von Andreas Peglau
Ich halte viele der Erkenntnisse von Karl Marx und Friedrich Engels für unverzichtbar, um ausbeuterisch-unterdrückende Systeme, insbesondere das kapitalistische zu begreifen und durch eine bessere Gesellschaftsordnung zu ersetzen. Gerade deshalb lohnt es sich, jene Dimension hinzuzufügen, um die Marx und Engels weitgehend einen Bogen machten:[1] die psychosoziale.
Dass auch im „realen Sozialismus“ das angemessene Einbeziehen dieser Dimension unterblieb, hat maßgeblich zu dessen Scheitern beigetragen. Konzepte für künftige soziale Umwälzungen werden ebenfalls nur in dem Maße umsetzbar sein, wie ihnen ein ganzheitlicher Blick zugrunde liegt – also ein Blick, der auch über Marx und Engels deutlich hinaus geht.
Wie ich mir ein Anknüpfen an Marx vorstelle, das ohne dessen thematische Selbstbeschränkungen auskommt, will ich an einem einzigen, allerdings bedeutungsschweren Satz zeigen. Dabei habe ich nicht den Anspruch, etwas als erster zu formulieren, sondern nur, meine Sicht zusammenzufassen. [2]
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1859 veröffentlichte Karl Marx die Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Im Vorwort grenzte er sich so von der idealistischen Philosophie ab:
„Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“[3]
Diese Aussage, oft reduziert auf „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“,[4] fand weite Verbreitung.
Einwand 1: Der Satz ist unvollständig.
Aus dem Zusammenhang des Textes und anderen Stellen in Schriften von Marx ergibt sich, dass mit „Bewusstsein“ die gesamte, von ihm nicht weiter differenzierte, psychische Aktivität des Menschen gemeint war. Davon ausdrücklich das Unbewusste abzugrenzen und ihm zum Teil eigene Gesetzmäßigkeiten zuzubilligen, blieb Sigmund Freud vorbehalten, der erst um 1900 umfassend mit seiner Psychoanalyse an die Öffentlichkeit trat.
Dass es einen unbewussten Bereich im Seelenleben gibt, war freilich auch Marx und Engels bekannt. Sie benutzten die Vokabel „unbewusst“ mehrfach, auch vor 1859.[5]
Der Satz von Marx wäre also, zumindest aus heutiger Sicht, so zu komplettieren:
„Es ist nicht das Bewusstsein und das Unbewusste der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein und ihr Unbewusstes bestimmt.“
Freud sollte dann herausarbeiten, dass das Unbewusste nicht zuletzt aus Fehlwahrnehmungen und -verarbeitungen („Neurosen“) besteht, daher „irrationale“ Denk- und Handlungsweisen verursacht. Dass Menschen sich oft irrational verhalten, war jedoch ebenfalls weit vor Freud Allgemeinwissen. Trotzdem haben, soweit ich weiß, Marx und Engels diesen Fakt nicht in ihre Überlegungen einbezogen.
Wenn ich Bewusstsein und Unbewusstes, inklusive Neurosen/ Irrationalem, mit dem Begriff „Psyche“ zusammenfasse, lautet der Satz:
„Es ist nicht die Psyche der Menschen, die ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das die Psyche bestimmt.“
Einwand 2: Der Satz negiert die Wechselwirkung[6]
Würde sie einbezogen, müsste es heißen:
„Es ist das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sowie umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“
Bzw. in meiner Fassung:
„Es ist die Psyche der Menschen, die ihr Sein, sowie umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihre Psyche bestimmt.“
Abgeschwächt – und damit wohl eher im Sinne von Marx:
„Die Psyche der Menschen wird weitaus mehr durch ihr gesellschaftliches Sein bestimmt als ihr gesellschaftliches Sein umgekehrt durch ihre Psyche.“
Darüber würde ich freilich streiten. Angemessener erscheint mir:
„Die menschliche Psyche steht in ständiger Wechselwirkung mit dem gesellschaftlichen Sein.“
Was hier die Priorität hat, was zuerst da war, halte ich für ungeklärt, wahrscheinlich auch für nicht zu klären: eine Huhn-oder-Ei-Frage.
Zudem müsste man diese Aussage differenzieren, zumindest nach Lebensalter, wohl auch nach Art der Sozialisation und sozialer Zugehörigkeit („Klasse“). Das noch wenig entwickelte Bewusstsein, die Psyche eines Neugeborenen wirkt weniger intensiv auf die Umwelt ein als es der Psyche eines Erwachsenen möglich ist. Je starrer, autoritärer, hierarchischer die soziale Ordnung, desto weniger Einfluss hat die Psyche eines Individuums am Fuße der Machtpyramide auf die Gesellschaft – und desto heftiger schlagen die seelischen Befindlichkeiten (und Störungen!) der Führenden zu Buche. [7]
Einwand 3: Der Satz ist tautologisch.
In Wirklichkeit steht auf beiden Seiten SEIN, nur eben verschiedenartiges Sein.
