von Andreas Peglau
Ausgangspunkte
Heute, da der US-geführte „Westen“ in Kauf nimmt, den gesamten Planeten für den Erhalt seiner „regelbasierten“ Hegemonie zu zerstören, besteht mehr denn je die Notwendigkeit, Alternativen zu finden zu verantwortungsloser Profit- und Machtgier, Kriegstreiberei und Lebensfeindlichkeit.
Als eine solche Alternative verstand sich der in mehreren Ländern zumindest in Ansätzen praktisch erprobte Sozialismus. Dessen wichtigster theoretischer Ansatzpunkt war die – im Rahmen des „Marxismus-Leninismus“ oft verzerrt dargebotene – Lehre von Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895). Der „reale Sozialismus“ wurde frühzeitig insbesondere durch den Staatsterror unter Stalin, später unter Mao Tse Tung und Pol Pot massiv diskreditiert, brach um 1990 zusammen. Seither gelten derartige Konzepte meist als dauerhaft entwertet und Kapitalismus als alternativlos.
Schon weil Marx und Engels sinnvollerweise gar nicht erst versucht haben, Programme für künftige Gesellschaften abzufassen, ist es falsch, ihnen deren Misslingen anzulasten. Am Staatsterror tragen sie ohnehin keine Verantwortung.
Wer bislang noch nicht weiß oder wissen wollte, dass auf kapitalistischer Ausbeutung beruhende Systeme ungerecht sind und daher „umgewälzt“ werden sollten, wer wichtige, diesen Systemen zugrundeliegende sozioökonomische Abhängigkeiten und Zusammenhänge verstehen will, wer sich für daraus abgeleitete Annahmen über frühere und künftige gesellschaftliche Ordnungen interessiert, der kann nach wie vor vieles Wertvolle schöpfen aus der Hinterlassenschaft von Marx und Engels.
Die Aktualität ihrer Sozialkritik dokumentieren allein schon diese im März 1848 für ein Flugblatt verfassten Forderungen:[1]
- eine unentgeldliche „Gerechtigkeitspflege“, also ein tatsächlicher, nicht nur für die Begüterten existierender Rechtsstaat,
- die Umwandlung aller „fürstlichen und andern feudalen Landgüter, alle[r] Bergwerke, Gruben usw. […] in Staatseigentum“,
- eine an „die Stelle aller Privatbanken“ tretende „Staatsbank“, die das „Kreditwesen im Interesse des ganzen Volkes zu regeln“ habe und „damit die Herrschaft der großen Geldmänner“ untergrabe,
- die Verstaatlichung aller „Transportmittel: Eisenbahnen, Kanäle, Dampfschiffe, Wege, Posten etc., die damit „der unbemittelten Klasse zur unentgeltlichen Verfügung gestellt“ werden sollten,
- gleiche „Besoldung sämtlicher Staatsbeamten“ mit der einzigen Ausnahme, „daß die jenigen mit Familie, also mit mehr Bedürfnissen, auch ein höheres Gehalt beziehen als die übrigen“,
- „völlige Trennung der Kirche vom Staate“,
- „Beschränkung des Erbrechts“,
- „Einführung von starken Progressivsteuern und Abschaffung der Konsumtionssteuern“,
- „Errichtung von Nationalwerkstätten“, wodurch der Staat „allen Arbeitern ihre Existenz“ garantiert und „die zur Arbeit Unfähigen versorgt“.
Sie unterstrichen, dass der Staat, den sie meinten, ein tatsächlich demokratischer, im Interesse der Volksmassen gestalteter war:
„Es liegt im Interesse des deutschen Proletariats, des kleinen Bürger- und Bauernstandes, mit aller Energie an der Durchsetzung obiger Maßregeln zu arbeiten. Denn nur durch Verwirklichung derselben können die Millionen, die bisher in Deutschland von einer kleinen Zahl ausgebeutet wurden und die man weiter in der Unterdrückung zu erhalten suchen wird, zu ihrem Recht und zu derjenigen Macht gelangen, die ihnen, als den Hervorbringern allen Reichtums, gebührt.“[2]
Aber lässt sich aus dieser ebenso berechtigten wie in der der BRD unerfüllten Zielsetzung ableiten, in der Lehre von Marx und Engels[3] fänden sich schlüssige Annahmen darüber, wie ihr Forderungskatalog umgesetzt, wie Ausbeutung und Unterdrückung beendet werden können – oder gar das geistige Rüstzeug, um unsere aktuelle nationale wie auch globale Krise für konstruktive Veränderungen zu nutzen?
Nein. Denn diese Lehre ist nicht nur unabgeschlossen,[4] beschränkt in Inhalt und Geltungsbereich[5] sowie zum Teil veraltet. Sie leidet vor allem an einem nie behobenen Kardinalfehler: dem „ökonomistischen“ Ausgrenzen der realen Psyche[6] – und damit an der Ausgrenzung dessen, was das Entscheidende ist am Menschsein. Sie bietet daher keine Basis, um die immer übers Wirtschaftliche hinausreichenden gesellschaftlichen Probleme ausreichend zu begreifen, geschweige denn, sie zu lösen. Das werde ich im Teil 1 meines Textes, der den größten Raum einnimmt, belegen.
Diese für mich in solcher Schärfe neue Einsicht zuzulassen, mich von noch immer verbliebenen Illusionen[7] zu verabschieden, fiel mir nicht leicht. Manchmal haben sich die dadurch ausgelösten Gefühle in meinem Tonfall niedergeschlagen. An der Substanz meiner Kritik ändert es nichts.
