Sind wir alle potentielle Stalinisten? Andreas Peglau im Gespräch mit Hans-Joachim Maaz zu den psychischen Grundlagen der DDR-Gesellschaft

Eine bittere Bilanz der psychosozialen Verhältnisse im ostdeutschen Staat, Januar 1990.

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A.P.: Der Begriff „Stalinismus“ ist seit Oktober 89 geradezu ein Modewort geworden, wenn es darum geht, die negativen Seiten der DDR-Gesellschaft zu beschreiben. Zumeist werden darunter in erster Linie politische, juristische und auch ökonomische Aspekte zusammengefaßt. Dementsprechend werden deutliche Veränderungen vor allem in Staatsaufbau, Recht und Wirtschaft gefordert. Sie behaupten dagegen, ohne eine zusätzliche „psychische Revolution“ kann von einer Überwindung des Stalinismus nicht die Rede sein. Was ist damit gemeint?

Maaz: Der Begriff „Psychische Revolution“ hat sich aus meiner alltäglichen psychotherapeutischen Arbeit ergeben, in der ich immer wieder auf Probleme gestoßen bin, wo ich mir sagen mußte, daß sich Menschen auch heute noch so verhalten, wie mir dies als faschistisches Verhalten aus der Literatur und Forschung bekannt ist. Dabei handelt es sich vor allem um ein aufgestautes und unterdrücktes Aggressionspotential, das häufig gar nicht mehr wahrgenommen wird, aber bei jeder Gelegenheit gegen anders Denkende, gegen Minderheiten ausagiert wird oder sich anderweitig, auch durch Symptome und Krankheiten ausdrückt und entlädt. Wir fanden also in unserer Arbeit massenweise Charakterstrukturen, die sich durchaus als faschistisch bezeichnen lassen, aber genauso auch als stalinistisch. Auf der Ebene der Verhaltens und der charakterlichen Abnormität hat es also bis heute keine wesentliche Veränderung gegeben, keine wirkliche Bewältigung unserer Vergangenheit hinsichtlich der seelischen Strukturen. Was Wilhelm Reich schon vor fast sechzig Jahren u.a. in seiner ,,Massenpsychologie des Faschismus“ beschrieben hat, ist für unsere heutige Situation immer noch gültig.

Mein Erkenntnisstand heute ist der, daß es zwar in vielen Revolutionen wesentliche politische, ökonomische und soziale Veränderungen gegeben hat, die durchaus das Fortschrittliche zum Ausdruck brachten, aber daß solche Veränderungen immer wieder auch gescheitert sind, obwohl die progressive Entwicklung zum politischen Programm erklärt war. So ist die sozialistische Oktoberrevolution schließlich in den Stalinismus entartet, die Weimarer Republik in den Faschismus übergegangen und unser real existierender Sozialismus ebenfalls zu einem repressiven System verkommen. Dabei wird eben deutlich, daß eine wesentliche Dimension bei diesen revolutionären Entwicklungen unberücksichtigt blieb, nämlich die Veränderung des einzelnen Menschen, der Blick auf seinen Charakter, auf das, wie die Menschen innerlich wirklich sind.

Man kann das so zusammenfassen: Der Mensch kann sich sehr gute und ideale Ziele geben und ausdenken, aber es ist damit noch nicht gesagt, er diese auch wirklich leben und in der Realität umsetzen kann. So sind die großen Menschheitsideale von Demokratie, Freiheit oder Gerechtigkeit im praktischen Vollzug, im alltäglichen Leben immer wieder auch in Frage gestellt.

Der Marxismus hatte formuliert: ,,Das Sein bestimmt das Bewußtsein“. Ich muß aus meiner heutigen Erkenntnis diesen Satz als falsch erklären und statt dessen dagegensetzen: Das Unbewußte bestimmt das Sein. Dies entspricht unserer psychotherapeutischen Erkenntnis, daß das Verhalten des Menschen im wesentlichen von unbewußten Mechanismen geprägt wird. Und das ist einer der wesentlichen Gründe, weshalb auch große Ideale, wenn sie nicht in der psychischen Struktur des Menschen verankert sind, nach einer Revolution immer wieder scheitern müssen. Einer solchen Entwicklung wäre nur durch eine psychische Revolution, also durch innere Veränderungen im Menschen, durch Überwindung von charakterlichen Fehlentwicklungen, zu begegnen.

