von Andreas Peglau
*
KP-Massenorganisationen
Durch die Schaffung von Massenorganisationen versuchte die KPD ab 1924, breitere Bevölkerungskreise zu erreichen und sie gleichzeitig der SPD abspenstig zu machen. Mit dieser Zielsetzung entstanden beispielsweise die »Kampfgemeinschaft der Arbeitersänger«, die »Arbeitermandolinisten« oder der »Verband Proletarischer Freidenker Deutschlands«. Das ging nicht immer einher mit großen Mitgliederzahlen, was vielfach kaschiert wurde durch »korporative Mitgliedschaften«: weitere Vereine traten als Mitglieder ein – was die Mitgliederzahlen auf dem Papier emporschnellen ließ. Dennoch verfügten diese Organisationen in ihrer Gesamtheit über eine beeindruckende Anhängerschaft. Für die Freidenker wurden 1932 immerhin 170.000 Mitglieder, für den Roten Frontkämpferbund zwischen 100.000 und 250.000 und für die Rote Hilfe Deutschlands 1933 sogar 530.000 Mitglieder angegeben bzw. geschätzt. Der Internationalen Arbeiterhilfe gehörten »im März 1931 602 Vereine und Organisationen mit 1.225.000 Mitgliedern an«. An Einzelmitgliedern, also an »natürlichen Personen«, hatte aber auch die IAH wohl nur einige Zehntausend.
Diese Massenorganisationen verstanden sich insofern als »überparteilich«, als sie meinten, die Interessen der gesamten Arbeiterklasse zu vertreten. Der Anteil von Kommunisten war tatsächlich oft eher gering. So setzte sich die Internationale Arbeiterhilfe zusammen aus zwölf Prozent KPD-, acht Prozent SPD-Mitgliedern – aber 80 Prozent Parteilosen. Die Leitung dieser Organisationen lag allerdings grundsätzlich in den Händen von KPD-Funktionären.
Als »Koordinationsinstanz für die im Umkreis der KPD entfalteten soziopolitischen Aktivitäten« – also insbesondere die der Massenorganisationen – entstand 1927/28 die »Arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer Organisationen« ARSO, die somit für mehr als eine Million Mitglieder zuständig gewesen sein muss. 1929 wurde nach gleichem Muster (und als Gegenentwurf sowohl zum sozialdemokratischen Sozialistischen Kulturbund als auch zum nationalsozialistischen Kampfbund für deutsche Kultur) die Interessengemeinschaft für Arbeiterkultur IFA gebildet. Zu ihr gehörte neben diversen anderen Organisationen auch die Marxistische Arbeiterschule MASCH.
Die erste EV-Gründung
Auf Initiative der ARSO wurde am 2.5.1931 in Düsseldorf der erste »Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz« (EV) gegründet.[1] Als dessen Ziel gab man an, die »bisherige Zersplitterung der Sexualreformbewegung« durch eine »Massenbewegung unter einheitlicher, revolutionärer Führung« zu ersetzen. Oder, wie Reich es in seinen Erinnerungen als eigene Zielsetzung formulierte: Die diversen deutschen Sexualorganisationen sollten »durch Anschluß an die Kommunistische Partei […] zu einem einheitlichen sexualpolitischen Verband zusammengeschmolzen werden«.
Der Düsseldorfer Verband war daher nur ein erster Schritt auf dem Weg zum eigentlich Angezielten. Vielleicht erhielt er bei seiner Gründung auch deshalb eine als »provisorisch« bezeichnete Leitung. Aus Mitteilungen der polizeilichen Überwacher geht hervor, dass Reich nicht zu diesem Gremium gehörte. Inhaltlich wurde die Gründungskonferenz jedoch von ihm dominiert. Sie wurde eingeleitet, so schrieb die Warte vom Mai/Juni 1931,
»durch ein groß angelegtes Referat des Genossen Dr. Reich, des bekannten Wiener Sexualberaters, der den Zusammenhang zwischen der sexuellen Not unserer Zeit mit dem kapitalistischen System aufwies und die Wege zeigte, die die sexualpolitische Bewegung zu gehen hat.«.
