War die „Sex-Pol“ eine Bewegung?

von Andreas Peglau

Zum besseren Verständnis dieses Textes empfiehlt es sich, vorab Die deutsche „Sex-Pol“ zu lesen.

***

Noch bevor Reich 1939 vom norwegischen Exil ins US-amerikanische wechselte, war es zum endgültigen Scheitern dessen gekommen, was Reich »Sex-Pol-Bewegung« genannt hatte. Die Gründe dafür lagen wohl ebenso in den Schikanen norwegischer Behörden und den Diffamierungen durch verschiedene Medien und Wissenschaftler des Landes wie in internen Zwistigkeiten und elitären Vorstellungen Reichs. So wollte er nur durch ihn charakteranalytisch Geschulte als »Kerntruppe« der Bewegung gelten lassen. Bereits als Reich im Sommer 1937 das Arbeitsprogramm für das darauf folgende Jahr plante, fand die „Sex-Pol“ keine Erwähnung mehr.

Aber verdient das, was da zerfiel, wirklich den Titel „Bewegung“?

In einem Text, den Reich 1934 in seiner Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie veröffentlichte, hieß es: »Die Geschichte der Sex-Pol-Bewegung beginnt mit Erfahrungen an Wiener Sexualberatungsstellen in den Jahren 1926/30« (Reich 1934, S. 262f.).

Der weitere Text legt nahe, dass dies in eine von ihm sowohl initiierte wie auch inhaltlich geleitete deutsche Sex-Pol-Bewegung mündete. Da es zudem in der gesamten Zeitschrift immer wieder um aktuelle Unternehmungen oder Standpunkte »der Sex-Pol« ging, musste sich wohl beim Lesen der Eindruck ergeben, dass diese Bewegung letztlich auch in Skandinavien Fuß gefasst habe. Insbesondere dadurch, dass er seine früheren Aktivitäten, inklusive jener in den Einheitsverbänden für proletarische Sexualreform und Mutterschutz (EV) rückwirkend als Sex-Pol-Bewegung etikettierte, erweckte Reich die Vorstellung einer von Kontinuität geprägten Entwicklung.

Jahrzehnte später sollte dann ein anonymer Autor die „Sex-Pol“-Geschichte wie folgt kolportieren:

»Reich hatte bereits 1928 aus seiner Erkenntnis, daß der Faschismus mit den politischen und organisatorischen Mitteln der KPs und SPs nicht aufzuhalten war, […] die Bewegung für Sexualökonomie und Politik (Sex-Pol) aufgebaut. Diese verstand sich als Gruppe innerhalb der kommunistischen Arbeiterbewegung. Er war mit dieser Bewegung in Österreich einem so starken gesellschaftlichen, psychologischen und politischen Druck (innerhalb und außerhalb der KPÖ) ausgesetzt, daß er nach Berlin überzusiedeln gezwungen war. Dort baute er die Sex-Pol neu auf. […] In der dänischen Emigration versuchte er wiederum, die Sex-Pol aufzubauen.«

Wie sah die Realität aus?

Am 27.12.1928 erkannten die Wiener Behörden die maßgeblich von Reich und der Sexualreformerin Marie Frischauf initiierte Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung als Verein an. Mitglied konnte laut Statut jeder werden, »der sich zur sozialistischen Weltanschauung bekennt«. Zudem wurde die Verankerung der Beratungs- und Forschungstätigkeit in der Psychoanalyse mehrfach betont. In den sechs Beratungsstellen der Gesellschaft führten Reich und neun weitere »linke« Ärzte und Analytiker sowie ein Jurist und eine Lehrerin zwischen 1929 und 1930 etwa 700 Beratungen durch. Außerdem veranstalteten sie mindestens sieben, offenbar gut besuchte Vortrags- und Diskussionsabende und veröffentlichten die Schriften Sexualerregung und Sexualbefriedigung sowie Ist Abtreibung schädlich? von Marie Frischauf und Annie Reich.

Doch waren sie mit damit schon eine »Bewegung«? Der Politologe Felix Kolb definiert eine soziale Bewegung als »Netzwerk« aus

»Organisationen und Individuen, das auf Basis einer geteilten kollektiven Identität mit Hilfe von überwiegend nicht-institutionalisierten Taktiken versucht, sozialen, politischen, ökonomischen oder kulturellen Wandel herbeizuführen, sich ihm zu widersetzen oder ihn rückgängig zu machen« (Kolb 2002, S. 10).