Weshalb halte ich es für lohnenswert, diese Kritik aufzuschreiben? Weil es wichtig ist, nicht in eine Richtung zu starren, aus der notwendige Lösungen gar nicht kommen können. Und um diejenigen, die nach solchen Lösungen suchen, zu ermuntern, andere Ansätze einzubeziehen.
Insbesondere die Psychoanalytiker und Sozialwissenschaftler Wilhelm Reich und Erich Fromm sind schon vor Jahrzehnten bezüglich der Integration psychosozialer Gegebenheiten weit über Marx und Engels hinausgegangen. Da ich mich seit langem um die Popularisierung von Reichs Werk bemühe, werde ich nur gelegentlich Hinweise darauf einflechten; ausführliche Informationen dazu finden sich auf meiner Webseite.[8]
Was sich an Überlegungen zu vier wichtigen Aspekten der Lehre von Marx und Engels ergibt, wenn ich die mir zutreffend erscheinenden Sichtweisen berücksichtige, will ich im kurzen zweiten Teil des Textes skizzieren: als Diskussionsanregung.
Mit welcher Berechtigung stelle ich meine Behauptungen auf?
Marx und Engels zu lesen, dazu gab es schon in der DDR-Schule genug Anlässe. Marxismus-Leninismus („ML“) gehörte bei jedem DDR-Studium, also auch bei meiner Psychologenausbildung dazu. Aber ich habe nie versucht, mir das komplette Schaffen der „sozialistischen Klassiker“ zu erschließen; oft beließ ich es bei Auszügen, Biografien, Zusammenfassungen, Sekundärliteratur. Da liegt der Verdacht nahe, das, was ich vermisse, sei irgendwo anders zu finden in den über 40 Bänden der Marx-Engels-Werkausgabe.[9] Doch wie sich zeigen wird: Auch wenn gelegentlich alternative Überlegungen bei ihnen aufblitzten, setzten Marx und Engels bereits ab 1845 auf eine generelle Herangehensweise, die für eine angemessene Würdigung psychologischer Erkenntnisse keinen Platz ließ.[10]
Diese Herangehensweise wurde in den Hauptströmen des Marxismus[11] im Wesentlichen beibehalten. Obwohl ich die Fülle marxistischer Literatur nicht überschaue, bin ich sicher, dass Psychisches dort nicht die nötige Aufmerksamkeit erhält.[12] Andernfalls müsste sich das auch darin ausdrücken, dass Reich und Fromm – die tiefgründiger als andere marxistische mit validen tiefenpsychologischen Erkenntnissen verknüpften[13] – vielzitierte und hochgeschätzte Anreger „linker“ Diskussionen wären. Das ist definitiv nicht der Fall.[14]
Eine letzte Vorbemerkung. Wenn es in meinem Text um eine anstrebenswerte Zukunft geht, werde ich meist von „menschenwürdiger Ordnung“ sprechen, nicht von „Sozialismus“. Das Wort Sozialismus ist – ebenso wie Kommunismus – nicht eindeutig definiert, wird und wurde sehr unterschiedlich gebraucht,[15] oft auch missbraucht, nicht zuletzt in „Nationalsozialismus“. Menschenwürdige Ordnung[16] trifft, meine ich, den Kern. Das dürfte sich zudem im Einklang befinden mit dem 25-jährigen Marx, der den „kategorischen Imperativ“ aufstellte, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ ist.[17] Erich Fromm hat das rund 130 Jahre später im Bild einer Gesellschaft konkretisiert, „in der sich niemand mehr bedroht fühlen muss: nicht das Kind durch die Eltern; nicht die Eltern durch die über ihnen Stehenden; keine soziale Klasse durch eine andere; keine Nation durch eine Supermacht“.[18]
An unserer grundsätzlichen Fähigkeit, eine solche Gesellschaft aufzubauen, zweifle ich nach wie vor nicht im Geringsten. Von unseren Anlagen her sind wir soziale, liebenswerte, liebesfähige und liebesbedürftige, kontaktfreudige, wissbegierige, kreative Wesen.[19] Jeder Mensch bringt das Potential für einen Neuanfang mit auf die Welt.
Verdrängung
Wissenschaftliche Psychologie gab es Mitte des 19. Jahrhunderts erst in Ansätzen.[20] Doch schon seit der Antike war, nicht zuletzt von Philosophen, eine Vielzahl psychologischer Erkenntnisse und Thesen formuliert worden. Außerdem ist Psyche nichts, worüber man erst aus Fachbüchern informiert werden müsste: Jeder hat eine, wir haben ständig damit zu tun. Wer über Menschen urteilt und dabei Psychisches ausklammert, verleugnet selbst erfahrene Realität – oder verdrängt sie.
Verdrängt, ins Unbewusste „verschoben“ wird etwas, wenn es als derart verunsichernd bis bedrohlich wahrgenommen wird, dass es im Bewusstsein nicht mehr aushaltbar ist. Da das Verdrängte aber dadurch nicht aufhört zu existieren, sondern wieder ins Bewusstsein drängt, muss diese Verschiebung ständig aufrechterhalten, erneuert werden. Das geschieht unbewusst, ist nicht willentlich gesteuert.