Der ausführlichen Warte-Zusammenfassung von Reichs Referat – sie nahm mehr als die Hälfte der Kongressberichterstattung auf Seite 6 ein – lässt sich entnehmen, dass er seine sexualpolitischen Thesen und Forderungen, die er bereits im Auftrag der Weltliga für Sexualreform zusammengetragen hatte, in wesentlichen Teilen wiederholte. Seiner Rede folgte laut Warte »starker Beifall der Delegierten«.).[2] Dass im weiteren Verlauf diese Reichsche Plattform, die schon in einer Warte-Veröffentlichung vom April als Basis eines Aktionsprogramms bezeichnet worden war, diskutiert und akzeptiert wurde, bestätigt die Kongressberichterstattung der Warte ebenfalls:
»Der Kongreß begrüßt […] die revolutionäre Politisierung der sexuellen Frage. […] Der Kongreß begrüßt die vorgelegte Aktionsplattform als Diskussionsgrundage für die Schaffung eines Programms der einheitlichen proletarischen Sexualreformbewegung.«.
Weitere Punkte aus der auf dem Düsseldorfer Treffen beschlossenen »Resolution« dürften sich ebenfalls auf Forderungen Reichs in dieser Plattform beziehen: »Gegen die kapitalistische Unterdrückung des Sexuallebens, gegen die sexuale Verdummung, […] für sexuelle Wohnungshygiene, für hygienisch-sexuelle Erziehung der Jugend« (ebd.).
In der ARSO-Zeitschrift Proletarische Sozialpolitik vom Juni 1931 wurde unter der Überschrift »Sexualverbände, an die Front!« die EV-Gründung gelobt und deutlich gemacht, dass man diese vor allem als Keimzelle für das nächste, größere Ziel, die – unter kommunistischer Führung – herzustellende gesamtdeutsche Vereinigung aller proletarischen Sexualverbände, schätzte: »Der Reichsverband wird entstehen […], er muß zu einer mächtigen Waffe des Proletariats werden im Kampfe gegen Kultur- und Sozialreaktion.«
Akzeptanz für Reich
Schon in der Warte vom Mai/Juni 1931 war daher für den 14.6.1931 zu einem weiteren »Einheitskongress für den Bezirk Niederrhein« eingeladen worden, der in Barmen stattfinden sollte. Offenbar sollte auch hierfür wieder ein Konzept Reichs als inhaltliche Grundlage dienen: Am 9.6.1931 verteilte die IFA einen von Reich verfassten »Entwurf für unsere Arbeit in den Sexualorganisationen«, in dem er seine Plattform auf die Belange eines »Deutschen Reichsverbandes für proletarische Sexualpolitik« zurechtgeschnitten hatte – also der angezielten gesamtdeutschen Organisation. Für den »Entwurf« hatte Reich die Weltliga-Plattform sowohl gekürzt wie ergänzt, konkretisiert und in manchen Formulierungen auch verschärft. So hieß es nun beispielsweise zusätzlich: »Die sexuelle Unterdrückung […] stützt die Familien- und Eheordnung, welche zu ihrem Bestande Verkümmerung der Sexualität erfordert«, sie mache »die Kinder und Jugendlichen den Eltern und auf diese Weise später die Erwachsenen der staatlichen Autorität und dem Kapital hörig, indem sie in den Unterdrückten autoritäre Ängstlichkeit hervorruft«. Hier fand sich auch ein weit ausführlicherer Forderungskatalog:
»Aufhebung aller Zwangsbestimmungen über Eheschließung und -trennung, […] Aufhebung jedes rechtlichen und weiteren Unterschiedes zwischen ehelich und unehelich, Beseitigung aller Bestimmungen über Ehebruch, Konkubinat etc., […] Beseitigung der Prostitution durch Kampf gegen ihre Ursachen, die Arbeitslosigkeit, doppelte Geschlechtsmoral und Keuschheitsideologie; […] Ausrottung der Geschlechtskrankheiten durch Massenaufklärung, Massenprophylaxe und hauptsächlich sexualökonomische Regelung der Beziehung der Geschlechter, […] Verhütung von Neurosen und sexuellen Störungen durch entsprechende sexualbefürsorgende Erziehung; […] Ausbildung der Ärzte, Pädagogen und Fürsorger in allen Fragen des sexuellen Seins, […] von der Empfängnisverhütung bis zur Sexualpsychologie, […] Aufhebung aller Bestimmungen und Strafen über den Geschlechtsverkehr unter Blutsverwandten, […] Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Verführung und Vergewaltigung durch Erwachsene, […] vollständige Politisierung der Sexualfrage, […] Streichung […] des Homosexuellenparagraphen, […] Abschaffung aller Gesetze, die die sexuelle Belehrung unter Strafe stellen.«.
