Schlagwort-Archive: Wilhelm Reich

Menschen als Marionetten? Wie Marx und Engels die reale Psyche in ihrer Lehre verdrängten. Teil 9: Vulgärpsychologie, halbherzige Abschwächungen und Bilanz

von Andreas Peglau

Vulgärpsychologie

In seiner 1933 erschienenen Massenpsychologie des Faschismus setzte sich Wilhelm Reich mit dem „Vulgärmarxismus“ auseinander – den er als Gegensatz zur Lehre von Marx und Engels verstand. Vulgärmarxisten trennten, so Reich, „schematisch das gesellschaftliche, meist das wirtschaftliche Sein vom Sein überhaupt ab“,[1] behaupteten, Ideologie und Bewusstsein wären „durch das wirtschaftliche Sein allein und unmittelbar bestimmt“,[2] negierten die Beschäftigung mit Trieben, Bedürfnissen, seelischen Prozessen als idealistisch. Weiterlesen

Menschen als Marionetten? Teil 10: Alternative Gedankenwege – eine Diskussionsanregung

von Andreas Peglau

Was sich ergeben hätte, wenn Marx und Engels um 1844 ihre Weichen anders gestellt, wenn sie die Psyche auf angemessene Weise einbezogen hätten, lässt sich nicht rekonstruieren. Aber ich will wenigstens bei einigen ihrer Annahmen durchspielen, was passiert, wenn ich diese mit dem konfrontiere, was mir heute als ausreichend gesichertes Wissen erscheint.
Wie anfangs mitgeteilt, gehe ich davon aus, dass wir mit dem Potential auf die Welt kommen, soziale, liebenswerte, liebesfähige und liebesbedürftige, kontaktfreudige, wissbegierige, kreative Wesen zu sein. Das ist kein Wunschdenken von mir, sondern inzwischen vielfach wissenschaftlich belegt.[1]
Vielleicht nehmen andere meine Fäden auf und spinnen sie weiter, in ihrer Weise, individuell und selbstbewusst, im Sinne von Max Stirner und nach Kants Motto: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Weiterlesen

Menschenbilder: gut geboren, böse gemacht 

von Andreas Peglau[1]

 

Download als pdf

 *

Jeder und jede von uns hat – zumindest unbewusst – ein Menschenbild: Annahmen darüber, wie Menschen im allgemeinen sind, gut oder böse, lern- und veränderungsfähig oder nicht, zuverlässig oder unzuverlässig, faul oder fleißig, unter welchen Umständen sie sich wohlfühlen, wie sie in einer bestimmten Situation reagieren, was sie glücklich, traurig oder wütend macht, was sie antreibt, wodurch sie beeinflusst werden können usw. Je nach dem, was wir diesbezüglich für zutreffend halten, beurteilen wir auch, welche Ursachen und Abhilfemöglichkeiten es für negative soziale Entwicklungen gibt – wie die rechtsextremistischen. Weiterlesen

Lore Reich Rubin ist verstorben.

Am 24. Februar 2024 ist Wilhelm Reichs jüngere Tochter Lore verstorben, kurz vor ihrem 96. Geburtstag.
Dass ich sie 2007 kennenlernte, war eines der Motive, mich von da an intensiv mit Wilhelm Reich zu befassen. In der Einleitung zur dritten Auflage von „Unpolitische Wissenschaft?“ habe ich dazu geschrieben:

Die Vorarbeiten zu diesem Buch begannen 2007, im Jahr von Wilhelm Reichs
110. Geburts- und 50. Todestag. An Reichs Berliner Wohnhaus – das mit Fug und
Recht als »Geburtshaus der Körperpsychotherapie« angesehen werden kann –
wurde damals eine Gedenktafel eingeweiht. Dabei kam ich mit Lore Reich Reich,
Psychoanalytikerin und jüngere Tochter Reichs, in Kontakt, was sowohl einen lebendigen
Austausch als auch eine Verabredung zum Theaterbesuch nach sich zog.
Denn in der Probebühne der Staatsoper wurde gerade – glückliche Fügung! – ein
1946 entstandener Text ihres Vaters in dramatisierter Fassung gegeben: Rede an den kleinen Mann. Vor Veranstaltungsbeginn zeigte ich Lore Rubin Reich den vom Aufführungsort
nur wenige hundert Meter entfernten Bebelplatz gegenüber der Humboldt-
Universität: Hier wurden am 10. Mai 1933 tausende mit nationalsozialistischen
Auffassungen unvereinbare Schriften verbrannt. Nur vier den Initiatoren der
Vernichtungsaktion offenbar besonders verhasste Psychoanalytiker waren, soweit
bekannt, davon betroffen. Lore Reich Rubins Vater war einer von ihnen.
Dieses Zusammentreffen verstärkte meinen Wunsch, zu erfahren, wie überhaupt im
faschistischen Deutschland mit analytischen Schriften umgegangen wurde – ohne zu ahnen, dass daraus eine siebenjährige Suche in unzähligen Dokumenten, diversen Archiven und Institutionen werden sollte, bei der sich die zu beantwortenden Fragen immer mehr ausweiteten.

Roland Kaufhold hat Lore für haGalil mit einem ausführlichen Nachruf geehrt.

Lore Reich Rubin (1928 – 2024), links um 1932 fotografiert von ihrem Vater in ihrer Berliner Wohnung, rechts vor demselben Haus am 23.6.2007. Damals war sie zum ersten Mal seit 1933 wieder in Deutschland.

Sein, Bewusstsein, „Klassenbewusstsein“ – und Unbewusstes. Karl Marx, Wilhelm Reich und die tatsächliche Rolle der Psyche

von Andreas Peglau

Anfang 2024 habe ich einen Beitrag zur „Grundfrage der Philosophie“  veröffentlicht und einen weiteren, in dem ich Wilhelm Reichs Schrift „Was ist Klassenbewusstsein?“ von 1934 vorstelle. Sie bauen zwar nicht direkt aufeinander auf. Aber sie ergänzen sich. Deshalb sind sie hier noch einmal zusammenhängend nachzulesen.
Der rote Faden ist: Die Vorstellungen von Karl Marx vom Bewusstsein – und damit sein Menschen- und Gesellschaftsbild – sind ausgesprochen korrekturbedürftig. 1933/34 hat Wilhelm Reich, zu dieser Zeit noch Kommunist und Marxist, wesentliche dieser Korrekturen vorgenommen. Einige seiner damaligen Erkenntnisse können helfen, die aktuelle politische Situation in der BRD zu verstehen, vielleicht auch positiv zu beeinflussen. Denn sie zeigen: Wir sind keinesfalls passiv-hilflose Marionetten unserer Gesellschaft, wir gestalten sie stattdessen mit – nur leider in hohem Maße unbewusst und entgegen unserer Lebensinteressen.

 

Weiterlesen

Die Mehrzahl lebt ihr unterjochtes Dasein unbewusst… Wilhelm Reichs Weiterführung der „Massenpsychologie des Faschismus“ im Jahr 1934

von Andreas Peglau

 


1933 war der aus Deutschland geflüchtete Wilhelm Reich aus den kommunistischen und den psychoanalytischen Organisationen ausgeschlossen worden und hatte im dänischen Exil die Massenpsychologie des Faschismus[1] veröffentlicht. 1934 begann er mit der Herausgabe der Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie.[2] Dort erschien auch sein, unter dem Pseudonym „Ernst Parell“ verfasster Aufsatz „Was ist Klassenbewusstsein?“, den er zusätzlich als 72-seitige Broschüre drucken ließ.[3]

Anknüpfend an die Massenpsychologie wollte Reich hier, so der Untertitel, einen „Beitrag zur Neuformierung der Arbeiterbewegung“ leisten – welche nach der nationalsozialistischen Machtübernahme und Zerschlagung der „linken“ Organisationen in Deutschland zwingend nötig geworden war. Dazu müssten, meinte Reich, jene Fehler der „Linken“ analysiert werden, die diese Machtübernahme begünstigt hatten. Neben dem Torpedieren einer antifaschistischen Einheitsfront stellte er insbesondere das anhaltende „Unverständnis vieler Wirtschaftspolitiker für psychologische Fragestellungen überhaupt“ [4] in den Vordergrund:

Weiterlesen

Global Empathy – Thomas Harms im Gespräch mit Andreas Peglau

Thomas Harms, Psychologe, Therapeut und Leiter des Bremer Zentrums für Primäre Prävention und Körperpsychotherapie hat am 26. November ein Gespräch (1 Stunde, 13 Minuten) mit mir geführt und es in seiner Reihe „Global Empathy“ veröffentlicht.
Es geht um Wilhelm Reich, vor allem um die „Massenpsychologie des Faschismus“, am Ende auch ein wenig um A.S. Neill und Summerhill und um das Thema „Menschenbilder“.

Hier lässt es sich bei spotify anhören:

 

 

 

Hier eine weitere Möglichkeit zum Hören: Apple Podcast.

 

Was die Massen zum Faschismus treibt. Ein Beitrag für das Journal JACOBIN

von Andreas Peglau

Vor 90 Jahren, im Spätsommer 1933, erschien Wilhelm Reichs Klassiker »Massenpsychologie des Faschismus«. Das Buch war sein Versuch, die Anziehungskraft der Nazi-Ideologie zu erklären und gleichzeitig einen blinden Fleck der marxistischen Gesellschaftstheorie auszufüllen.

 

Weiterlesen

Sind wir geborene Krieger? Zu psychosozialen Voraussetzungen von Friedfertigkeit und Destruktivität

Vortrag, gehalten am 30.6.2023 innerhalb der Vorlesungsreihe „Psychologische Anthropologie: Militarismus und Krieg“ an der Universität zu Köln (bearbeitetes Manuskript)

von Andreas Peglau[1]

Hier kann der Text als pdf heruntergeladen werden.

*

Was ist Krieg?

Ein organisierter, gewaltsam und mit Waffen ausgetragener Konflikt zwischen Staaten oder größeren Gruppen von Menschen. Krieg zu führen bedeutet in jedem Fall, bereit zu sein, andere Menschen zu töten.
Wären wir „geborene Krieger“, würde die Bereitschaft, andere Menschen ohne Gewissensbisse zu verletzten und zu vernichten, zu unserer seelischen Grundausstattung gehören. Wir würden damit auf die Welt kommen.
Das müsste sich daher auch lebenslang irgendwie zeigen – und zwar im Prinzip schon immer und überall, seit es Menschen gibt. Weiterlesen

Apolitical Science? Wilhelm Reich and Psychoanalysis in National Socialism. An abridged version (2023)


by Andreas Peglau

Please cite as: Peglau, Andreas (2023): Apolitical Science? Wilhelm Reich and Psychoanalysis in National Socialism. An abridged version (https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/apolitical-science-wilhelm-reich-and-psychoanalysis-in-national-socialism-an-abridged-version-2023)

Here you can download the pdf version – differing in some illustrations – of the following text.

The forwarding and distribution of this text for non-commercial purposes is expressly desired.

 

 

Introduction


In 2013, my dissertation „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“ was first published as a book. In 2015, the second edition followed and in 2017, the Psychosozial-Verlag Gießen brought it out in a third and expanded edition.

In a review, philosopher Werner Abel described it as „one of the most important books on the history of psychoanalysis, making its decline from a socially critical theory and practice to a medicalised, supposedly ‚apolitical‘ science comprehensible in detail for the first time.“.

The psychoanalyst Bernd Nitzschke stated: „The interweaving between the fate of psychoanalysis in the Nazi state and the history of Wilhelm Reich’s exclusion, persecution and emigration, which Peglau meticulously reconstructs, is the lynchpin of the book, which is an indispensable reference point for anyone who wants to deal with the Nazi history of psychoanalysts without blinkers in the future.“

I then compiled some of the most important results of my years of research in 2019 – with the kind permission of Psychosozial Verlag – in an abridged version in the orignal German. It has since been downloaded several thousand times from my website.

In order to make this information even more widely available, I have now supplemented and updated the text and translated it into English with the help of DeepL. Weiterlesen