Ich meine: Einen erheblichen Teil ihrer oftmals als unumstößlich anmutenden Thesen konnten Marx und Engels nur mittels einer letztlich antipsychologischen Haltung aufstellen. Beim Einbeziehen eines wirklichkeitsnäheren Menschenbildes hätte sich vieles als weitaus komplexer, komplizierter, hätten sich diverse ihrer Aussagen spätestens in ihrer Absolutheit oder Pauschalisierung als absurd herausgestellt. Die Beschäftigung mit der Psyche hätte daher den von Marx und Engels behaupteten, weitgreifenden Geltungs- und Erklärungsanspruch empfindlich eingeschränkt, eine Reihe ihrer Kernsätze entkräftet. Das hätte zugleich Marx und Engels bedroht: ihr Selbstbild, ihr Selbstwertgefühl, ihre Vorstellung von der Bedeutung ihres Lebenswerkes. Nachvollziehbare Gründe, um zu verdrängen.
Was ich damit skizziere, ist kein spezifisches Problem von Marx und Engels. Autoritär-patriarchale Familien- und Gesellschaftsstrukturen, in denen auch sie aufwuchsen,[21] erzeugen unweigerlich psychische Störungen, immer auch am Selbstwertgefühl. Um das nicht wahrnehmen zu müssen, kann versucht werden, anerzogene Minderwertigkeitsgefühle durch überhöhte Vorstellungen eigener Bedeutsamkeit zu kompensieren.
Die später Deutsche Ideologie genannte Textsammlung starteten Marx und Engels im Oktober 1845 mit einem in dieser Hinsicht symptomatischen Satz, der das jahrtausendelange Nachdenken, das es vor ihnen gab, entwertete: „Die Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich selbst gemacht, von dem, was sie sind oder sein sollen.“[22] Doch nun, hieß das, kämen ja der 24-jährige Friedrich Engels und der 27-jährige Karl Marx und würden den Menschen endlich erklären, wer sie sind. Aber genau das taten sie nur sehr begrenzt.
„Max Stirner“
Zusätzlich zu ihrem Wunsch, sich kompromisslos von allem „Idealistischen“ freizumachen, könnten solche Selbstwertprobleme der Hintergrund gewesen sein für die rigiden Abgren-zungen von Marx und Engels zu manchen philosophischen Vorläufern und zeitgenössischen Konkurrenten, insbesondere zu Johann Caspar Schmidt (1806–1856).
Schmidt verband mit Marx und Engels, dass sie 1844 „bereits auf eine vergleichsweise umfangreiche publizistische Karriere“ zurückblickten,[23] zu den oft als „Junghegelianer“[24] bezeichneten Anhängern des Philosophen Hegel gehörten und noch vor kurzem Hoffnungen gehegt hatten auf positive politische Veränderungen in Deutschland, vor allem in Preußen.
Doch die 1840 erfolgte Thronbesteigung von Friedrich Wilhelm IV. hatte eine Restauration kirchlich-feudaler Macht gebracht statt des ersehnten größeren Freiraums für – insbesondere antireligiöse – Sozialkritik. Da den „Junghegelianern“ die Religion als wichtigste Stütze des Staates galt, hatten sie von dieser Sozialkritik gemeint, sie könne „einen, der Französischen Revolution vergleichbaren gesellschaftlichen Umsturz“[25] herbeiführen: Revolution durch „Aufklärung“. Aber nicht nur hatte der neue preußische Monarch die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuscht.[26] Anders als 1789 in Frankreich leistete das liberale Bürgertum, letztlich das gesamte Volk, keinen nennenswerten Widerstand gegen das wiedererstarkende Feudalregime. Entscheidende Annahmen der „Junghegelianer“ erwiesen sich somit als illusionär. Neue Hoffnungsträger, neue Erklärungsmuster, neue Wege zur Revolution mussten gefunden werden.[27]
Das brachte Marx und Engels dazu, ihre Hoffnungen auf das entstehende Proletariat als neue, am meisten ausgebeutete Klasse zu setzen und die „Geschichte aller bisherigen Gesellschaft“ bald als wirtschaftlich bedingte „Geschichte von Klassenkämpfen“[28] zu interpretieren. Allmählich sollten sie daraus das kreieren, was Engels in der Rückschau von 1892 „Historischen Materialismus“ nannte, nämlich eine „Auffassung des Weltgeschichtsverlaufs, die die schließliche Ursache und die entscheidende Bewegungskraft aller wichtigen geschichtlichen Ereignisse sieht in der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft“.[29]
Johann Caspar Schmidt kam zu einem ganz anderen Schluss. Zu seinem Hoffnungsträger erkor er das einzelne Individuum, das durch autoritäre Kleinfamilie und Erziehung, Sexualunterdrückung und gleichmacherische Ideologien wie die christliche an Persönlichkeitsentfaltung und Bedürfnisbefriedigung gehindert werde.[30] Den Ausweg sah Schmidt darin, sich selbst zum einzigen Maßstab zu nehmen, den eigenen, einzigartigen Weg gegen die einengende Gesellschaft zu erzwingen. Statt einem Führer, Machthaber, Gott oder anderen „großen Egoisten ferner uneigennützig zu dienen“, wolle er nun „lieber selber der Egoist sein“ – so fasste Schmidt sein Ideal 1844 in dem Buch Der Einzige und sein Eigentum zusammen.[31]
Um den zu erwartenden staatlichen Repressalien wegen des aufmüpfigen Textes zu entgehen, veröffentlichte er diesen unter dem Pseudonym „Max Stirner“. Tatsächlich wurde das Werk kurz nach dem Erscheinen verboten.[32]
Der mit „Stirner“ befreundete Engels reagierte auf dessen Schrift zunächst wohlwollend-kritisch. Am 19. November 1844 schrieb er an Marx:
„Wir müssen es nicht bei Seit werfen, sondern […] indem wir es umkehren, darauf fortbauen. […] Erstens ist es Kleinigkeit, dem St.[irner] zu beweisen, daß seine egoistischen Menschen nothwendig aus lauter Egoismus Kommunisten werden müssen. […] Zweitens muß ihm gesagt werden, daß das menschliche Herz schon von vorn herein, unmittelbar, in seinem Egoismus uneigennützig und aufopfernd ist […].“[33]
Diese „paar Trivialitäten“ sollten genügen, um Stirners „Einseitigkeit zurückweisen. Aber was an dem Prinzip wahr ist,“ so Engels weiter,
„müssen wir auch aufnehmen. Und wahr ist daran allerdings das, daß wir erst eine Sache zu unsrer eignen, egoistischen Sache machen müssen, ehe wir etwas dafür thun können – daß wir also in diesem Sinne […] auch aus Egoismus Kommunisten sind. […] Wir müssen vom Ich, vom empirischen, leibhaftigen Individuum ausgehen“.[34]
Vom Ich, vom Individuum und von einem positiven, (heute belegten[35]) realen Menschenbild ausgehen, psychische Motive und verinnerlichte Zielsetzungen als Basis des Engagements für gesellschaftliche Veränderungen anerkennen, aus gesundem Egoismus heraus Kommunist werden – was für ein konstruktiver Ansatz hätte das werden können für eine Weltanschauung,[36] die diesen Namen auch verdiente!
