Archiv der Kategorie: Zur Geschichte der Psychoanalyse und speziell zu Wilhelm Reich

Lore Reich Rubin ist verstorben.

Am 24. Februar 2024 ist Wilhelm Reichs jüngere Tochter Lore verstorben, kurz vor ihrem 96. Geburtstag.
Dass ich sie 2007 kennenlernte, war eines der Motive, mich von da an intensiv mit Wilhelm Reich zu befassen. In der Einleitung zur dritten Auflage von „Unpolitische Wissenschaft?“ habe ich dazu geschrieben:

Die Vorarbeiten zu diesem Buch begannen 2007, im Jahr von Wilhelm Reichs
110. Geburts- und 50. Todestag. An Reichs Berliner Wohnhaus – das mit Fug und
Recht als »Geburtshaus der Körperpsychotherapie« angesehen werden kann –
wurde damals eine Gedenktafel eingeweiht. Dabei kam ich mit Lore Reich Reich,
Psychoanalytikerin und jüngere Tochter Reichs, in Kontakt, was sowohl einen lebendigen
Austausch als auch eine Verabredung zum Theaterbesuch nach sich zog.
Denn in der Probebühne der Staatsoper wurde gerade – glückliche Fügung! – ein
1946 entstandener Text ihres Vaters in dramatisierter Fassung gegeben: Rede an den kleinen Mann. Vor Veranstaltungsbeginn zeigte ich Lore Rubin Reich den vom Aufführungsort
nur wenige hundert Meter entfernten Bebelplatz gegenüber der Humboldt-
Universität: Hier wurden am 10. Mai 1933 tausende mit nationalsozialistischen
Auffassungen unvereinbare Schriften verbrannt. Nur vier den Initiatoren der
Vernichtungsaktion offenbar besonders verhasste Psychoanalytiker waren, soweit
bekannt, davon betroffen. Lore Reich Rubins Vater war einer von ihnen.
Dieses Zusammentreffen verstärkte meinen Wunsch, zu erfahren, wie überhaupt im
faschistischen Deutschland mit analytischen Schriften umgegangen wurde – ohne zu ahnen, dass daraus eine siebenjährige Suche in unzähligen Dokumenten, diversen Archiven und Institutionen werden sollte, bei der sich die zu beantwortenden Fragen immer mehr ausweiteten.

Roland Kaufhold hat Lore für haGalil mit einem ausführlichen Nachruf geehrt.

Lore Reich Rubin (1928 – 2024), links um 1932 fotografiert von ihrem Vater in ihrer Berliner Wohnung, rechts vor demselben Haus am 23.6.2007. Damals war sie zum ersten Mal seit 1933 wieder in Deutschland.

Sein, Bewusstsein, „Klassenbewusstsein“ – und Unbewusstes. Karl Marx, Wilhelm Reich und die tatsächliche Rolle der Psyche

von Andreas Peglau

Anfang 2024 habe ich einen Beitrag zur „Grundfrage der Philosophie“  veröffentlicht und einen weiteren, in dem ich Wilhelm Reichs Schrift „Was ist Klassenbewusstsein?“ von 1934 vorstelle. Sie bauen zwar nicht direkt aufeinander auf. Aber sie ergänzen sich. Deshalb sind sie hier noch einmal zusammenhängend nachzulesen.
Der rote Faden ist: Die Vorstellungen von Karl Marx vom Bewusstsein – und damit sein Menschen- und Gesellschaftsbild – sind ausgesprochen korrekturbedürftig. 1933/34 hat Wilhelm Reich, zu dieser Zeit noch Kommunist und Marxist, wesentliche dieser Korrekturen vorgenommen. Einige seiner damaligen Erkenntnisse können helfen, die aktuelle politische Situation in der BRD zu verstehen, vielleicht auch positiv zu beeinflussen. Denn sie zeigen: Wir sind keinesfalls passiv-hilflose Marionetten unserer Gesellschaft, wir gestalten sie stattdessen mit – nur leider in hohem Maße unbewusst und entgegen unserer Lebensinteressen.

 

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Die Mehrzahl lebt ihr unterjochtes Dasein unbewusst… Wilhelm Reichs Weiterführung der „Massenpsychologie des Faschismus“ im Jahr 1934

von Andreas Peglau

 


1933 war der aus Deutschland geflüchtete Wilhelm Reich aus den kommunistischen und den psychoanalytischen Organisationen ausgeschlossen worden und hatte im dänischen Exil die Massenpsychologie des Faschismus[1] veröffentlicht. 1934 begann er mit der Herausgabe der Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie.[2] Dort erschien auch sein, unter dem Pseudonym „Ernst Parell“ verfasster Aufsatz „Was ist Klassenbewusstsein?“, den er zusätzlich als 72-seitige Broschüre drucken ließ.[3]

Anknüpfend an die Massenpsychologie wollte Reich hier, so der Untertitel, einen „Beitrag zur Neuformierung der Arbeiterbewegung“ leisten – welche nach der nationalsozialistischen Machtübernahme und Zerschlagung der „linken“ Organisationen in Deutschland zwingend nötig geworden war. Dazu müssten, meinte Reich, jene Fehler der „Linken“ analysiert werden, die diese Machtübernahme begünstigt hatten. Neben dem Torpedieren einer antifaschistischen Einheitsfront stellte er insbesondere das anhaltende „Unverständnis vieler Wirtschaftspolitiker für psychologische Fragestellungen überhaupt“ [4] in den Vordergrund:

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Alexander Neills SUMMERHILL-Projekt. Hörbuch kostenlos herunterladen und anhören

Dresden-Hellerau, Festspielhaus. In diesem Gebäude startete A.S. Neill 1921 sein Schulprojekt (Foto: Gudrun Peters)

Alexander Sutherland Neill wurde 1883 geboren. Zwei Jahre nachdem er in Dresden-Hellerau sein erstes Schulprojekt ins Leben gerufen hatte, erfolgte 1923 eine Neugründung in Südengland, in einem Haus, das den schönen Namen „Summerhill“ trug: Sommerhügel.
Diesen Namen nutzte Neill dann auch beim endgültigen Umzug nach Suffolk.
1973 ist Neill gestorben, kurz vor seinem 90. Geburtstag.

