Weihnachtsgeschichte. Eine freie Assoziation aus dem Jahre 1977

von A. Nonym

 

Es fing an, Schnee zu rieseln, langsam, aber stetig. „Zu früh!“ murmelte Herbert Meier, doch seine Frau hörte ihm gar nicht zu. Sie war sicherheitshalber schon eine Woche zuvor zu ihrer Tante gefahren.

Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Im Gegenteil. Er trat daher aus dem Schatten der medizinischen Ambulanz und fing an, „Stille Nacht, heilige Nacht“ zu singen. Dann öffnete er die Jacke und strich sich die Hüften platt. Zwei großkalibrige, silberglänzende Pusterohre kamen zum Vorschein.

Mc Meier schaute kurz nach unten und schenkte seinen beiden Lieblingscolts einen aufmerksamen Blick. Er spuckte aus. Dann erstarrte sein Gesicht, nur die zwei mächtigen Kiefer malten weiter und verliehen seinem Kopf das Ansehen eines alten, rostigen Fleischwolfs. Er war jetzt voll konzentriert.

Zwei Stunden schlichen träge vor sich hin. Der Mann an der Ecke Thälmannstraße stand noch immer wie eine Statue aus Gips, Bronze oder Igelit. Er wußte, sein Gegner würde kommen, und er konnte warten. Er hatte es gelernt, zu warten. Dieses lange, ermüdende Warten. Schon als Kind hatte er es gehaßt. Er sah jetzt seinen Vater vor sich: Groß, dunkel und brutal. Sein Vater – er hatte ihn erdrückt mit dem Übergewicht (seiner Persönlichkeit). Damals war er darüber nur leicht verwundert gewesen, heute wußte er, er war kaputt gemacht worden. Langsam, systematisch.

Ringsum gingen die Kerzen an den Weihnachtsbäumen an – die Fenster bekamen einen leisen, traulichen Schein. Es war offensichtlich Zeit. Nun würden dort oben die Kinder aus den Zimmern vertrieben und alles für die sogenannte „Bescherung“ vorbereitet werden.

Er wußte noch, wie es damals bei ihm zu Hause war, und genauso, ganz genauso würde es hier überall aussehen: Zitternd vor Aufregung hatte er vor der Tür gestanden. Die große alte Wanduhr tickte vor sich hin – toter mechanischer Hinweis auf die so unendlich sich dehnende Zeit. Wie lange, hatte seine Mutter gesagt, würde es dauern? Er hatte es vergessen. Aber er war sich auch so vollkommen sicher, sie würden es so lange ausdehnen wie nur irgendwie möglich – würden ihn hier draußen warten und zittern lassen, bis es ihnen keinen Spaß mehr machen würde (was dieses „es“ war, wußte er ganz genau, denn auch die Weihnachtsmusik konnte das Stöhnen und die leisen Schreie seiner Mutter nicht übertönen). Dann würden seine Eltern Hand in Hand aus der Tür treten und sein Vater zu ihm sagen – ganz liebevoll, welcher Hohn! – „Nun komm, mein Kleiner, der Weihnachtsmann war da!“

Wie lange noch?! Er hielt es nicht mehr aus – seine kleinen Fäuste hämmerten gegen die Wohnzimmertür – das Teakholz dämpfte seine Schläge zu schwachem Pochen. Er hörte die Schritte – ganz deutlich – der Vater kam auf die Tür zu. Laute, hastige Schritte.

Dann öffnete sich die Tür – er sprang zurück, als er das wutverzerrte Gesicht seines Vaters sah: „Du weißt, daß du warten sollst, bis der Weihnachtsmann da ist!“ Ganz verschwitzt sah der Vater aus, verschwitzt und erregt, und er beruhigte sich erst, als er anfing, kraftvoll auf seinen Sohn einzuschlagen. Links-rechts, links-rechts: ,Du wartest, bis der Weihnachtsmann gekommen ist!“ Und wieder links – rechts, links -rechts, bis er heulend und mit an tausend Stellen schmerzendem Körper zusammenbrach.

Der Vater war jetzt wieder ganz ruhig. Bevor er die Wohnzimmertür hinter sich schloß, sagte er noch einmal: „Ich bestimme, wann er da ist!“ Dann ging es da drinnen weiter.

Oh – er haßte das alles, er litt jetzt, während er auf dieser kalten, einsamen Straße stand und ringsum „Ihr Kinderlein kommet“ zu hören war, noch einmal alles durch. Ja! Alle Jahre wieder und immer wieder und immer wieder …

Da fiel ein Schatten auf das verschneite Pflaster, dort, wo die Straße einen leichten Knick nach links machte. Der Besitzer des Schattens schien nur mühsam vorwärts zu kommen. Man konnte ihn schnaufen hören, es war das müde, zornige Schnaufen eines alten Mannes. Er kam langsam näher.

Etwa zehn Meter von Meier entfernt blieb er stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Süßer die Glocken nie klingen“ schallte es dumpf aus den umliegenden Häusern. Meier schoß vier Mal – zwei Mal mit jedem Colt.

Der erste Schuß hätte bereits gereicht: Meier sah das rote, kreisrunde Loch im Gesicht des Mannes, das plötzlich etwas oberhalb der Stelle entstanden war, wo sich dessen buschige Augenbrauen am nächsten kamen. Aber er hatte sich vorgenommen, vier Mal zu schießen: Peng! Peng! Peng! Peng!

Meier ging auf die zusammengekrümmt am Boden liegende Gestalt zu und stieß mit dem Stiefel nach ihm, so daß der Tote auf den Rücken rollte. Wo das Blut seinen langen Bart noch nicht durchtränkt hatte, konnte man erkennen, daß dieser Bart einst weiß gewesen war, so wie das prächtige Kopfhaar, das sich nun, da die lange rote Mütze mit der weißen Bommel am Ende ihm vom Kopf gerutscht war, deutlich von der dunkelbraunen Farbe des Sackes abhob, auf dem der Mann lag.

Der Sack war offen, und Puppen, Hampelmänner, Lebkuchen und vieles andere mehr war herausgefallen und nun im Schnee verstreut. Meier gab einem kleinen, gelben Teddybären einen Tritt, der ihn quer über die ganze Straße fliegen ließ. „Ich hatte dir gesagt, du sollst in diesem Jahr nicht wiederkommen!“ sagte er leise zu dem Mann, der ihn nun nicht mehr hören konnte, und ging in sein Haus zurück, um seinen Kindern die sorgsam verpackten Geschenke zu geben, auf die sie inzwischen lange genug gewartet hatten.

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Frühere Veröffentlichungen unter anderem Pseudonym finden sich in ICH – die Psychozeitung 4/1993 sowie in „Weltall, Erde …ICH“ bzw. www.weltall-erde-ich.de.

Geschrieben, genauer gesagt, frei assoziiert habe ich das 1977 in einer besonders langweiligen Psychologie-Vorlesung. Und natürlich hat es überhaupt nichts mit mir zu tun 😉 A.P.