Doch Marx hatte bereits einen Kurs eingeschlagen, bei dem er Stirner nur als Gegner einordnen wollte. Hinzu kam, dass Stirner einige Gedanken, die bei Marx noch reiften, nun als erster veröffentlicht hatte[37] – und: dass er Erfolg hatte. Sogar Ludwig Feuerbach, zu diesem Zeitpunkt die unangefochtene Nummer 1 im Diskurs der „Junghegelianer“ hielt den Einzigen und sein Eigentum einer ausführlichen öffentlichen Entgegnung für würdig.[38] Das kam einer „Beförderung Stirners in die erste Reihe“ der damaligen Philosophen gleich,[39] machte ihn zum „Hecht“ in dem von Marx „selbst beanspruchten Fischteich“.[40]
Marx scheint recht harsch auf den Brief von Engels geantwortet zu haben. Dieser lenkte ein,[41] unterwarf sich Marx und sollte sich nun im Vergleich mit ihm zeitlebens abwerten – zu Unrecht.[42]
1845/46 unternahmen beide[43] die „intensivste Einzelauseinandersetzung“, die sie „je mit einem Denker“ führten.[44] Acht Monate lang, auf fast 450 Manuskriptseiten[45] bemühten sie sich, Stirner zu widerlegen. Dabei diffamierten sie ihn in kleinlich-gehässiger Weise, setzten ihn, wie Stirner-Biograf Bernd Laska schreibt, unter ein „Trommelfeuer“ der Beschimpfun-gen,[46] verunglimpften ihn unter anderem als „Schwächste[n] und Unwissendste[n]“ der „ganze[n] philosophische[n] Bruderschaft“,[47] als „hohlste[n] & dürftigste[n] Schädel unter den Philosophen“.[48] In ihrer zur baldigen Veröffentlichung gedachten Polemik lieferten sie zudem Informationen, die erleichterten, Stirners Identität aufzudecken. So karikierten sie den im Berliner Stadtteil Neukölln wohnenden, als Lehrer tätigen, in finanziell prekären Verhältnissen lebenden Stirner als
„lokalisirten Berliner Schulmeister oder Schriftsteller […], dessen Thätigkeit sich auf saure Arbeit einerseits & Denkgenuß andererseits beschränkt, dessen Welt von Moabit bis Köpenick geht & hinter dem Hamburger Thor mit Brettern zugenagelt ist, dessen Beziehungen zu dieser Welt durch eine miserable Lebensstellung auf ein Minimum reduziert werden“.[49]
Schwer vorstellbar, dass ihnen nicht klar war, dass sie Stirner – in Zeiten, in denen missliebige Publikationen zur Inhaftierung führen konnten – damit in Gefahr brachten. So aggressiv reagiert jedenfalls nur, wer sich tief getroffen fühlt.[50]
Deutsche Ideologie
Die geplante Publikation der Auseinandersetzung mit Stirner und – weniger in- und extensiv angelegt – anderen Denkern, zerschlug sich jedoch. Bis Ende 1847 bemühten sich Marx und Engels mehrfach vergeblich, diese Manuskripte zu veröffentlichen,[51] was die Wichtigkeit unterstreicht, die sie ihrem Text beimaßen.
Erst in den 1920er Jahren, in der Sowjetunion, wurde ein Anlauf gemacht, das Konvolut in Buchform zu bringen. Den Versuch, dies entgegen den Vorstellungen Stalins relativ nahe am Original zu gestalten, kostete den dafür verantwortlichen David Rjazanow „erst die Position des Herausgebers und schließlich das Leben“: 1931 wurde er seines Postens enthoben, nach langjähriger Verbannung 1938 als „Rechts-Trotzkist“ erschossen.[52] In einer verfälschend montierten, unvollständigen Version erschien die Textsammlung 1932 als Deutsche Ideologie. Den Vorgaben gemäß war ein Werk mit „kanonische[m] Charakter“[53] konstruiert worden, die vermeintliche „Gründungsschrift des Historischen Materialismus“,[54] welche laut neuem Herausgeber dessen „Grundfragen […] vielseitig und erschöpfend beleuchtet“.[55]
Mit identischer Wertung, nur noch verstümmelter, tauchte die Deutsche Ideologie 1958 im Band 3 der Marx-Engels-Werke[56] auf. Beide Fassungen suggerierten, der Text sei in erster Linie als Auseinandersetzung mit Feuerbach angelegt gewesen, negierten somit die immense Bedeutung, die Der Einzige und sein Eigentum gehabt hatte.