Das Summerhill-Projekt, inzwischen geleitet von Neills Tochter Zoё Neill Readhead, ist noch immer sehr lebendig. Es steht für:

– die freie Entfaltung von Kindern,
– ein nicht-autoritäres Erziehungs- und Bildungskonzept mit Schüler-Selbstregierung,
– das uns angeborene Potential, liebevolle und friedfertige Wesen sein zu können und sein zu wollen.

Gerade Letzteres kann in einer Zeit, in der diverse politische Akteure und Medien wieder einmal „zu den Waffen!“ rufen, gar nicht intensiv genug betont werden. Weiterlesen

Was die Massen zum Faschismus treibt. Ein Beitrag für das Journal JACOBIN

von Andreas Peglau

Vor 90 Jahren, im Spätsommer 1933, erschien Wilhelm Reichs Klassiker »Massenpsychologie des Faschismus«. Das Buch war sein Versuch, die Anziehungskraft der Nazi-Ideologie zu erklären und gleichzeitig einen blinden Fleck der marxistischen Gesellschaftstheorie auszufüllen.

 

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Apolitical Science? Wilhelm Reich and Psychoanalysis in National Socialism. An abridged version (2023)


by Andreas Peglau

Please cite as: Peglau, Andreas (2023): Apolitical Science? Wilhelm Reich and Psychoanalysis in National Socialism. An abridged version (https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/apolitical-science-wilhelm-reich-and-psychoanalysis-in-national-socialism-an-abridged-version-2023)

Here you can download the pdf version – differing in some illustrations – of the following text.

The forwarding and distribution of this text for non-commercial purposes is expressly desired.

 

 

Introduction


In 2013, my dissertation „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“ was first published as a book. In 2015, the second edition followed and in 2017, the Psychosozial-Verlag Gießen brought it out in a third and expanded edition.

In a review, philosopher Werner Abel described it as „one of the most important books on the history of psychoanalysis, making its decline from a socially critical theory and practice to a medicalised, supposedly ‚apolitical‘ science comprehensible in detail for the first time.“.

The psychoanalyst Bernd Nitzschke stated: „The interweaving between the fate of psychoanalysis in the Nazi state and the history of Wilhelm Reich’s exclusion, persecution and emigration, which Peglau meticulously reconstructs, is the lynchpin of the book, which is an indispensable reference point for anyone who wants to deal with the Nazi history of psychoanalysts without blinkers in the future.“

I then compiled some of the most important results of my years of research in 2019 – with the kind permission of Psychosozial Verlag – in an abridged version in the orignal German. It has since been downloaded several thousand times from my website.

In order to make this information even more widely available, I have now supplemented and updated the text and translated it into English with the help of DeepL. Weiterlesen

Concepts of Man

by Andreas Peglau[1] 

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Each and every one of us has – at least unconsciously – an image or concept of Man: Assumptions about what people are like in general, good or bad, capable of learning and changing or not, reliable or unreliable, lazy or industrious, under what circumstances they feel comfortable, how they react in a particular situation, what makes them happy, sad or angry, what drives them, what can influence them, etc.

Depending on what we consider to be true in this respect, we also assess what causes and remedies there are for negative social developments – such as the fascistoid ones. Weiterlesen

Links to download (most of the) English language articles as pdf

Please note the following:  My English skills are not very good. Most of the following texts were therefore first translated with DeepL and then corrected by me. I am sure that there are still translation errors in these articles – and ask those who discover such errors to send a message to info@andreas-peglau-psychoanalyse.de
The „English section“ also contains some articles that are not available as pdf.

 

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Wilhelm Reich and the first „Unity Association“ in Düsseldorf

by Andreas Peglau [0]

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It was already clear that Düsseldorf and the Lower Rhine region played an important role for the sexual reform organization that Wilhelm Reich was involved in founding and leading. It was also known that Reich had a significant influence on the founding conference of the first „Unified Association for Proletarian Sexual Reform and Maternity Protection“ (UA), which took place in Düsseldorf on May 2, 1931 (see here). A number of things can now be added to this. Weiterlesen

Mass Organization or „small splinter group“? About the German „Sex-pol“

by Andreas Peglau[1]

For a better understanding of this text and what Reich called „Sexpol“, it is recommended to read in advance The Unified Associations for Proletarian Sexual Reform and Maternity Protection and Wilhelm Reich’s real role in the German „Sex-pol“


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Already during his lifetime Reich was the victim of intense slanders. They never stopped. Peter Bahnen has the merit of being the first to reconstruct Reich’s sexual reform activities in Berlin. However, this was done on the basis of a clearly negative bias against Reich. Bahnen also doubted Reich’s figures about the „German Sex-pol“. Weiterlesen