gemeinsame Quelle« (Cocks 1983, S. 1072, 1076).
Anders formuliert: Die Arbeit des DIPFP basierte im Wesentlichen auf tiefenpsychologischer Therapie – und tiefenpsychologische Therapie basierte im Wesentlichen auf Freud.

Ernest Jones teilte auf dem IPV-Kongress im August 1936 in Marienbad mit, die Psychoanalyse sei im Dritten Reich »›neben anderen Richtungen der Psychotherapie‹ anerkannt. Auch habe sie noch immer ›ihre Selbstständigkeit hinsichtlich der wissenschaftlichen Arbeit und der Lehrtätigkeit bewahrt‹« (zitiert in Nitzschke 1997a, S. 75).
Dies war jedoch ein beschönigender Blick auf die Realität.

Faule Kompromisse

Schon Anfang 1934 hatte die DPG ihren Mitgliedern verboten, Menschen zu behandeln, die als Kommunisten oder auf andere Weise in »hochverräterische« Aktivitäten hätten verwickelt sein können – und die den Analytikern daher »Dinge« mitteilen könnten, »welche wir anzeigen müssen« (Schröter 2005b, S. 164f.).[1] Wirklich freies Assoziieren seitens der Patienten dürfte damit ebenso unmöglich geworden sein wie freies Handeln als Therapeut – was negative Auswirkungen auf jegliche wissenschaftliche Arbeit gehabt haben muss, die auf der Auswertung dieser Behandlungen beruhte.

Am DIPFP kamen dann Vorgaben wie diese hinzu: »Die Mitglieder des Institutes haben bei den poliklinischen ebenso wie bei den Privatpatienten unbedingt Aufzeichnungen zu machen […]. Oft sind 10 Jahre [Archivierung] nicht ausreichend, denn es kommen von Behörden und anderen Stellen später häufig Anfragen über ehemalige Patienten« (ZfP, 1942, 1/2, S. 66).

Welche Vorstellungen M.H. Göring 1936 zur Integration der Psychoanalyse entwickelt hatte, geht aus seinem im Zentralblatt für Psychotherapie veröffentlichten Vortrag auf der ersten Mitgliederversammlung des DIPFP hervor. Hier pflichtete er zunächst der Ansicht bei, dass es nicht darauf ankomme, »ob auch in der Psychotherapie die nationalsozialistische Idee zu finden sei«, sondern lediglich darauf, »ob die Psychotherapie der nationalsozialistischen Idee dienstbar gemacht werden könne«. Dann fuhr er fort:

»Leider hat niemand vor Freud die Erkenntnisse des Unbewußten praktisch verwertet. Die Anwendungsmöglichkeit uns zu zeigen, ist das Verdienst Freuds. Seine Methode ist Allgemeingut aller Psychotherapeuten geworden. Viel wichtiger als die Methode ist aber die Weltanschauung.«

Mit anderen Worten: Wer sich zum Nationalsozialismus bekenne, dürfe auch weiter an Sigmund Freud anknüpfen, wenn das dem Nationalsozialismus dienlich sei. Er setzte fort: »Die Weltanschauung beginnt, sobald wir nach dem Inhalt des Unbewußten fragen.« Und hier gelte es zu lernen, »arische« und jüdische Inhalte zu unterscheiden (ZfP, Bd. 9, Heft 5, S. 290–296).

Man verfüge also, sollte das wohl heißen, über ein rein »arisches« Unbewusstes, für dessen Heilung man notgedrungen auf die Methode zurückgreifen müsse, die der Jude Freud zuerst gefunden hatte.

Die Integration der Analyse

1940 war man mit der angestrebten Integration schon deutlich weiter vorangekommen. Auf der dritten Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, die in Wien stattfand, erklärte M.H. Göring in seiner Eröffnungsansprache, man wolle sich hier mit der »Tiefenpsychologie im allgemeinen« befassen und zeigen, dass »die Tiefenpsychologie in das ganze menschliche Leben hineingreift«. Zur Ganzheit gehöre »auch das Unbewußte im Menschen«. Daher sehe es die Ärztiche Gesellschaft

»als eine ihrer vornehmsten Aufgaben an, den Ärzten, den Pädagogen, überhaupt allen Volksgenossen, die sich mit Menschenführung befassen, nicht zuletzt auch in der Wehrmacht und in der Wirtschaft, zuzurufen: Vergeßt das Unbewußte nicht! Glaubt doch nicht den Menschen als Ganzes zu erfassen, wenn ihr vor dem Unbewußten die Augen schließt!« (Bilz 1941, S. 8).