Was nicht hieß, dass Stirner von dogmatisch-marxistischer Kritik verschont blieb. Diese ging bis dahin, ihn zu bezichtigen, seine „Einflüsse“ seien „verantwortlich für den sozialdemokratischen Revisionismus und damit für die Ohnmacht der Arbeiterbewegung gegenüber dem Ersten Weltkrieg, für das Scheitern der Novemberrevolution und für das Versagen der Arbeiterbewegung vor dem Faschismus“.[57] Die Originalfassung der Deutschen Ideologie, in der auf weit mehr als der Hälfte der Seiten[58] die volle Wucht der gegen Stirner gerichteten Attacke spürbar wird, ist erst seit 2017 nachlesbar.[59]
Der „Austromarxist“ Max Adler ordnete Stirners Gesellschaftskritik 1914 ein als „das psychologische Pendant zur soziologischen von Marx“.[60] Stirner-Forscher Bernd Kast urteilt: „Während Marx und Engels und alle Sozialisten die materiellen Verhältnisse ändern wollen, geht es Stirner um eine Veränderung des Einzelnen.“[61]
Dabei wandte sich Stirner vehement gegen jede Art von psychischer (De)Formierung und ideologischer Manipulation. Doch Marx und Engels, die ja bislang ebenfalls gegen, insbesondere religiöse, Indoktrination ins Feld gezogen waren, entgegneten nun: Ideologie und Psychisches besitzen überhaupt keine Eigenständigkeit, sie sind keiner genaueren Betrachtung wert, schon diese Betrachtung ist daher bürgerlich-reaktionär![62]
Psychologie lenkt ab vom Klassenkampf – das wurde dann zu einem Motto des Marxismus-Leninismus, in der DDR ergänzt durch „Vom Ich zum Wir!“. Individualität, Subjektivität, Persönlichkeitsentfaltung, Bedürfnisse und Befindlichkeiten: eine angemessene Beschäftigung mit all dem, was Stirner fokussierte hatte, unterblieb.
Ich vermute, dass es schon Marx und Engels – unbewusst – verstört hatte, was Stirner nahelegte: einen intensiven Blick auf sich selbst, auch nach innen.[63] Ein solcher Blick kann belastende Erinnerungen aus der Lebensgeschichte, Selbstzweifel und Ängste ans Licht bringen und ruft deshalb seelischen Widerstand, Abwehr hervor.[64]
Wie das bei Marx und Engels hätte anders gewesen sein können, wüsste ich nicht. Eine Psychotherapie, mittels derer sie ihre Störungen hätten bearbeiten können, gab es noch nicht. Also wirkten sich diese Störungen ebenfalls in ihrer Lehre aus, beschränkten als „blinde Flecken“ deren Wahrheitsgehalt: An dem, was wir nicht sehen wollen, müssen wir angestrengt vorbeischauen.
*
Weiterlesen in Teil 2: Charaktermasken
Quellenverzeichnis.
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Anmerkungen
[1] Marx/ Engels 1959, S. 3f. Folgende Zitate: ebd.
[2] Ebd., S. 4f.
[3] Ihre Lehre ist nicht identisch mit dem, wofür sich der Name „Marxismus“ einbürgerte, noch weniger mit „Marxismus-Leninismus“. Marx stand laut Engels der Zuordnung, selbst „Marxist“ zu sein, zumindest ambivalent gegenüber (Hoffmann 2018, S. 1f., vgl. Krätke 1999, Fn1). Nach Engels‘ Tod setzten Simplifizierung und „Vulgarisierung“ ein (Heinrich 2021, S. 23–26), später die Aufspaltung in gegensätzliche, teils feindliche „Marxismen“ (Adler 1972, S. 5–11; Haug 1985, S. 25–29; Harman 1986; Morina 2017; Kolias 2020; Baier 2023). Die Bezeichnung „Marxismus“ hat zudem einen autoritären, unwissenschaftlichen Beigeschmack: Statt einen Inhalt abzustecken, wird eine Person ikonisiert. Niemand käme auf die Idee, die Physik umzubenennen in „Einsteinismus“. 1877 hat auch Marx in einem Brief seinen „Widerwillen gegen allen Personenkultus“ betont: Der Eintritt von ihm und Engels in den späteren „Bund der Kommunisten“ sei 1847 „nur unter der Bedingung“ geschehen, „daß alles aus den Statuten entfernt würde, was dem Autoritätsaberglauben förderlich“ (Marx/ Engels 1966, S. 308).
[4] Marx hinterließ ein Torso. Engels rundete das Werk von Marx an einigen Punkten ab, wandte dessen und eigene Thesen auf weitere Gebiete an, popularisierte – manche meinen: verwässerte – ihre Lehre, wird manchmal als „Erfinder“ des Marxismus bezeichnet (Krader 1973, S. 124–136; Krätke 2020, S. 9–68; Hunt 2021; Rapic 2022).