Dass die Zuständigen in KPD und EV zu diesem Zeitpunkt hinter Reich und seiner Plattform standen, belegt auch das Folgende: Um die Idee des geplanten reichsweiten Zusammenschlusses und den schon vorhandenen Düsseldorfer EV zu popularisieren, wurde im Juni 1931 vom KP-nahen Verlag für Arbeiterkultur in einer ersten, bereits nach vier Wochen vergriffenen Auflage von 100.000 Stück (!) die Broschüre Liebe verboten hergestellt und zum Preis von 10 Pfennig verteilt.
Dieses Heft enthielt längere Passagen, die entweder von Reich verfasst oder zumindest hochgradig von ihm beeinflusst wurden: Im Abschnitt »Was ist der Wille der Natur?« wird recht sexualökonomisch zum Sexualtrieb argumentiert, in »Die Sowjetunion hat das Sexualproblem gelöst« tauchen Reich-typische Wertungen auf. Darüber hinaus fand sich hier eine Kurzfassung wesentlicher Forderungen aus Reichs Weltliga-Plattform wie: »Abschaffung aller bürgerlich-kapitalistischen Bestimmungen über Eheschließung« und aller »Strafen für sexuelle Verirrungen«, »[G]esellschaftliche Erziehung« der Kinder, »[r]estlose sexuelle Aufklärung der Jugend« und »gründliche Ausbildung« aller Ärzte in Sexualwissenschaft und Sexualpsychologie. Wie sehr Reich bereits akzeptiert wurde, ging außerdem aus der Tatsache hervor, dass auf den letzten Seiten der Broschüre für sein Buch Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral geworben wurde, »zu beziehen durch: Verlag für Arbeiterkultur«. Das heißt, dieser Verlag hatte bereits Verkaufs- und Werbeaufgaben für diese Publikation Reichs übernommen.
Auch späterhin wurden Nachauflagen von Liebe verboten beworben bzw. bekannt gemacht. So enthielt die Warte vom Dezember 1931 die Aufforderung: »Sorgt für Massenvertrieb der Broschüre ›Liebe verboten‹«, in weiteren Ausgaben wurde diese ebenfalls als empfehlenswerte Literatur benannt. Am 23.12.1931 wies die IFA-Reichsfraktion in einem Schreiben an alle deutschen Bezirksfraktionen und KPD-Bezirksleitungen auf die Wichtigkeit der Broschüre hin. Von Liebe verboten entstand schließlich sogar ein Lichtbildstreifen, den – so hieß es noch im Dezember 1932 in der Warte – »jede proletarische, sexualpolitische Organisation vorführen muß«.
Die positive Aufnahme Reichs wird auch illustriert durch die Tatsache, dass die IFA-Reichsleitung zur Diskussion seines »Entwurfs« zum 17.6.1931 in ihre zentralen Räume in der Münzstraße in Berlin-Mitte eingeladen hatte. Auch danach war Reichs Entwurf nicht vom Tisch: IFA- und ARSO-Leitung trafen sich am 17.7.1931 zu einer Aussprache über diese »sexualpolitische Plattform«.
Reich wurde auch direkt in die IFA-Arbeit einbezogen: Ein nicht vor September 1931 entstandener IFA-Bericht benannte ihn als einen von zwei Bearbeitern des benötigten »Referentenmaterials« zu »Ehe, Familie«. Im Freidenkermaterial »Kampagnenplan und Richtlinien für die Arbeit in den sexualpolitischen Organisationen«, entstanden nicht vor Juli 1931, wird auf für diese Ziele wesentliche Literatur hingewiesen. Reich ist sowohl mit Sexualerregung und Sexualbefriedigung als auch mit Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral vertreten. Erneut wird zudem Liebe verboten aufgeführt. Diese Schriften waren allesamt über den Verlag für Arbeiterkultur zu beziehen.