A.P.: Wie würden Sie denn, wenn das möglich ist, zusammenfassen, wie die psychischen Verhältnisse in der DDR ausgesehen haben?

 Maaz: Da will ich mich vor allem auf die Beobachtungen unserer täglichen Arbeit stützen: Ich habe in den zehn Jahren klinischer Arbeit in Halle etwa fünftausend Menschen kennenlernen können. Wenn Menschen in Not sind, dann zeigen sie auch etwas von ihrer innersten psychischen Situation, was sie sonst lieber verborgen halten oder auch selbst gar nicht wissen. Mit diesem Erfahrungshintergrund mußten wir zu Kenntnis nehmen, daß die meisten Menschen durch ,,Entfremdung“ und ,,Spaltung“ zu charakterisieren sind.

Mit Spaltung meine ich, daß Menschen ihre psychische Wirklichkeit hinter einer sozialen Fassade verbergen und sich dieses Vorganges häufig gar nicht mehr bewußt sind. Sie halten dann selbst die aufgesetzte Maske oder soziale Rolle, meistens Freundlichkeit, Höflichkeit, Tüchtigkeit, Disziplin und Ordnung – also die sogenannte Wohlanständigkeit – für den Ausdruck ihres ,,wahren“ Charakters. In Wirklichkeit ist es meistens ein durch autoritäre Erziehung erzwungenes Verhalten. Sie wurden dadurch von ihrer wirklichen Natur entfremdet. Wenn wir in der Therapie diese soziale Maske nicht mehr bestätigen, dann reagieren die Menschen in der Regel sehr unsicher und ängstlich. Und dann zeigen sie Gefühle, die sie sonst ganz peinlich zu vermeiden und zu verbergen suchen; das sind mörderischer Haß, sehr viel Wut, aber auch tiefer Schmerz und oft auch große Trauer. Und wenn es möglich ist, in der Therapie diese Gefühle auszudrücken, dann wird etwas sichtbar, was wir den Kern des Menschen nennen: das ist in der Regel eine große Sehnsucht, von anderen Menschen angenommen und verstanden zu werden und mit anderen Menschen verbunden zu sein. Also der Wunsch nach unverstellter Daseinsberechtigung und nach emotionaler Nähe und Liebe.

Diese Sehnsucht ist meistens deshalb so tief verborgen, weil diese Wünsche in der Erziehung, in den Erfahrungen, die jeder Mensch machen mußte, so wenig erfüllt wurden und häufig sogar auch unterdrückt und verboten waren, so daß mit diesen Bedürfnissen sehr viel Schmerz verbunden ist, der natürlich möglichst nicht erinnert werden möchte.

Wenn sich Menschen dann doch ihrer bitteren und schmerzlichen Vergangenheit erinnern, dann wird meistens deutlich, daß sie Eltern hatten, die diese Wünsche gar nicht erfüllen konnten, weil sie selbst durch unterdrückende und autoritäre Verhältnisse in ihrer Charakterstruktur bereits gestört waren. Wir wurden in der DDR also in der Regel von Eltern erzogen, die bereits repressive Erfahrungen selbst erlitten hatten und dies dann an ihre Kinder weitergaben. Und das Ergebnis dieses Erziehungsprozesses, den man eher als Dressur abqualifizieren muß, ist, daß die Kinder am Ende sich selber entfremdet sind und nicht mehr im Kontakt mit ihren wesentlichen Grundbedürfnissen und Gefühlen sind. Statt dessen sind sie angepaßt und bleiben abhängig von Menschen, die ihnen sagen, was sie tun oder lassen sollen. Und dann kommt meistens noch eins dazu: daß die Kinder auf eine Norm verpflichtet werden, die wir mit ,,Leistungshaltung“ bezeichnen, also der Auftrag an die Kinder, daß sie tüchtig sein sollen und fleißig sich anstrengen sollen und möglichst alles perfekt erfüllen möchten. So sind unsere Kinder in der Regel im Erziehungsprozeß nicht mehr um ihrer selbst willen angenommen und geliebt, sie können nicht mehr umfassend erfahren, daß ihre natürlichen Bedürfnisse erkannt und erfüllt werden, sondern sie müssen das genaue Gegenteil erleben: Nur wenn sie die Erwartungen der Mächtigen, also der Eltern, der Lehrer, der Vertreter der gesellschaftlichen Normen, erfüllen, werden sie akzeptiert. Und so entsteht die irrtümliche Haltung, daß man sich durch Leistung die Liebe verdienen könne, die man für das einfache Dasein nie erhalten hat. Das ist der Grundirrtum, an dem jede Leistungsgesellschaft in den Industrienationen festhält, um Menschen ihrer Natur so weit zu entfremden, daß sie schließlich auch in einem entfremdeten Arbeits- und Produktionsprozeß möglichst willfährig mitmachen und nicht mehr dagegen protestieren.

