Gespräch mit einem Frisörgehilfen über den Mehrwert (1935) von Wilhelm Reich (alias Ernst Parell)

Vorab.
Reich gründete im skandinavischen Exil 1934 die Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie. Für die Herausgabe und Autorenschaft mancher Beiträge wählte er das Pseudonym „Ernst Parell“. Die Zeitschrift existierte bis 1938.

ZPPPS 1-1934

ZPPS – die erste Ausgabe

Er nutzte sie nicht nur, um gegen den Faschismus anzuschreiben, sondern ebenfalls, um kritisch auszuwerten, was er zuvor an Kontraproduktivem bis Reaktionärem innerhalb von Psychoanalyse und Arbeiterbewegung erfahren musste.
Letzteres betraf auch eine Art von Wissensvermittlung, wie sie selbst in der Zeitschrift Der Marxist auftauchte. Mit dieser Publikation – zu deren Redaktionskollegium Reich 1931/32 gehörte – wollte die ja tatsächlich populäre und volksnahe Marxistische Arbeiterschule MASCH noch größere Kreise erreichen.
„(D)ie Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“, hatte Marx geschrieben. Aber wer die Massen „ergreifen“ will, sollte sich verständlich ausdrücken – ein Problem, das sich seither nicht erledigt hat.
Andreas Peglau

 

Wir begingen bisher in der Diskussion einen ganz schweren Fehler. Wir ließen uns auf die hochgelehrten Debatten über „Basis und Überbau“, „Rückwirkung auf ökonomische Basis“, „strukturelle Reproduktion des gesellschaftlichen Systems“, „das Interesse des Unternehmers an der Profitrate der Kriegsindustrie“ u.s.w. ein, statt unserem Grundsatz treu zu bleiben, die Diskussion von vornherein revolutionär, d. h. allgemein verständlich zu führen. An einem Beispiel soll gezeigt werden, wie ein und dasselbe sachlich richtig, aber politisch-propagandistisch richtig bzw. falsch dargestellt sein kann. (…)

 