Sexualberatung
Reich gründete und leitete zudem mehrere Berliner »Arbeitersexualkliniken«, die heute wohl als Beratungsstellen bezeichnet würden. Über sie wurde wiederholt in der Warte Mitteilung gemacht. Erstmals hieß es in der Novemberausgabe 1931:
»Das Einheitskomitee für proletarische Sexualreform hat im Oktober in Berlin drei Sexualberatungsstellen, die von geschulten Ärzten geleitet werden, eröffnet […]: Norden: Dienstag, 6–8 Uhr, Müllerstraße 143a, 1 Treppe Osten: Dienstag, 6–7.30 Uhr, Kadiner Straße 17. (Lokal ›Welt am Abend‹.185) Zentrum: 6–8 Uhr, Kronprinzenufer 23, parterre links.«
Im März 1932 wurden – zusätzlich zur Müllerstraße – zwei andere Adressen angegeben: »Lichtenberg, Friedrich-Karl-Straße 23, Freitags, 7–9 Uhr« und »Mitte, Friedrichstraße 121, 3 Treppen rechts, Mittwochs von 5–7 Uhr«.
Auch die Psychoanalytikerin Edith Jacobssohn beteiligte sich an der Beratungstätigkeit. Der Arzt und Sexualreformer Hans Lehfeldt berichtete 1932: »Die Beratungsstellen des Einheitsverbandes in Berlin, die von Dr. Reich gegründet wurden, haben die psychoanalytische Behandlung von Sexualkonflikten zu ihrer besonderen Aufgabe gemacht«. Insofern könnten sich hier – wie schon in Wien – auch noch andere, vor allem wohl »linke« Psychoanalytiker beteiligt haben.
Wie sehr sich Reichs Ansatz unterschied von der üblichen, durch KP-Massenorganisationen durchgeführten Sexualberatung, verdeutlicht ein Bericht der IAH-Beratungsstelle Wedding von 1931. Dort wird geschildert, dass die Frauen „mit freudigerem, frohem Gesichtsausdruck“ zurückkommen aus der Beratung, u.a. „weil sie nun nicht mehr dem Mann die ‚eheliche Pflicht‘ verweigern und somit fremden Frauen in die Arme zu treiben“ brauchen. Kristine von Soden kommentiert: „Ungebrochen hält man an der Institution Ehe als dem einzigem Ort sexueller Verwirklichung fest, gilt die sexuelle Verfügbarkeit der Frau als selbstverständlich“.[3]
Die „Reichsleitung“ und die weiteren EVs
Reich bestimmte also von Anbeginn der EV-Arbeit in erheblichem Maß deren inhaltliche Ausrichtung mit und wirkte mit seinen Konzepten über die Grenzen dieses Vereins hinaus.
Welche Rolle spielte aber die »Reichsleitung«, die Reich wiederholt im Zusammenhang mit dem EV erwähnt und zu der auch er gehörte?
Laut Reich bestand dieses Gremium aus sechs Personen, allesamt Kommunisten. Da waren seinen Worten zufolge zunächst er selbst als »sexualpolitischer Leiter« sowie zwei weitere Ärzte (Leo Friedländer und Henriette „Reni“ Begun). Hinzu kamen laut Reich als »organisatorische und politische« Leiter die IFA-Vorsitzenden Rudolf Schneider und Fritz Bischoff, die auch in der Warte mehrmals als „Reichsleiter“ bezeichnet wurden. Sogar die Dachorganisation ARSO war hochrangig vertreten: durch deren Chef, den ehemaligen Angehörigen des Zentralkomitees der KPD und langjährigen Reichstagsabgeordneten Johannes Schröter. Die auffallende Konzentration höherer Funktionäre belegt zugleich, welche Bedeutung von KP-Seite diesem Gremium und dessen Verantwortungsbereich beigemessen wurde.