A.P.: Es gibt also, wenn man auf die Welt kommt, so eine Art natürlichen, guten Kern im Menschen, der lieben möchte, der Zärtlichkeit haben möchte, der Körperkontakt braucht und Sexualität. Da diese Bedürfnisse häufig nicht befriedigt werden, entstehen Wut, Trauer, Schmerz, Aggressivität. Und diese Gefühle dürfen nicht ausgedrückt werden und bleiben im Menschen verborgen. Und jetzt kommt noch das obendrauf, was Sie als soziale Fassade bezeichnet haben, mit der man diese ,,negativen“ Impulse, die sich angestaut haben, niederhält und nach außen hin so tut, als ob man ein ganz anderer wäre.

Maaz: Ja, das ist richtig. Die meisten Kinder, und auch später als Erwachsene, tragen in sich ein chronisches Mangelsyndrom: ein Defizit an ursprünglicher, unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung, gerade in den Grundbedürfnissen nach Nähe, nach Liebe, nach Angenommensein, Verstandensein, nach Dazugehören, nach echtem und unbehindertem Gefühlsausdruck. Diese wesentlichen inneren Bedürfnisse werden weitgehend frustriert, behindert und mangelhaft befriedigt.

Und jetzt kommt noch dazu, daß wir vierzig Jahre in einem politischen und ökonomischen System gelebt haben, leben mußten, das man als ein äußeres Mangelsystem bezeichnen kann. Es hat also immer im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland einen chronischen Mangel gegeben auch in der Lebensart, in der Versorgung, im Konsum, in der Kultur, letztlich in allen gesellschaftlichen Bereichen. Damit kam es zu einer tragischen Verquickung von innerem Mangelsyndrom und äußerer Mangelsituation, so daß in der DDR immer eine illusionäre Sehnsucht genährt werden konnte, daß das innere Mangelsyndrom durch äußere Wunscherfüllungen gestillt werden könnte. Und dafür bot sich die Bundesrepublik natürlich hervorragend an, denn da ist ja tatsächlich äußerlich das meiste wesentlich besser und reichhaltiger. So lag es nahe, daß eine Hoffnung bei den meisten Menschen entstand, wenn man nur so leben könnte wie in der Bundesrepublik, dann wäre alles gut. Dann würde der chronische Mangelzustand endlich befriedigt und gesättigt. Ich denke, daß das einer der wesentlichen, allerdings auch meist unbewußten Beweggründe gewesen ist, so massenweise die DDR zu verlassen. Dabei blieb meist unberücksichtigt oder wollte nicht wahrgenommen werden, daß die Menschen im Westen nicht wirklich wesentlich gesünder sind, nicht wirklich weniger entfremdet sind als wir. Und daß die gleichen Erziehungsmechanismen, also die erzwungene Abhängigkeit, die Gefühlsunterdrückung, die Leistungsorientierung genauso vorhanden sind und daß die Spaltung der Charakterstruktur genauso anzutreffen ist wie bei uns.