Wie umfangreich die inhaltlichen und begrifflichen Übernahmen aus der Psychoanalyse durch die »neue deutsche Seelenheilkunde« letztlich waren, wird nicht nur im Zentralblatt für Psychotherapie vielfach deutlich. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht auch ein Vortrag des Nicht-Analytikers Fritz Mohr über Die Behandlung der Neurosen durch Psychotherapie, gehalten auf der zweiten Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie im September 1938 in Düsseldorf. Im Tagungsband, publiziert 1939, lässt sich Folgendes nachlesen (Hervorhebungen: A.P.):

»Die moderne Psychotherapie geht aus von der Tatsache, daß unbewußte, in der persönlichen Kindheit oder in der Urzeit der Menschheit liegende, dem Triebleben angehörende Erinnerungen, Einübungen oder Bilder auch im Leben des erwachsenen Kulturmenschen eine ausschlaggebende Rolle spielen, daß also Geltungstrieb, Machthunger,[2] Sexualität und alles, was mit den Fortpflanzungsvorgängen zusammenhängt, daß Anschlußbedürftigkeit und sonstige Gemeinschaftserscheinungen und soziale Instinkte unser Leben bis ins kleinste hinein bestimmen, daß aber auch innere Konflikte zwischen religiösen bzw. Weltanschauungsidealen und diesen Triebregungen uns mehr zerspalten, als wir wissen. […]
Man hat an dem Begriff des Unbewußten an sich herumgemäkelt […], daß es ein Hilfsbegriff ist, […] daß wir nur seine Wirkungen kennen. Aber daß diese Wirkungen da sind, daß wir uns in irgendeiner Weise damit auseinandersetzen […] müssen, das muß von allen Seiten zugegeben werden.
Man hat an dem Begriff Verdrängung Anstoß genommen. Aber kann irgend ein Mensch leugnen, daß wir tausendfach im Leben Dinge vergessen oder beiseite schieben, die uns unangenehm sind? […]
Daß überall da, wo Menschen Zusammenhänge, die ihnen peinlich sind, erkennen sollen, sich innere Widerstände erheben, bejahen alle psychotherapeutischen Schulen. […]
Die Bedeutung der Träume als eines Mittels zur Erkennung unbewußter Wünsche und Regungen wird von allen zugegeben […].
Das, was man analytisch den Wiederholungszwang genannt hat […], entspringt ebenfalls einer allgemein menschlichen Tendenz […].
Auch die Tatsache der Uebertragung der Affekte auf den behandelnden Arzt wird ernsthaft von keiner Schule bestritten und findet ihre Analogie im sonstigen Leben in allen zwischenmenschlichen Beziehungen […].
In die Uebertragung spielt bekanntlich vor allem die Erinnerung an die Vater- und Mutterbindung stark hinein. […]
Auch Willenstherapieformen sind […] vorhanden in der Uebung des freien Assoziierens, das besonders den kultivierten, also reflektierten Menschen oft außerordentlich schwer zu werden pflegt […].
Man sieht aus allem Bisherigen, das möchte ich zum Schluß noch einmal unterstreichen: Die gemeinsamen Grundlagen und Berührungspunkte aller seelischen Behandlungsmethoden sind so groß, daß demgegenüber die Unterschiede für die Wirkung nur sehr wenig in Betracht kommen« (Curtius o.J., S. 53ff., 60, 66).

Sigmund Freud hat „Psychoanalyse“ recht unterschiedlich definiert. 1914 schrieb er: Jede Forschungsrichtung, welche« »die Tatsache der Übertragung und die des Widerstandes […] anerkennt und sie zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit nimmt, darf sich Psychoanalyse heißen, auch wenn sie zu anderen Ergebnissen als den meinigen kommt« (Freud 1914d, S. 54).
Nimmt man ihm beim Wort, so war auch die »neue deutsche Seelenheilkunde«: Psychoanalyse.