Im Statut des Düsseldorfer EV ist eine solche überregionale Führungsinstanz allerdings gar nicht vorgesehen. Sie ist auch nicht gleichzusetzen mit einem neu gewählten Vereinsvorstand, der die provisorische Leitung ersetzt hätte: Der Verein wurde Zeit seines Bestehens von Düsseldorf aus geleitet. Noch neun Monate nach Vereinsgründung, am 15.2.1932, notierte die gut informierte Polizei: »Geleitet wird die Vereinigung von Frau Luise Dornemann, Düsseldorf, Immermannstraße 24. Diese, der Kassierer Alfred Manisch, Düsseldorf, Nordstraße 73, und der Schriftführer Otto Illinger, Düsseldorf, Immermannstraße 24, bilden den Vorstand«. Damit waren zugleich alle wesentlichen, im Statut benannten Leitungsposten erfasst – ohne dass ein Mitglied der »Reichsleitung« genannt worden war.[4] Was war dann aber diese »Reichsleitung«?
Hier ist zunächst einmal wichtig: Es blieb nicht beim Düsseldorfer EV. Möglicherweise weil die gesamtdeutsche Sexualreformorganisation auf sich warten ließ, wurden mit offenbar identischem Titel in anderen Regionen weitere Vereine gegründet. So entstand für die Region Ruhrgebiet ein eigener »Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz« mit Sitz in „Essen, Friedrich-Ebert-Straße 69“. Dessen Statut stimmte mit dem des Düsseldorfer EV auch nicht völlig überein. Die gravierendste inhaltliche Abweichung war, dass nicht auf Reichs »Aktionsprogramm« hingewiesen wurde. Weitere dieser EVs mit eigenen Leitungen entstanden, so erfährt man aus der Warte, zumindest in Sachsen sowie in den Regionen Halle-Merseburg, Mittelrhein und Berlin. Diese verschiedenen EVs verstanden sich aber offenkundig als zusammenwirkende Einheit, über deren Regionalverbände auch in der Warte berichtet wurde. Diese Einheit werde ich daher im Weiteren als Gesamt-EV bezeichnen.
Schon die Existenz dieser formal voneinander unabhängigen Vereine, erst recht der angestrebte noch größere Zusammenschluss erforderte eine koordinierende Instanz. Und eine solche Instanz gab es auch. Sie taucht sowohl in diversen Dokumenten wie in der Warte immer wieder auf, als »Vorbereitendes Einheitskomitee für die Einheit aller sexualpolitischen Organisationen«. Und genau das war, denke ich, die »Reichsleitung«. Das wird auch durch ein Statement belegt (Warte Nr. 6 1932, S. 14), das „die Genossen Bischoff und Schneider“ gegen Verleumdungen in Schutz nimmt. Unterschrieben ist es mit „Vorbereitendes Einheitskomitee, Reichsleitung“. Und in der Warte Nr, 7/1932, S. 13 ist gar von Fritz Bischoff als „Reichsleiter des Vorbereitenden Einheitskomitees“ die Rede.
»Reichsleitung« war zudem ein gebräuchlicher Begriff, so wurde ja auch von der »IFA-Reichsleitung« gesprochen. Die von Reich benannten ärztlichen Leitungs- bzw. Komiteemitglieder einschließlich ihm selbst scheinen dabei das fachliche Expertenteam gewesen zu sein, das die politischen Leiter beraten und unterstützen sollte. Vielleicht stand die gesamte Gruppe darüber hinaus bereit, um die Führung der erst zu schaffenden, übergreifenden Einheitsorganisation zu übernehmen.