Die Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung bot als kollektive Identität die Reich-typische Verknüpfung marxistischer und psychoanalytischer Erkenntnisse an und das gemeinsame Engagement dafür, diese per Beratung und Öffentlichkeitsarbeit vor allem für ärmere Bevölkerungskreise nutzbar zu machen. Gut vernetzt war diese Gesellschaft auch: In der Wiener Roten Fahne wurde für ihre sämtlichen Veranstaltungen ebenso geworben wie für ihre Beratungsstellen; Reich war SPÖ-Mitglied, mindestens sieben der zehn Berater waren oder wurden KPÖ-Mitglieder, sechs waren Analytiker oder standen der Analyse sehr nahe. Aber wie viele Menschen beteiligten sich darüber hinaus? Genaueres lässt sich aus den vorliegenden Dokumenten, einschließlich Reichs eigenem Bericht nicht herauslesen. Auch Karl Fallend, der Reichs Wirken in Wien einer gründlichen Untersuchung unterzogen hat. musste die Frage, »inwieweit es der S[ozialistischen] G[esellschaft] gelungen ist, breitere Kreise der Linken für eine Zusammenarbeit zu gewinnen«, »weitgehend offen« lassen (Fallend 1988, S. 117).

Fragen wir daher anders: Welche Mindestanzahl von Menschen hätte eine »Bewegung« miteinander zu verbinden? Vielleicht hilft ein Vergleich. Sigmund Freud sprach, sicherlich bezogen auf die damalige Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, ungefähr für die Zeit ab 1910 von einer »psychoanalytischen Bewegung«. Die IPV hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch erst 53 Mitglieder. Dafür, dies als Bewegung gelten zu lassen, spricht – neben der kollektiven Identität als Psychoanalytiker und dem Bestreben, das menschliche Selbstbild zu wandeln –, dass es auch hier effektive Wirkungen nach außen gab, diverse Kooperationen, also ein »Netzwerk«.

Der Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung ebenfalls um die 50 Mitglieder zuzutrauen, scheint mir realistisch. Ein so öffentlichkeitsorientierter Verein, der sich an alle »Linken« wandte, dürfte im damaligen »Roten Wien« einigen Zulauf gehabt haben. Dies vorausgesetzt, muss dem von Reich dominierten Wiener Netzwerk der Charakter einer regionalen Bewegung zugebilligt werden.

Weder ehemalige Wiener Mitstreiter noch Anhänger begleiteten ihn jedoch Ende 1930 nach Berlin. Hier knüpfte er zwar inhaltlich an seine Wiener Zeit an; organisatorisch war es jedoch fast ein völliger Neuanfang. Zudem schloss Reich sich an eine bereits vorhandene Bewegung, nämlich die der kommunistischen deutschen Arbeiter, an.

Als deren – nur begrenzt schon als „institutionalisiert“ zu bezeichnender – Bestandteil lassen sich auch die EVs verstehen. Aber waren die EVs eine Reich-Bewegung? Sicherlich nicht. Auch wenn Reich für deren inhaltliche Ausrichtung zunächst der entscheidende Ideengeber war: Für die KPD hatten der Düsseldorfer EV und seine Ableger von Beginn an eine ganz andere Aufgabe, als sie Reich vorschwebte.