Daher bedeutet der Satz eigentlich:
„Das Sein bestimmt das Sein.“
Auch das Bewusstsein, die Psyche insgesamt existiert objektiv real, ist also Sein. (Man kann sie nicht sehen oder anfassen. Das gilt jedoch ebenso für die Schwerkraft – was niemanden daran hindert, sie als Bestandteil des Seins einzuordnen. Die Existenz, das SEIN der Psyche kann ebenso wie bei der Schwerkraft anhand ihrer Wirkungen nachgewiesen werden.)
Wollte man es differenzierter formulieren, wäre diese Formulierung denkbar:
„Das materielle Sein bestimmt das psychische Sein – und umgekehrt.“
Einwand 4: Der Satz ist ungenau.
Kinder verbrachten auch im 19. Jahrhundert ihre früheste Lebensphase zumeist zuhause. Kinderarbeit setzte erst mit späterem Alter ein, bei Bürgerkindern gar nicht.[8] Obwohl Eltern gesellschaftliche Normen und Werte vermitteln, galten (und gelten) in Familien nicht dieselben Regeln wie im Produktionsprozess.[9] Arbeiter werden zudem nicht in gleicher Weise wie Kinder „erzogen“.[10]
Diese Erziehung prägt die kindliche Psyche hochgradig, schafft nachhaltige psychische Strukturen vor jedem Direktkontakt mit Industrie oder Produktion. Individuelle „Menschwerdung“ beginnt nicht erst mit Arbeit.[11] Hinzu kommt, dass der Sexualtrieb in den psychischen Strukturen von Geburt an eine wesentliche und spezifische Rolle spielt.[12]
Marx und Engels haben jedoch die Prägung von Menschen vor und außerhalb der Produktionssphäre weitestgehend unberücksichtigt gelassen.[13]
In jedem Fall ist es nötig, „gesellschaftliches Sein“ differenzierter zu beschreiben.
Daher ein letzter Formulierungsvorschlag:
„Die Psyche der Menschen entsteht und steht in ständiger Wechselwirkung mit den direkt oder indirekt auf sie einwirkenden biologischen, psychosozialen, politischen, ökonomischen Gegebenheiten.“
Konsequenzen
Obwohl Marx das sicher nicht im Sinn hatte, ließ sich sein Satz so interpretieren, dass, wenn das „gesellschaftliche Sein“ entsprechend geändert wäre, das „Bewusstsein“ als vermeintlich nur abgeleitete Größe schon irgendwie hinterherkäme. So wurde er auch im „realen Sozialismus“ zumeist verstanden – und die Eigendynamik der menschlichen Psyche vernachlässigt, vorhandenes Wissen darüber zum Teil sogar bekämpft. Wenn auch mit „Entnazifizierung“, politischer Schulung, mit sozialistischen Kultur-, Bildungs- und Erziehungsangeboten enorme Anstrengungen unternommen wurden, den „neuen Menschen zu schaffen“: Sie genügten nicht, waren teils kontraproduktiv. Trotz sozialistischer Produktionsverhältnisse war die Masse der DDR-Bürgerinnen und -bürger, waren ihre psychischen Strukturen 1990 noch immer „anschlussfähig“ an die kapitalistische BRD.
Es mag sich in den damaligen philosophischen und politischen Auseinandersetzungen für Marx als Notwendigkeit dargestellt haben, seine These so überspitzt zu formulieren. Diese These markierte offensichtlich auch einen Fortschritt im Denken und ermöglichte konstruktiv-kritische Weiterführungen. Doch wortgetreu an ihr festzuhalten, verzerrt die Realität und behindert das Entstehen von Konzepten, die als Basis sinnvoller sozialer Umwälzungen dienen könnten.
Einer von denen, die über diesen Satz hinausgingen, war Wilhelm Reich. Da er die oben genannten Wechselwirkungen, das Unbewusste und die Rolle von Kindheit, Familie, Erziehung in seine Forschungen einbezog, konnte er 1934 konkretisieren, worauf bei Revolutionen zu achten sei:
„Versucht man die Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann.“[14]
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Bitte zitieren als:
Andreas Peglau (2024): Das Sein bestimmt das Bewusstsein? Vier Einwände gegen die
Antwort, die Karl Marx auf die „Grundfrage der Philosophie“ gab. (https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/das-sein-bestimmt-das-bewusstsein-vier-
einwaende-gegen-die-antwort-die-karl-marx-auf-die-grundfrage-der-philosophie-gab)
An diesen Beitrag knüpft mein nachfolgender an. Hier habe ich beide zusammengefügt – und hier können sie als pdf heruntergeladen werden.
Anmerkungen
[1] Dafür spielte die Abgrenzung zum philosophischen Konkurrenten Max Stirner eine wichtige Rolle – siehe U. Pagel, G. Hubmann, Ch. Weckwerth: Manuskripte und Drucke zur Deutschen Ideologie (Karl Marx; Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA) (2017), U. Pagel: Der Einzige und die deutsche Ideologie (2020), W. Eßbach: Gegenzüge. Der Materialismus des Selbst und seine Ausgrenzung aus dem Marxismus (1982).