Frisörgehilfe: Facon oder Haarschneiden?,
Kunde: Bitte haarschneiden, aber eckig, nicht rund.
(Pause)
F.: Was sagen Sie zu den bösen Zeiten?
K.: Ja, schlimm! Wo das wohl hinführt?
F.: Ach, die Rowdys werden doch einander die Gurgeln durchschneiden und der Betrogene ist man auf jeden Fall, ob nun Kommunisten oder Nazisten. Die einen sind so viel wert wie die anderen.
K.: Vielleicht haben Sie recht, ich verstehe nichts von Politik.
F.: Ich bin froh, dass ich mein Auskommen finde, und sonst will ich Ruhe haben.
K.: Wie viel verdienen Sie eigentlich?
F.: 100 Mark im Monat.
K.: Können Sie davon leben?
F.: Es geht so recht und schlecht. Ich möchte nun gerne heiraten, und es braucht lange, bis meine Braut und ich soviel zusammengespart haben, dass wir eine Wohnung mieten können. Ich arbeite schon 10 Jahre in diesem Geschäft und habe es noch nicht beisammen.
K.: Und wie ist Ihr Chef?
F.: Ach, sehr anständig. Manchmal etwas brummig, aber man kommt mit ihm aus.
K.: Wie viel Kunden bedienen Sie eigentlich im Tag?
F.: Je nach dem Tag 10 bis 15. Am Sonnabend werden es mehr.
K.: Das heisst, die 15 Kunden bezahlen 15 Mark ins Geschäft. Ja, aber Sie bekommen doch nur 3,50 Mark am Tag? Wo bleibt denn der Rest?
F.: Sie unterschätzen die Kosten unseres Geschäfts. Licht, Telefon, Versicherung, Instrumente, Miete des Lokals, das frisst ja sehr viel.
K.: Es würde mich interessieren, wie viel von den 15 M. im Tag darauf aufgeht.
F. (denkt nach): Na, mindestens 8 M.
K.: Ja, da bleibt aber noch immer ein Rest von etwa 9–10 M.
F.: Ja, das Geschäft muss ja einen Überschuss haben, denn der Chef hat ein grosses Risiko. Z. B. wenn einmal weniger Kunden sind. Oder in schlechten Zeiten.
K.: Bekommen Sie auch mehr, wenn das Geschäft übervoll ist?
F.: Nein, wieso? Ich bin doch fest angestellt.
K.: Ja, aber ich verstehe nicht. Sie bekommen nicht mehr, wenn Sie mehr arbeiten? Aber von dem, was Sie durchschnittlich erarbeiten, behält der Chef einen Fond für schlechte Zeiten.
F.: Ja, da haben Sie eigentlich recht.
K.: Wenn ich Sie recht verstehe, erarbeiten Sie also im Tage nach Abzug aller Unkosten sagen wir 10 bis 12 M. und davon erhalten Sie 3 bis 3,50. Und wenn das Geschäft dauernd schlechtgeht, dann werden Sie entlassen, haben also von der Reserve nichts. Wofür eigentlich wird die verwendet?
F.: Nun, der Chef muss ja auch die modernen Maschinen anschaffen. Z. B. ersetzen wir gerade jetzt die Handschneidemaschinen durch die elektrischen.
K.: Welche Bedeutung hat denn das?
F. (erstaunt): Wie, Sie verstehen das nicht? Das ist doch sehr einfach! Während ich jetzt 10 Kunden im Tage behandle, kann ich dann leicht 20 bedienen, weil es schneller geht.
K.: Und diese zwanzig zahlen wieder eine Mark, und Sie, wie viel bekommen Sie dann?
F. (noch erstaunter): Na natürlich weiter meine 100 M.
K.: Entschuldigen Sie bitte meine Neugierde, ich kenne mich da gar nicht aus und bin nur etwas erstaunt. Mit der besseren Maschine erarbeiten Sie dann 20 M. und bekommen selbst weiter immer nur 3,50. Dann wächst ja der Überschuss von 8 auf etwa 13? Wo kommt das Geld hin?
F. (stutzt): Sie haben ja eigentlich recht, das ist schon eine Frage. Aber wissen Sie, ich bin durch die Arbeit so müde, dass ich gar nicht dazu komme, und schon froh bin, mir darüber den Kopf nicht zu zerbrechen und nur meine Stellung zu behalten. Sie müssen nämlich wissen, dass kommende Woche zwei von 5 Gehilfen abgebaut werden. Und ich muss schauen, dass ich nicht rausfliege.
K.: Das muss ja schlimm sein, so Tag aus Tag ein zehn Stunden im Geschäft zu stehen – und Ihr Urlaub?
F.: Ja, ich habe 14 Tage im Jahr. Dann aber gehen wieder andere auf Urlaub und dann muss man wieder mehr arbeiten. Und der Chef fährt nun zwei Monate weg.
K.: Wo nimmt aber der das Geld her, so lang weg zu bleiben?
F.: Ach der, er hat ja eine Villa in Dahlem.
K.: Ja, wieso denn?
F.: Na, der ist doch schon 30 Jahre Geschäftsinhaber!
K.: Ja, arbeitet er denn?
F.: Ach nein, nur gelegentlich hilft er mit. Aber es ist ein gutgehendes Geschäft.
K.: Hören Sie mal. Ich verstehe zwar nichts von diesen Dingen, aber ich glaube, seine Villa und sein Sommerurlaub sind bezahlt von den 8 oder 13 M., die Sie für „Geschäftsreserven“ erarbeiten.
F.: Ach, das glaube ich nicht. Oder – vielleicht haben Sie recht? Das wäre aber sehr sonderbar. Ich würde gern noch mal mit Ihnen drüber sprechen. Sie haben so ein Stück gesunden Menschenverstand. Da kann man sich wohl fühlen.