Die Komiteemitglieder traten allerdings bereits öffentlich in Erscheinung und beteiligten sich an der Arbeit des Gesamt-EV. Auch für Reich weist die Warte Auftritte bei Versammlungen nach. So konnte man im Dezember 1931 unter der Überschrift »Sexualnot und ihr Ausweg« lesen:
»Zu diesem Thema sprach im Bezirk Niederrhein Dr. Reich, Berlin, in vier Veranstaltungen. Der Referent verstand es, alle die Fragen, die auf der Mehrzahl der Menschen lasten und die infolge der heutigen Sexualerziehung nie ausgesprochen werden, klar und einfach zu behandeln und die Hemmungen seiner Zuhörer zu lösen.«
Reich berichtet, er sei mehrfach in die ursprüngliche EV-Gründungsregion um Düsseldorf gereist, er und andere Mitstreiter seien außerdem im Auftrag des Gesamt-EV nach »Oranienburg, Jüterbog, Dresden, Frankfurt, Steglitz, Stettin u.s.f.« gereist. Spätestens ab der Ausgabe vom November 1931 trat das Komitee zudem als Herausgeber der Warte auf, in der Reich weiterhin Artikel veröffentlichte.
In der Warte wurde auch mehrfach die Kontaktadresse des Komitees genannt: »(Zimmer 162) Berlin C2, Burgstraße 28 V«. In diesem Haus, gegenüber der Berliner Museumsinsel an der Spree gelegen, befanden sich im 19. Jahrhundert die Berliner Börse und die Zentrale der Deutschen Bank. Von 1941 bis 1943 waren das „Judenreferat“ der Staatspolizeileitstelle Berlin der Gestapo und ein sogenanntes „Schutzgefängnis“ dort untergebracht.
***
Anmerkungen
[1] Zumindest die Bezeichnung »Einheitsverband für proletarische Sexualreform« war auch in Reichs 1934er Glossar zum Sonderdruck von Was ist Klassenbewusstsein? enthalten und korrekt eingeordnet. Den kompletten Namen des EV entdeckte erst 1986 Peter Bahnen wieder (Bahnen 1986, S. 95f.). 1988 nahm auch Kristine von Soden mehrfach Bezug auf diesen Verein, den sie korrekt benannte, sogar auf ein persönliches Gespräch mit Luise Dornemann zurückgreifend – ohne freilich eine Verbindung zwischen dem Verein und Wilhelm Reich herzustellen (siehe von Soden 1988, S. 135, 141, 155, 176f. – auf letzteren Seiten wiedergegebenes Dokument siehe auch hier).
[2] Dass in der Warte Worte wie »Einigungskongreß« und »Landeskonferenz« gelegentlich synonym für ein und dieselbe Veranstaltung verwendet wurden, erschwert die Zuordnung. Dennoch kann ich nicht nachvollziehen, warum Marc Rackelmann – einer der ganz wenigen, die sich Reichs Aktivitäten in der KP-nahen Sexualreformbewegung gewidmet haben – dieses Referat dem für den 14.6.1931 geplanten nächsten Kongress zuordnet, zu dem in dieser Warte-Ausgabe erst eingeladen wurde: »Der nächste Schritt: Am 14. Juni: Einigungskongreß für den Bezirk Niederrhein«, »Als Tagungsort ist Barmen vorgesehen. Ueber das Tagungslokal geht euch noch Nachricht zu« (Die Warte Mai/Juni 1931, S. 5). Dass die Zeitschrift zu einer Tagung einlädt, die nicht nur bereits stattgefunden hatte, sondern in eben dieser Zeitschrift sogar schon ausgewertet worden war, wäre absurd. Der Bericht, in dem Reichs Referat wiedergegeben wird, enthält zwar keine Angabe zu Ort oder Datum, an keiner Stelle wird dort jedoch behauptet, dass dieses Referat später oder in Barmen gehalten wurde. Zudem befindet er sich inmitten weiterer Materialien, die sich eindeutig auf den Gründungskongress vom 2.5.1931 beziehen (ebd., S. 5-7). Eine noch eindeutigere Zuordnung wird spätestens dadurch möglich, dass in diesem Bericht mitgeteilt wird, die EV-Leitung sei bei der beschriebenen Veranstaltung erst beauftragt worden, ein Statut auszuarbeiten. In der Mai/Juni-Ausgabe der Warte, in der