Auf jeden Fall konnte die »neue deutsche Seelenheilkunde« niemals grundsätzlich konträr zum Inhalt der Psychoanalyse stehen oder diese pauschal bekämpfen: Sie hätte in erheblichem Maß gegen sich selbst gekämpft.

Viel Erfolg wünscht Adolf Hitler …

Vor diesem Hintergrund ist es erst recht bemerkenswert, dass von Hitler am 27.9.1938 auf ein entsprechendes Dank- und Grußtelegramm, das ihm M.H. Göring zu Beginn einer Fachtagung gesandt hatte, folgende Antwort kam:

»Der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie danke ich für ihr Treuegelöbnis und für die Meldung von der Errichtung eines Deutschen Institutes für Psychologische Forschung und Psychotherapie. Ich wünsche Ihrer Arbeit guten Erfolg« (zitiert in Curtius o.J., S. 4).

1940, anlässlich einer weiteren Tagung, konnte M.H. Göring mitteilen, auch der Reichsorganisationsleiter der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, habe erkannt, »wie wichtig die Tiefenpsychologie nicht nur für die Medizin, sondern für alle Zweige des Lebens ist, vor allem auch für die Wirtschaft« (Bilz 1941, S. 7, 9). Wieder erhielt Hitler ein Telegramm. Diesmal antwortete er:

»Der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie danke ich für die mir anlässlich ihrer 3. Tagung telegraphisch bekundete treue Einsatzbereitschaft und sende meine besten Wünsche für den Erfolg Ihrer Tagung« (dokumentiert in Bilz 1941, S. 10).

Telegramm an Hitler

Staunend stehen wir vor dem Führer. M. H. Göring 1940 (Archiv Peglau).

Ob Hitler sich selbst mit dem, was er da telegrafisch befürwortete, befasst hatte, ist unklar. Zumindest jemand in seiner Nähe, vielleicht in seinem Sekretariat, muss entschieden haben, welche eingehenden Telegramme beantwortet wurden und in welcher Weise. Wahllos wurden hier ganz sicher nicht »beste Wünsche für den Erfolg« ausgesprochen.

… und Hermann Göring geht zum Analytiker

In der Endphase des „Dritten Reiches“ ging übrigens auch Hitler-Mitstreiter Hermann Göring (ebenso wie andere NS-Staatsdiener – Lockot 2002, S. 226f.) »zum Analytiker«. Genauer gesagt: Er konsultierte – vermutlich auf Empfehlung seines Vetters M. H. Göring – im letzten Kriegsjahr heimlich Harald Schultz-Hencke mehrfach in dessen Wohnung.
Dabei sei es vor allem um Görings Drogenabhängigkeit gegangen, berichtet der Psychoanalytiker Otto Haselhoff, der zu dieser Zeit in Schultz-Henckes Wohnung einquartiert war (Lockot 1994, Fußnote S. 240).
Also maß auch Reichsmarschall Göring der Psychoanalyse heilende Wirkung bei.

*

Stark gekürzter sowie veränderter Auszug aus Andreas Peglau: „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“, 3. und erweiterte Auflage 2017, Gießen: Psychosozial. Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus

Dessen KOMPLETTES Quellen- und Literaturverzeichnis findet sich hier: Quellen und Literatur Peglau Unpolitische Wissenschaft, Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Psychosozial-Verlag-Gießen 2017

Zusätzliche Literatur:

Heekerens, Hans-Peter (2016): Psychotherapie und Soziale Arbeit. Studien zu einer wechselvollen Beziehungsgeschichte, Weitramsdorf-Weidach: ZKS-Verlag.

Anmerkungen

[1] Dieses Vorgehen belegt auch, wie genau man sich über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Klaren war, einschließlich ihrer bedrohlichen Aspekte.
[2] Diese beiden letzten Begriffe deuten, ebenso wie die „Anschlußbedürftigkeit und sonstige Gemeinschaftserscheinungen“, auf die Übernahmen von Alfred Adler hin. Hans-Peter Heekerens (2016, S. 124-126) weist darauf hin, dass auch die „Geburt“ der Kinder- und Jugendpsychotherapie und der Psychagogik „im NS-Staat“ vonstatten ging.

 

Tipp zum Weiterlesen:

Viel Würdigung, wenig Diffamierung. Psychoanalyse in der deutschen Fachliteratur (Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Teil 6)