In diesem Gespräch ist noch kein Wort über hohe Politik gefallen, aber der Frisörgehilfe hat selbst aus seinem Leben die Theorie des Mehrwerts, der Rationalisierung und der Arbeitslosigkeit entwickelt und überdies Vertrauen zum „Kunden“ gewonnen. Man braucht ihn nicht erst darüber zu belehren, was Rationalisierung oder Ausbeutung ist, er hat es selbst geschildert. Was er nicht hat, ist die Verknüpfung des Bewusstseins von seiner Arbeit und Mehrarbeit mit der Villa des Unternehmers. Er hat auch keinerlei Bewusstsein von seiner Identifizierung mit dem Unternehmer. Und er hat auch kein Bewusstsein von der Verknüpfung der hohen Politik, die er ablehnt und fürchtet, mit seinem Leben. Es ist nun ein Leichtes, ihm dieses Bewusstsein zu bringen, weil es in dem von ihm selbst Gebotenen und Erlebten drinsteckt und nur entwickelt werden muss.
Sehen wir uns nun aber die zwar sachlich richtige, aber psychologisch falsche Darstellung der Wertlehre an.

„Der gesamten gesellschaftlich-abstrakten Arbeit steht nun das gesamte, mit dieser Arbeit hergestellte Gebrauchswert-Quantum gegenüber. Wir können also dieses ‚Gesamtprodukt‘ in der abstrakten Gesamtarbeit ausdrücken. Diesen Ausdruck wollen wir den – Wert nennen. Zusammenfassend: Auch unter ‚Wert‘ einer einzelnen Ware soll nichts anderes verstanden werden als ein (durch den jeweiligen Stand der Produktivkräfte) bestimmtes Quantum, das einen (in seiner Grösse wiederum durch den Stand der Produktivkräfte bestimmten) Teil der Gesamtarbeit ausmacht.“

Stammen diese Sätze aus einem Lehrbuch der Wirtschaftsphilosophie für Doktorkandidaten?
Nein, sie sind der Zeitschrift „Der Marxist“ entnommen (Dezember 1931)[i], die von der marxistischen Arbeiterschule in Berlin zu Propagandazwecken herausgegeben wurde. Denken wir uns unsern Frisörlehrling, der etwa von einem eifrigen Kunden ein solches Heft in die Hand gedrückt bekommt: „Lesen Sie das, Sie werden auch für das Verständnis Ihrer eigenen Lage etwas daraus lernen.“ Doch nach einer solchen Leseprobe wird er das Heft wahrscheinlich kopfschüttelnd aus der Hand legen. Die Kommunisten, von denen er gehört hat, dass sie auf Grund einer merkwürdigen, aus Moskau importierten Theorie alles kaputt machen wollen, werden ihm noch fremder und unverständlicher geworden sein.

*

 

[i] Der Marxist, Heft 3/1931 (Dezember), Hans Günther: Die Marxsche Wertetheorie, Teil 3, S. 23–29, Zitat auf S. 23–24. Der Originaltext beginnt mit „Dieser gesamten …“.  Vor „Zusammenfassend …“ enthält Reichs Wiedergabe eine längere Auslassung, Der ausgelassene Text trägt freilich auch nicht zu größerer Klarheit bei.  Hans  Günther, Ökonom und Schriftsteller, starb 1938, mit 39 Jahren in einem stalinschen Lager an Typhus.

Gekürzt entnommen aus Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, Band 2, Heft 1 (1935), S. 46–48. Der gesamte Text ist hier zu finden:  https://archive.org/details/ZeitschriftFrPolitischePsychologieUndSexualoumlkonomieIi1935Heft1/page/n47

Tipps zum Weiterlesen:

Die Marxistische Arbeiterschule MASCH

»Die Psychoanalyse bemüht sich, (…) unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen (…) umzuformen“. Das 1933er »Memorandum«