[2] Zu den Autoren, die sich weit genauer mit diesem Thema befasst haben, gehört John Erpenbeck. Ihm verdanke ich neben anderen Informationen den Hinweis darauf, dass bereits Lenin der Grundfragen-Antwort von Marx nur eingeschränkte Gültigkeit zubilligte: „Freilich ist auch der Gegensatz zwischen Materie und Bewusstsein nur innerhalb sehr beschränkter Grenzen von Bedeutung […]. Außerhalb dieser Grenzen ist die Relativität dieser Entgegensetzung unbestreitbar“ (W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, Werke, Bd. 14, Berlin-Ost 1962, S. 124). Diese Kritik hat John Erpenbeck in Das Ganze denken (Berlin-Ost 1986) zur Grundlage genommen, um ausführlich „zur Dialektik menschlicher Bewusstseinsstrukturen und -prozesse“ (so der Untertitel) Stellung zu nehmen und Lücken in der marxistischen Subjekt-Theorie zu schließen. Dabei hat er wesentliche Punkte meiner Argumentation vorweggenommen. Werner Abel wies mich u.a. darauf hin, dass sich auch Georg Lukács 1923 in Geschichte und Klassenbewusstsein und späteren Arbeiten kritisch mit der von Marx behaupteten strikten Trennung von Materie und Bewusstsein auseinandersetzte.
[3] http://www.mlwerke.de/me/me13/me13_007.htm
[4] Unter dieses Motto stellte z.B. Otto Finger ein Kapitel seines Buches Über historischen Materialismus und zeitgenössische Tendenzen seiner Verfälschung (Berlin-Ost, 1977).
[5] U.a. 1844 in Die heilige Familie: „HegeIs Geschichtsauffassung setzt einen abstrakten oder absoluten Geist voraus, der sich so entwickelt, dass die Menschheit nur eine Masse ist, die ihn unbewusster oder bewusster trägt.“ (http://www.mlwerke.de/me/me02/me02_082.htm) 1857, im unvollendeten Entwurf einer Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, schrieb Marx über eine „noch unbewusst heuchlerische Form.“ (http://www.mlwerke.de/me/me13/me13_615.htm)
[6] Ohne jemals tiefer ausgelotet zu werden, schimmert diese Wechselwirkung an anderen Stellen durch, so zum Beispiel, wenn Marx 1845 in den Feuerbach-Thesen konstatiert: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss.“ (http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_005.htm)
[7] Auf den Einfluss derer, die „oben“ sind auf jene, die „unten“ stehen, verwiesen Marx und Engels 1848 u.a. mit dem Satz: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“ (http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm) Wilhelm Reich arbeitete heraus, wie diese Einflussnahme geschieht und dass sie eine gegenseitige ist.
[8] Im Kommunistischen Manifest hieß es 1848: „Die bürgerlichen Redensarten über Familie und Erziehung, über das traute Verhältnis von Eltern und Kindern werden um so ekelhafter, je mehr infolge der großen Industrie alle Familienbande für die Proletarier zerrissen und die Kinder in einfache Handelsartikel und Arbeitsinstrumente verwandelt werden.“ (http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm) Für Babys und Kleinkinder war diese „Verwendung“ aber schlicht nicht möglich, für Bürgerkinder traf sie nicht zu.
[9] Desgleichen in Schule, Studium und in den im 19. Jahrhundert aufkommenden Kindergärten.
[10] Arbeiter werden zwar von Unternehmern auf vielfache Weise manipuliert, psychisch für die Arbeit „abgerichtet“, ohnehin von (klein)bürgerlicher Ideologie infiltriert. Aber sie sind nicht in gleicher Weise existenziell abhängig von Unternehmern wie Kinder von Eltern, ihre psychischen Strukturen sind – je älter sie sind, umso mehr – verfestigt, können deshalb nicht mehr so leicht wie bei Kindern geformt bzw. deformiert werden.
[11] Nach heutigem Wissensstand muss der Beginn dieser Prägung bereits im Mutterleib angenommen werden, wo Wirkungen des gesellschaftlichen Seins ja erst recht nur sehr indirekt beim Ungeborenen ankommen. Siehe https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/paradiesische-neun-monate-fruehe-praegungen-zur-gewaltbereitschaft-aus-sicht-der-vorgeburtlichen-psychologie/
[12] Auch die Macht dieses Triebes haben Marx und Engels nachweislich selbst erlebt. Doch dem Gedanken, dass Sexualität eine wesentliche Rolle spielt für Lebensziele und -zufriedenheit, sind sie nicht nachgegangen.
[13] Ein Problem, das dem alten Engels offenbar im Ansatz bewusst wurde. Im Brief an Franz Mehring vom 14. Juli 1893 benannte er einen Punkt, der „in den Sachen von Marx und mir regelmäßig nicht genug hervorgehoben ist […]. Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen.“ (Marx/Engels: Werke, Bd. 39, Berlin-Ost 1968, S. 96). Der Frage nach diesem Wie ernsthaft nachzugehen, führt aber unweigerlich in Sphären vor und außerhalb von Ökonomie und in die Tiefenpsychologie.
[14] W. Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933, Gießen 2020, S. 195. Siehe auch: https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/hoerbuch-wilhelm-reich-massenpsychologie-des-faschismus-1933/
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