[5] Siehe dazu u.a. Thompson 1980, S. 109; Anderson 2023, S. 114–124.
[6] Aussagen, die (auch) Psychisches berühren, finden sich – bei Marx insbesondere in den „Frühschriften“ – vor allem in Verbindung mit „sinnlich“/ „Sinn(e)“, „geistig“/ „Geist“ oder „bewußt“/ „Bewußtsein“. Manchmal wird „seelisch“/ „Seele“ verwendet, sehr selten „psychisch“/ „Psyche“ oder „Psychologie“ – Letzteres in der Deutschen Ideologie (Marx/ Engels 2017) an vier Stellen, in den drei Kapital-Bänden gar nicht. Oft geht es dabei nicht um Menschen, sondern um Dinge, Verhältnisse, Zustände, philosophische Konzepte. Wie selten Marx und Engels seelische Prozesse explizit ansprachen, belegen gerade die krampfhaften Versuche, ihnen später eine Art Richtlinienkompetenz für „sozialistische Psychologie“ zuzuschreiben. Da wurden dann üblicherweise verstreute Sätze zum Beleg aufgewertet für ein „innerlich einheitliches System von Ideen […], ein geschlossenes Ganzes“, mit dem Marx „Wege für den Aufbau der Psychologie“ vorgezeichnet habe (Rubinstein 1981, S. 11).
[7] Den Beginn dieses Ablösungsprozesses schildere ich in Peglau 2001.
[8] https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/ Zu Reich: https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/tag/reich/. Ausführliche Informationen zu Fromm: https://fromm-gesellschaft.eu/.
[9] Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Marx-Engels-Werke. Zur MEGA: https://mega.bbaw.de/de.
[10] Fromm (1989a, S. 335–432) hat das vor allem anhand der „Frühschriften“ von Marx positiver beurteilt. Ich folge ihm insoweit, dass Marx bis 1844 zum Teil Thesen vertrat, die eine ganzheitlichere Theorie möglich gemacht hätten (siehe auch Lange 1955, S. 30–33) und die auch für die Psychologie anregend waren.
[11] Von den Vertretern des „realen Sozialismus“ (z.B. Kosing 1970; Bitschko 1970) weitgehend ignoriert oder bekämpft wurde der „westliche Marxismus“, zu dem u.a. Karl Korsch, Georg Lukács, Antonio Gramsci, Jean Paul Sartre, Louis Althusser – den Thompson (1980) als Stalinisten einordnet – und die „Frankfurter Schule“ gerechnet werden. Anderson (2023, S. 58–100) sieht diese „westlichen“ Marxismus-Varianten u.a. deshalb kritisch, weil sie mangels revolutionärer Praxis zu einer abgehobenen Theorie und Sprache sowie zu einem pessimistischen Menschen- und Gesellschaftsbild tendierten, vom Verändernwollen der Welt oft wieder zurückfielen ins bloße Interpretieren, bei Horkheimer letztlich sogar in „unsägliche Apologie des Kapitalismus“. Dahmer (2022, S. 9) rechnet Leo Trotzki zum „westlichen Marxismus“, Anderson (2023, S. 102) sieht ihn stattdessen auf positive Weise davon getrennt. Beide billigen Trotzki herausragende Bedeutung für die Weiterentwicklung des Marxismus zu; Dahmer (2022, S. 33–75) auch wegen Trotzkis – nicht sehr tiefgründigem – Interesse an der Psychoanalyse.
[12] Das belegt u.a. Gehrke (2011). Diese unter dem Motto „Alle Verhältnisse umzuwerfen …“ erschienene Streitschrift zum Programm der Linken ist weit davon entfernt, „alle“ Verhältnisse auch nur zu benennen, geschweige denn zu diskutieren, wie sie erforscht und umgeworfen werden können. Sahra Wagenknecht führt in ihrem Buch Reichtum ohne Gier (2016) Psychisches zwar schon im Titel, widmet sich aber nur anfänglich kurz dem Thema Menschenbilder – um im gesamten Rest doch wieder die Ökonomie zu umkreisen. Bei Michael Brie (2021), der Sozialismus neu entdecken will, spielen Psyche, Erziehung, Kindheit, Sexualität, Menschenbild – bis auf einen neunzeiligen Verweis auf den Psychiater und Neuroimmunologen Joachim Bauer (ebd., S. 122) – so gut wie keine Rolle.
[13] Tiefenpsychologie wurde zwar auch von der „Frankfurter Schule“ einbezogen. Doch gerade bei deren bekanntesten Vertretern (Horkheimer, Adorno, Marcuse) leidet diese Validität erheblich schon dadurch, dass sie das zu Teilen realitätsferne, pessimistische Menschenbild des späten Freud inklusive „Todestrieb“ (siehe Peglau 2018b) übernahmen. Wie sollte sich zudem der von Marx erhoffte „Verein freier Menschen“ mit Wesen gestalten lassen, die asozial, destruktiv, mörderisch zur Welt kommen? Statt Freiheit wären hier ständige Kontrolle, Unterdrückung oder „Gehirnwäsche“ unumgänglich. Dazu, wie Adorno in The Authoritarian Personality wesentliche Erkenntnisse von Fromm und Reich übernahm ohne deren Autorenschaft zu benennen, siehe Peglau 2018a, S. 99f.