Die psychischen, psychosomatischen Erkrankungen, der Alkoholismus, die Suizide, die zwischenmenschlichen Beziehungsstörungen, die Drogenprobleme sind genauso groß oder in manchen Bereichen noch stärker als bei uns. Und es kommt dazu, daß, wenn wir am chronischen Mangel gelitten haben, man im Westen durchaus auch an der Fülle mit den damit verbundenen Leistungs-, Wettbewerbs- und Konsumzwängen leiden kann. Und dann muß man, so denke ich, den Blick auch noch heben auf die Folgen einer solchen Lebensart. Zunehmend wird deutlich, daß sich die Industrienationen der sozialen Marktwirtschaft selbst zu einer Zwei-Drittel-Gesellschaft entwickelt haben, daß also ein Drittel der Bevölkerung aus dem äußeren Erfolg herausfällt und daß der wirtschaftliche Erfolg mit dem ständigen Produktionswachstum auf Kosten der Dritten Welt geht und vor allem der Natur. Also letztlich auf Kosten der Zukunft und auf Kosten anderer. Daß wir im Moment vor dieser Wahrheit vorwiegend die Augen schließen, das erkläre ich mir eben mit Sehnsucht, mit dem äußeren zugleich den inneren Mangel beseitigen zu können. Aber vermutlich, leider, müssen wir erst erfahren, daß – obwohl es uns irgendwann mal vielleicht äußerlich besser gehen wird – wir damit nicht innerlich wirklich gesättigt sind, nicht wirklich glücklicher, zufriedener und gesünder werden.

A.P.: Sie haben von dem Zusammenhang zwischen der Gesellschaft und dem Charakter jedes einzelnen gesprochen. Kann man sagen, daß die Gesellschaft diejenigen Charaktere erzieht – schon von den ersten Lebensäußerungen an – von denen sie erhofft, daß sie am besten in diese Gesellschaft hineinpassen? Daß wir planmäßig so werden, wie die Gesellschaft jetzt schon ist?

Maaz: Genauso. Das Tragische daran ist, daß das nicht mehr ausreichend reflektiert wird und oft gar nicht bewußt ist. Einer Gesellschaft, den Erziehern und Eltern, ist häufig nicht bewußt, daß sie eine Anpassung erzwingen, sondern sie haben dazu längst Ideologien entwickelt und leiten aus sogenannten Sachzwängen Erklärungen für ihr Tun ab. Damit wird suggeriert, daß es gar keine andere Möglichkeit des Handelns gäbe.

So wird zum Beispiel das Leistungsprinzip als unantastbar hingestellt und jede kritische Anfrage wird abqualifiziert. Daß aber bereits das Leistungsprinzip eine Pathologie ausdrückt, eine mögliche gesellschaftliche Fehlentwicklung, das wird überhaupt nicht ernsthaft reflektiert. Und das ist die Tragik, daß dann eben auch die Erziehungsnormen, zum Beispiel ,,Streng dich an“, ,,Sei perfekt“, ,,Halte Disziplin und Ordnung“ als selbstverständlich, als die natürlichste Grundlage hingestellt werden und keine Frage erlaubt wird, ob diese Haltungen überhaupt noch gesund sind. Das Primat der ständigen Leistungsforderung führt unweigerlich zu einer erheblichen Triebunterdrückung, zu einer lustfeindlichen und gefühlsunterdrückenden Einstellung in unserem Leben. Die Rationalität wird überbetont und die Emotionalität bleibt verpönt. Ganz selbstverständlich sagt man dann abwertend, es sei mal wieder zu gefühlsmäßig zugegangen, man müsse sich doch auf vernünftige, sachliche Argumente stützen. Wenn sich der Mensch auf diese Weise von seinen Gefühlen entfremdet, ist er auch von seiner Natur entfremdet und kann nicht mehr fühlen, was er wirklich braucht und wie es wirklich in ihm aussieht.

Wir müssen dieses Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Individuum verstehen lernen: Durch die Erziehung wird an jedem einzelnen Menschen die Entfremdung vollzogen, also eine Charakterverformung, eine Charakterspaltung und Gefühlsblockierung erzeugt. Und derart charakterverformte Menschen können gar nicht anders, als wieder eine Gesellschaft anzustreben, in der ihre Entfremdung honoriert und geschätzt wird. So verformen die gesellschaftlichen Verhältnisse die Menschen und charakterverformte Menschen erneuern immer wieder die pathologische Fehlentwicklung einer Gesellschaft. Wer sich schließlich den Geboten einer repressiven Erziehung angepaßt hat und dafür Lob und Anerkennung, später Prämien, Orden bekommt und politische und berufliche Karriere macht, wer also schließlich damit äußeren Erfolg hat und seinen Platz in der Gesellschaft gefunden hat, der hat auch kein Interesse mehr, daß wirklich etwas an der gesellschaftlichen Struktur verändert wird. So verhindert das Individuum gesellschaftliche Entwicklung. Und das gelingt natürlich nur dann, wenn charakterliche Verformungen massenweise auftreten, also durch repressive Erziehung an jedem einzelnen vollzogen werden.