Offenbar scharten sich um Reich jedoch alsbald engagierte Mitstreiter wie der Pädagoge Fritz Hupfeld, die Psychoanalytikerin Edith Jacobssohn, der Schüler Ernst Bornemann oder MASCH-Hörer. Bedenkt man, dass noch in einer EV-Versammlung von 1933 immerhin 32 von 71 Anwesenden die Anti-Reich-Resolutionen und -Beschlüsse ablehnten, lässt sich schließen, dass die Pro-Reich-Fraktion des EV eine beachtliche Größe und Stärke gehabt haben muss. Bei den insgesamt zu vermutenden 12.000 Mitgliedern sämtlicher EVs dürfte diese Minderheit also etliche hundert Personen umfasst haben. Eine Einschätzung der politisch „linientreuen“ Düsseldorfer EV-Sekretärin Luise Dornemann legt nahe, dass sich diese Personen insbesondere in der Berliner Region konzentrierten: »Wir hatten dort einen schweren Kampf zu führen gegen die Berliner Gruppe, die […] Tendenzen von Psychoanalyse und Sexualreform in diese Organisation trugen«. Da sich Reich, wie bereits dargelegt, sicher nicht nur auf den Verein bezog, wenn er von »Bewegung« sprach, dürfte zu diesem Kreis auch eine größere Zahl von Menschen zu rechnen sein, die keine EV-Mitglieder waren – was auch diverse Zuschriften, die Reich aus dieser Zeit in seinem Archiv gesammelt hat, belegen. Insofern scheint es mir gerechtfertigt, von einer gut vernetzten Reichschen oder sexualökonomischen Bewegung innerhalb und außerhalb des Gesamt-EV zu sprechen.

Im skandinavischen Exil konnte Reich nur Wenige als neuen Kern »der Sex-Pol« um sich scharen; abermals handelte es sich durchweg um andere Personen als zuvor in Deutschland. Er selbst spricht für 1934 von »etwa zwanzig sehr klugen, geschulten, lieben Menschen«, andere 1936 noch immer nur von einer »kleinen Spezialistengruppe«. Die von ihnen erzielten Resultate waren allerdings enorm. Nicht nur mit der Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie wirkten sie nachweislich in andere Strömungen und Kreise hinein. 1935 konnte Reich bereits als Erfolge verbuchen: den »gut organisierten Verlag mit teils gleichmässigem, teils steigendem Absatz«, den »Sexpolfond« aus Dauerbeiträgen und Spenden, »internationale Verbindungen zu Genossen und Institutionen in fast allen Ländern« mit Ausnahme von »Indien, China, Japan, Bulgarien, Italien« sowie zu verschiedenen kommunistischen Parteien, zur Sozialistischen Arbeiterpartei (Willy Brandt), den Trotzkisten, der Westeuropäischen Freidenkerbewegung, den radikalen Sozialdemokraten und Anarchosyndikalisten. „Sex-Pol“-Literatur wie Der sexuelle Kampf der Jugend war bereits in mehrere Sprachen »übersetzt oder in Übersetzung begriffen«. Bei dem um Reich in Skandinavien entstandenen Netzwerk handelte es sich also um eine kleine, aber äußerst effektive überregionale Bewegung.

So gesehen gab es drei personell fast gänzlich verschiedene, inhaltlich jedoch weitgehend aufeinander aufbauende und jeweils von Reich geführte »Sex-Pol-Bewegungen«: eine Wienerische, eine deutsche und eine skandinavische. Den Titel „Bewegung“ verdienen sie in jedem Fall, von Kontinuität kann aber in einem umfassenderen Sinne nicht gesprochen werden.

Die einzige »Klammer«, die Reichs sexualpolitische Aktivitäten über die gesamte Zeitspanne zwischen 1928 und 1937 zusammenhielt, waren er selbst und sein intensives Interesse an diesem Thema, dem er in verschiedenen Ländern und Organisationsformen treu blieb. Die beträchtliche Resonanz, die er und seine jeweiligen Mitstreiter damit erzielten, verebbte dementsprechend rasch, nachdem Reich Land oder Region verließ bzw. verlassen musste. Eine nachhaltige, von seiner Person unabhängige sexualpolitische Bewegung ins Leben zu rufen, gelang ihm nicht.

***

 

Genannte Literatur:

Fallend, Karl (1988): Wilhelm Reich in Wien. Psychoanalyse und Politik, Wien/Salzburg: Geyer-Edition.

Kolb, Fritz (2002): Soziale Bewegung und politischer Wandel, Bonn: Deutscher Naturschutzring.

Reich, Wilhelm (Anonymus) (1934f): Geschichte der deutschen Sex-Pol-Bewegung, in ZPPS Heft 3/4, S. 262–269.

 

Ausführliche Literatur- und Quellenangaben sowie zusätzliche Informationen in Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und Psychoanalyse im Nationalsozialismus, S. 296-302.