[14] Auch Haug (1985), Harman (1986), Morina (2017), Anderson (2023) erwähnen weder Reich noch Fromm, obwohl Anderson ausführlich auf das Frankfurter Institut für Sozialforschung eingeht, zu dem Fromm bis 1939 gehörte und Reich die von Anderson gewünschte Verbindung von Theorie und Praxis bis Mitte der 1930er Jahre mutig umsetzte (Peglau 2017a, S. 88–145, 311–345). Das 2023 ergänzte Nachwort zu Andersons 1978 erstmals auf Deutsch erschienener Schrift schließt diese Lücke nicht. Baier (2023, S. 231–235) würdigt immerhin Reichs Massenpsychologie des Faschismus (Reich 2020) und Fromms Untersuchung Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches (Fromm 1989b). Wie grundsätzlich Infragestellung und Bereicherung des Marxismus durch Reich und Fromm hätten sein können, sieht auch er nicht.
[15] Siehe Mittelstraß 2004, Bd. 3, S. 857–859. Auch die Abgrenzung zwischen den Begriffen „Sozialismus“ und „Kommunismus“ (ebd., S. 425f.) ist vage. Marx und Engels nutzten beide Begriffe zunächst synonym (Hunt 2021, S. 91f.), unterschieden sie alsbald stärker, maßen dieser Unterscheidung später wieder weniger Gewicht bei (vgl. Engels 1977b, S. 580f.).
[16] Auch das muss exakter definiert werden, lässt sich aber besser als Ausgangspunkt für überprüfbare sozialwissenschaftliche Fragestellungen verwenden.
[17] Marx 1976a, S. 385.
[18] Fromm 1989c, S. 395.
[19] Peglau 2023; 2024b.
[20] Mittelstraß 2004, Bd. 3, S. 396.
[21] Über Marx‘ Kindheit ist wenig bekannt. Der Vater scheint relativ tolerant gewesen zu sein, setzte ihn aber unter Erfolgsdruck, delegierte eigene Zielvorstellungen auf ihn: „Ich wünschte in Dir das zu sehen, was vielleicht aus mir geworden wäre, wenn ich unter ebenso günstigen Auspizien [Vorzeichen] die Welt erblickt hätte. Meine schönsten Hoffnungen kannst Du erfüllen oder zerstören“ (Heinrich 2018, S. 125f.). Dass die Mutter vom 17-jährigen Karl per Brief forderte, sich „wöchentlich mit der Schwam [sic] und Seife“ zu scheuern (ebd., S. 143), klingt nach überbehütender Gängelei. Das könnte eine Mixtur aus Überehrgeiz und Minderwertigkeitsgefühl erzeugt haben, an der Marx sich lebenslang abarbeitete. Ausschließen lässt sich, dass die bürgerlichen Familien von Marx und Engels nichtautoritäre Inseln im autoritären Preußenstaat waren. Engels‘ Vater klagte, der 15-jährige Friedrich lerne „trotz der frühern strengen Züchtigungen […] selbst aus Furcht vor Strafe keinen unbedingten Gehorsam“. Engels distanzierte sich später von dem „fanatischen und despotischen Alten“ (Hunt 2021, S. 29).
[22] Marx/ Engels 2017, S. 3.
[23] Pagel 2020, S. 24.
[24] Über diese Einordnung und warum sie nur bedingt hilfreich ist: Heinrich 2018, S. 302–308.
[25] Pagel 2020, S. 25.
[26] Ebd., S. 50f.
[27] Ausführlich dazu: ebd., insbesondere S. 42–302.
[28] Marx/ Engels 1959, S. 462.
[29] Engels 1972, S. 298.
[30] Damit nahm er manches vorweg, was im 20. Jahrhundert unter anderem von Wilhelm Reich (2018; 2020) pointiert vertreten wurde.
[31] Stirner 2016, Zitat S. 14f. Zu Stirner siehe auch Eßbach 1982; Korfmacher 2001; Pagel 2020; Laska 2024.
[32] Ebd. S. 20–24.
[33] Marx/ Engels 1975, S. 252.
[34] Ebd.
[35] Hüther 2003; Solms/ Turnbull 2004, S. 138ff., 148; Tomasello 2010; Klein 2011; Bauer 2011; Bregman 2020.
[36] 1886 verwendete Engels (1975a, S. 263f.) diese Bezeichnung ausdrücklich für die von Marx und ihm aufgestellte Lehre.
[37] Zu den von Marx und Engels nicht zugegebenen Übereinstimmungen mit Stirner: Eßbach 1982, insbesondere S. 38–62.
[38] Feuerbach schrieb zwar anonym, aber seine Autorenschaft war für Eingeweihte wie Marx und Engels „kein Geheimnis“ (Pagel 2020, S. 452). 1846 nahm Feuerbach seinen Beitrag in erweiterter Fassung in seine Sämtlichen Werke auf (Laska 2024, S. 5). Privat beurteilte er Stirners Buch als „höchst geistvolles und geniales Werk“; Stirner sei „der genialste und freieste Schriftsteller, den ich kennengelernt“ (ebd.).
[39] Pagel 2020, S. 452.
[40] Korfmacher (2001, S. 64) bezieht Engels in die „Fischteich“-Metapher ein. Gerade Engels‘ Reaktion auf Stirner zeigt meines Erachtens, dass Engels diesen Anspruch 1844 (noch) nicht hatte. Pagel (2020) beschreibt detailliert den „Kampf um die Vorherrschaft in der Bewusstseinsbestimmung“, bei dem Marx und Engels „ihr Repertoire zur Desavouierung konkurrierender Ansätze“ erweiterten, um ihre eigene „hegemoniale Variante“ durchzusetzen (ebd., S. 30, 39).