A.P.: Diese Mechanismen wären ja dann bei allen repressiven Systemen zu finden. Was ist dabei das Besondere am „Stalinismus“?

Maaz: Es ist zunächst ein Begriff, der die autoritär-repressive Lebensweise beschreibt, die ein ganzes Volk betrifft. Es ist mir wichtig hervorzuheben, daß damit nicht nur eine bestimmte historische Epoche benannt wird oder daß dies nur einige Wenige, nämlich die „Stalinisten“, betreffen würde. Bei einer solchen Sichtweise würde ich eher die Gefahr der Verschleierung der wirklichen Zusammenhänge sehen. Schon 1945 wurden einige Kriegsverbrecher und Nazis denunziert und verurteilt, und dann hat man gesagt, daß damit das Problem bewältigt sei und wir bei der sogenannten Stunde Null beginnen könnten. Indem einige zu Tätern erklärt wurden, konnten sich die meisten ungerechtfertigt als Opfer fühlen. Wir mußten inzwischen feststellen, daß dies ein Irrtum war. Denn wie ich schon gesagt habe, an den eigentlichen Charakterstrukturen hat sich bis heute nichts Wesentliches verändert.

Und im vergangenen Jahr wiederholte sich dieser Mechanismus: Man wollte einige schuldige Stalinisten finden, sie als solche denunzieren, verfolgen und bestrafen und so tun, als wären alle anderen nicht beteiligt gewesen.

Ich will jetzt erklären, weshalb ein ganzes Volk, eine ganze Gesellschaft von dem infiziert ist, was wir jetzt Stalinismus nennen. Zugrunde liegt bei den meisten Menschen das erwähnte chronische Mangelsyndrom an natürlicher Bedürfnisbefriedigung. Und dieses Mangelsyndrom kann nun auf sehr verschiedene Weise kompensatorisch, also ersatzweise befriedigt werden. In meinem Buch ,,Der Gefühlsstau“ beschreibe ich die Machthaber, die Karrieristen, die große Zahl der Mitläufer, die Oppositionellen und schließlich auch die Flüchtenden und Ausreisenden, die unser Land verlassen haben. Solche sozialen Rollen sind zwar moralisch und strafrechtlich sehr unterschiedlich zu beurteilen, doch aus psychologischer Perspektive vergleichbar.

Die Mächtigen üben gegen andere das aus, was sie selbst schon als Kinder erleiden mußten. Die Karrieristen glauben, daß sie durch Leistung und Anstrengung Liebe verdienen könnten, die sie niemals bekamen. Die Mitläufer wollen nach dem belastenden Prozeß der Anpassung endlich in Ruhe gelassen sein und sie müssen sich immer weiter anpassen auf Kosten ihrer Lebendigkeit, Spontanität und Individualität. Die Oppositionellen protestieren gegen ein äußeres System, um nicht den inneren Protest gegen die ursprünglichen Unterdrücker – die Eltern – erleben zu müssen. Und die Ausreisenden hoffen schließlich, durch äußere Veränderungen ihrem inneren Elend entfliehen zu können. So kann jede soziale Rolle zur Ablenkung von der eigentlichen inneren Not, dem inneren Mangel benutzt werden. So gesehen ist jeder Opfer, weil durch repressive Erziehung in einen inneren Mangelzustand gebracht – und andererseits Täter, weil durch das eigene Verhalten die Störung verfestigt wird zum eigenen Schaden oder zur Schädigung anderer und zur Verfestigung abnormer gesellschaftlicher Bedingungen.