dieser Bericht stand, war jedoch der Statutenentwurf bereits abgedruckt. Dementsprechend hieß es in der Einladung zu der Veranstaltung am 14.6., dort müsse dann »zu dem in dieser Zeitung veröffentlichten Statutenentwurf Stellung genommen werden«. Da Rackelmann dies falsch zuordnet, kommt er zu falschen Aussagen über das Treffen vom 14.6.1931, dem er nun sowohl die EV-Gründung zuschreibt wie auch all das, was ansonsten in der Warte, S. 6 über den Inhalt der Veranstaltung vom 2.5. steht (Rackelmann 1992, S. 49f.). Aufgrund dieses Irrtums schließt er außerdem, dass Reich sich irre, wenn er vom Gründungskongress in Düsseldorf spricht (Rackelmann 1993, S. 85). So schafft er, wenn auch sicherlich unabsichtlich, einen weiteren angeblichen »Beleg« für die Unzuverlässigkeit der Mitteilungen von Wilhelm Reich. Zutreffend ist zwar, dass Reich sich 1934 – wie schon Bahnen (1986, S. 84) vermerkt – täuschte, wenn er vom EV-Gründungskongress im »Herbst 1931« schrieb. Dieser Fehler ist aber in Reich 1995 bzw. in dessen 1982er Ausgabe, auf die Rackelmann sich bezieht, bereits korrigiert. Wenn Reich hier schreibt: »1931 fand in Düsseldorf der erste westdeutsche Kongress statt« (Reich 1995, S. 164), ist das völlig korrekt. Aber genau diesen Satz lässt Rackelmann weg, vermischt stattdessen Reichs diesbezügliche Aussage von 1934 – ohne das anzugeben – mit dem Text von Reich 1995 bzw. 1982 (Rackelmann 1992, S. 46) – und »entdeckt« dann später diesbezüglich einen angeblich von Reich verschuldeten Widerspruch, der von Rackelmann jedoch selbst produziert wurde.
Ergänzung 19.12.2015: Die Entdeckung der Einladung zum Kongress vom 2.5.1931 mit Reich als Hauptredner hat inzwischen den endgültigen Beweis für die Richtigkeit meiner Darstellung erbracht.
[3] Soden, Kristine von (1988): Die Sexualberatungsstellen in der Weimarer Republik 1919-1933, Berlin: Edition Hentrich, S. 118.
[4] Noch während der am 26.5.1933 erfolgten Beschlagnahme des Eigentums des Düsseldorfer EV durch den NS-Staat wurde im Protokoll »Richard Beck, Düsseldorf, Bahnstraße 70«, als Vereinsleiter bezeichnet, versehen mit dem Zusatz »z.Zt. Konzentrationslager Börgermoor«. Mehr zu Richard Beck in von Soden 1988, S. 155; Sparing 1995.
Genannte Literatur:
Bahnen, Peter (1986): »Massenpsychologie des Faschismus«. Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der politischen Psychologie Wilhelm Reichs, Magisterarbeit (unveröffentlicht)
Bahnen, Peter (1988): Wilhelm Reich – gegen den Strich gesehen, in Pro Familia Magazin 6/1988, S.5-8.
Rackelmann, Marc (1992): Der Konflikt des ›Reichsverbandes für proletarische Sexualpolitik‹ (Sexpol) mit der KPD Anfang der 30er Jahre, (unveröff. Diplomarbeit) FU Berlin.
Rackelmann, Marc (1993): Wilhelm Reich und der Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz. Was war die Sexpol?, Emotion. Beiträge zum Werk von Wilhelm Reich, Nr. 11, Berlin: Volker Knapp-Diederichs-Publikationen, S. 56-93.
Reich, Wilhelm (1995) [1982]: Menschen im Staat, Frankfurt/M.: Stroemfeld/Nexus.
Soden, Kristine von (1988): Die Sexualberatungsstellen in der Weimarer Republik 1919-1933, Berlin: Edition Hentrich.
Sparing, Frank (1995): Der Düsseldorfer „Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz“, in Augenblick Nr. 6/9, S.15-17.
Ausführliche Literatur- und Quellenangaben sowie zusätzliche Informationen in Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und Psychoanalyse im Nationalsozialismus, S. 91-108.
Tipps zum Weiterlesen:
Orgasmus und Revolution. Wilhelm Reich in Berlin-Friedrichshain