[41] Ebd., S. 413–415; Marx/ Engels 1975, S. 259.
[42] Vgl. Krätke 2020, S. 9–12.
[43] Engels war offenkundig deutlich weniger involviert als Marx (Marx/ Engels 2017, S. 749f.).
[44] Peter Sloterdijk, zitiert in Pagel 2020, S. 492.
[45] Ebd., S. 472. Diese Kritik an Stirners Buch fiel damit umfangreicher aus als das kritisierte Buch.
[46] Laska 2024, S. 83–92.
[47] Marx/ Engels 2017, S. 237.
[48] Ebd., S. 506. Die zu verunglimpfen, die seine Sicht nicht teilten, war bei Marx allerdings nichts Seltenes. Er konnte „von verletzender, unerträglicher Arroganz“ sein: „Wer nicht für ihn war, war gegen ihn“ (Schieder 2018, S. 170f.).
[49] Marx/ Engels 2017, S. 319f. Als „Schulmeister“ oder „Berliner Schulmeister“ bezeichnen sie Stirner dort mehrfach.
[50] Dass Stirner 1845 auch das von Marx nun favorisierte Gebiet der „Nationalökonomie“ betrat (Pagel 2020, S. 429f.), dürfte diese Betroffenheit intensiviert haben.
[51] Weckwerth 2018, S. 146.
[52] Pagel 2020, S. 1, 8 sowie https://de.wikipedia.org/wiki/Dawid_Borissowitsch_Rjasanow.
[53] Marx/ Engels 2017, S. 790.
[54] Pagel 2020, S. 1. Engels (1975a, S. 264) rekapitulierte 1888 über das „alte Manuskript von 1845/46“ dagegen selbstkritisch: „Der Abschnitt über Feuerbach ist nicht vollendet. Der fertige Teil besteht in einer Darlegung der materialistischen Geschichtsauffassung, die nur beweist, wie unvollständig unsre damaligen Kenntnisse der ökonomischen Geschichte noch waren.“ Stirners Bedeutung unterschlug er dabei, korrigierte das auch nie (Laska 2024, S. 91–92).
[55] Marx/ Engels 2017, S. 791. Wenn auch von „erschöpfend“ keine Rede sein konnte, wurde doch „gegen Stirner“ erstmals der „enorme Reduktionismus der subjektiven Verhaltensdimensionen formuliert“, erstmals „in kohärenter Form […] jede nicht von den Produktionsverhältnissen ausgehende Kritik der politischen Macht verworfen“, erstmals das historisch-materialistische Modell einer ökonomisch bedingten Abfolge von Gesellschaftsformen entwickelt (Eßbach, 1982, S. 13). Pagel (2020, S. 603–653) belegt, dass „insbesondere die Entwicklung“ der Konzepte „Ideologie“ und „Kleinbürgertum“ bei Marx und Engels sich „auf die Auseinandersetzung mit Stirner zurückführen“ lassen (ebd., S. 19).
[56] Marx/ Engels 1978. Entsprechend bezeichnet Kosing (1970, S. 1154) die Deutsche Ideologie als „zusammenhängende und umfassende Darstellung ihrer neuen Weltanschauung“.
[57] So fasst Eßbach (1982, S. 13) die Argumentation von Hans G. Helms (1966) zusammen.
[58] Der Text zu Stirner nimmt in dieser Ausgabe ca. 450 Seiten ein (Marx/ Engels 2017, S. 16–123; 165–511), „stellt nicht nur das mit Abstand umfangreichste der Manuskripte zur Deutschen Ideologie dar, es ist darüber hinaus dasjenige Manuskript, das Marx und Engels im April 1846 als erstes für den Druck in der geplanten Vierteljahrsschrift fertigstellten“ (Pagel 2018, S. 134). Das zu veröffentlichen, erschien ihnen also am dringendsten.
[59] Zur Editionsgeschichte: Marx/ Engels 2017, S. 784–793; Pagel 2020, S. 3–11, Weckwerth 2018.
[60] Zitiert in Eßbach 1982, S. 25.
[61] Stirner 2016, S. 373.
[62] Eßbach (1982, S. 72–79) spricht davon, dass Marx und Engels Stirner „überbieten“ wollten in ihrer Kritik.
[63] In der Tat wirken manche Ideen Stirners – z.B. über die Verinnerlichung unterdrückender Normen – „wie eine Vorwegnahme von Freuds Psychoanalyse“ (ebd., S. 70, siehe auch Max-Stirner-Archiv 2001). Engels scheinen diese Implikationen Stirners zumindest zunächst nicht angefochten zu haben. Indem er sich jedoch Marx‘ pauschaler Stirner-Entwertung anschloss, vermied auch er die womöglich aufwühlende Konfrontation mit der psychologischen Ebene von Stirners Buch.
[64] Laska (2024, S. 89) urteilt: „Marx projiziert u.a. eine Reihe eigener Schwächen auf Stirner […]: Moralismus, Illusionismus,“ Neigung zu (verbalen) Taschenspielertricks, Aufschneiderei, Egoismus. Eßbach (1982, S. 87) diagnostiziert bei Marx und Engels tiefe „Beunruhigung“ sowie die Abwehr von Ängsten, die durch Stirners Infragestellen verinnerlichter Normen entstanden: Sie projizierten diese Ängste „mit aufgeladener sadistischer Phantasie auf Stirner“.