Bei dieser Sichtweise kann deutlich werden, wieso edle und mutige Haltungen, wie sie sich im Antifaschismus ausdrückten, schließlich selbst zur Macht gekommen, erneut autoritär-repressiv entarten, die ursprünglichen Ideale verraten und unter neuem Gewand die alten Verhältnisse fortsetzen. Es reicht also niemals aus, nur das Programm oder die Ideale, die jemand verkündet, einer Bewertung zu unterziehen, sondern es müssen immer auch die ganz persönlichen und häufig unbewußten Beweggründe und Motive für die zur Schau gestellten Werte mit berücksichtigt werden. Denn auch die edelsten Ziele können durch die innere seelische Situation zunichte gemacht werden und genau dies ist jetzt wieder zu befürchten, wenn wir nur äußere Veränderungen anstreben und nicht unsere innere Einengung, Störung und Fehlentwicklung sehen, verstehen lernen und schließlich auch vermeiden können.

A.P.: Sie sprachen von der Schuldteilung zwischen der angepaßten Masse und den Unterdrückern.

Es ist sicher richtig, daß der eine ohne den anderen nicht existieren kann. Aber ist es wirklich richtig, diese Schuld gleichzusetzen? Wäre das nicht gleichbedeutend mit einer Gleichsetzung zwischen Ceausescu und den Tausenden Rumänen, die er umgebracht hat oder zwischen Honecker und den Leuten, die wegen ihrer politischen Gegnerschaft eingesperrt, ausgebürgert oder bei Fluchtversuchen erschossen wurden?

Maaz: Das ist wichtig, daß Sie diese Frage noch mal so stellen. Wir müssen schon streng unterscheiden zwischen den psychologischen, unbewußten Mechanismen, die das Verhalten von Menschen in den tieferen Wurzeln erklären und verstehen lassen und der moralischen Bewertung und der strafrechtlichen Verantwortung für das Verhalten. Man kann strafbares Verhalten natürlich auch psychologisch deuten und verstehen, aber dies entschuldigt, bis auf wenige Fälle schwerer Krankheit, das Verhalten noch nicht und schließt natürlich auch notwendige Strafe und Sühne nicht aus.

Ich glaube, daß es richtig ist, daß jeder Mensch in der Verantwortung ist, sein Verhalten immer wieder kritisch zu reflektieren, bestehende gesellschaftliche Normen nach ethischen Maßstäben kritisch immer wieder zu prüfen und die Frage von Schuld, nicht nur an strafrechtlichen Normen festzumachen. Es gibt ja immer wieder auch juristische Normen, die nach politischen Grundsätzen durch die Machthaber festgesetzt werden und dann erscheint kriminelles Verhalten als durchaus rechtsstaatlich. Diese Gefahr ist in allen totalitären Systemen gegeben. Wenn wir also von Schuld sprechen, dann müssen wir unterscheiden zwischen vergleichbaren psychologischen Hintergründen für Fehlverhalten und Schuld aus moralischer und strafrechtlicher Bewertung, die möglichst einer universalen Ethik standhalten muß.

Dies ist natürlich ein schwieriges Kapitel, und schlüssige Antworten sind bis heute nicht endgültig gefunden. Es ist immer wieder die Verständigung und Auseinandersetzung aus verschiedener Perspektive gefordert, so zum Beispiel aus philosophischer, anthropologischer, theologischer, rechtswissenschaftlicher und psychologischer Sicht.

Wenn ich also die psychischen Mechanismen der verschiedenen Formen der Kompensation inneren Mangels vergleiche, so ist damit nicht der Unterschied in Verantwortung und Schuld nivelliert, der zum Beispiel besteht zwischen einem Mächtigen, der foltern und morden läßt und einem Angepaßten, der nur Unrecht toleriert. Auch wenn wir die Wurzeln für verbrecherisches Verhalten in den Erlebnissen und Erfahrungen der frühen Kindheit erkennen können, so ist doch kein Mensch aus der Verantwortung für sein Verhalten entlassen. 

A.P.: Sie hatten schon in den Raum gestellt, daß Sie bei vielen Menschen psychische Merkmale gefunden haben, die Sie sowohl als stalinistisch als auch als faschistisch bezeichnen. Gibt es da nicht doch Unterschiede? Wie kamen Sie zu dieser Gleichsetzung?

Maaz: Ich setze nicht Faschismus und Stalinismus in ihrer äußeren gesellschaftlichen Bedeutung und Auswirkung gleich, sondern ich meine die durchaus vergleichbaren psychischen Strukturen, wie sie bei Menschen in totalitären oder autoritären Gesellschaftsformationen zu finden sind. Dabei geht es um die Entstehungsvorgänge von entsprechenden Charakterverformungen, also um Erziehung mit Anpassungsdruck und Unterwerfung, um sogenannte Gehirnwäsche und Meinungsmanipulation und vor allem um die mangelnde Befriedigung der natürlichen Grundbedürfnisse und deren erzwungene Umleitung in Ersatzbedürfnisse.

Wenn es auch durchaus zwischen dem Nationalsozialismus und dem real existierenden Sozialismus äußere Ähnlichkeiten gab – wie zum Beispiel im Führerkult, den Massenritualen und grotesken Aufmärschen, den absurden Phrasen und dem Terror gegen Andersdenkende – so gibt es natürlich auch erhebliche Unterschiede, wenn wir nur an den angezettelten Krieg und die Massenvernichtung der Juden denken. Aber meine Perspektive will vor allem auf die Vergleichbarkeit der inneren Strukturen hinweisen, die unerkannt und unaufgelöst immer wieder bereit sind, totalitäre Systeme zu tragen, ja sogar auch aktiv mitzugestalten.

A.P.: Wenn die psychische Basis für Stalinismus und Faschismus identisch ist, dann brauchen wir uns nicht zu wundern über das Aufflackern von neofaschistischen Tendenzen oder von Radikalismus und Rowdytum auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, weil wir die Basis dafür mit unserer stalinistischen Erziehung selbst geschaffen haben. Bisher blieb das nur durch den allgewaltigen Kontroll- und Überwachungsstaat verborgen. 

Maaz: Ja, in den radikalen Gruppen äußert sich etwas symptomatisch, was das ganze Gesellschaftssystem ausgemacht hat und was in den meisten Menschen innerlich latent vorhanden ist. Ähnliches kennen wir aus der Familientherapie, wenn zum Beispiel ein Kind auffällig wird oder erkrankt, dann kann es der Symptomträger des gestörten Familiensystems sein. Und es hat in der Regel wenig Sinn, das Kind therapieren zu wollen, sondern man muß das ganze System als gestört erkennen und gesündere Beziehungen untereinander ermöglichen helfen. So weisen auch radikale Gruppen auf etwas hin, was als Störung der gesellschaftlichen Entwicklung möglichst verborgen bleiben soll. Das sind in diesem Zusammenhang vor allem die autoritär-repressiven Mechanismen, also Unterdrückung und Unrecht, Kränkung und Demütigung, die zum Beispiel viele Kinder erfahren müssen. Und späteres gewalttätiges Verhalten ist dann nur eine Form, mit dieser seelischen Belastung irgendwie umzugehen und fertigzuwerden.

A.P.: Dann drückt sich möglicherweise auch in solchen Parolen wie ,,Nazis raus!“ eine andere Form von Radikalismus aus, die aber auf ähnlichen psychischen Mechanismen beruhen?

Maaz: Ja, man würde damit nur Symptomträger beseitigen, also Symptome bekämpfen wollen, man würde die Ursachen unaufgedeckt lassen und damit letztlich das ganze Problem nur verschleiern und verschlimmern. Immer, wenn wir mit Fingern auf die anderen zeigen, die böse sein sollen – was natürlich besonders leicht fällt, wenn tatsächlich auch Böses getan wird -, dann wollen wir von unserem eigenen Bösen ablenken und projizieren dies auf andere.

 

 

Der Text ist die bearbeitete Fassung einer Jugendradio-DT-64-Sendung mit Hans-Joachim Maaz. Sie wurde am 20.1.1990, 20.03- 21 Uhr unter dem Titel „Mensch, Mensch: Die psychische Revolution“ , Teil 1, ausgestrahlt. Frühere Veröffentlichungen finden sich in ICH – die Psychozeitung 2/90 sowie in „Weltall, Erde …ICH“ bzw. www.weltall-erde-ich.de.

Hier ist ein Auszug der Sendung zu hören.

Tipp zum Weiterlesen:

Psychische Revolution und therapeutische Kultur – Vorschläge für ein alternatives Leben.