Kein Mensch wird als Schaf geboren. Zu „Warum schweigen die Lämmer?“ von Rainer Mausfeld.

Rezension von Andreas Peglau [1]

Kürzlich ist das Buch des Psychologen und Kommunikationsforschers Rainer Mausfeld erschienen: Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören. Westend-Verlag, 304 Seiten, 24 Euro.
Da dieses Buch verdientermaßen die Diskussion über den Zustand unseres Landes und die Rolle von deren Medien beeinflussen wird, will ich nach dessen Lektüre meine Meinung dazu festhalten. Sie ist ambivalent.  

Neoliberalismus ODER Demokratie

Rainer Mausfelds Buch ist im Wesentlichen eine Zusammenstellung von Vorträgen, Artikeln und Interviews. Es bietet eine vehemente, bis zurück in die Antike geführte Analyse dessen, was auch in unserem Land unter „Demokratie“ firmiert – aber, so Mausfeld, bestenfalls „Elitendemokratie“ genannt werden könne.

Doch die Macht- und Profitinteressen wirtschaftlicher und politischer Eliten gehen, wie er zeigt, nicht zusammen mit der Selbstbestimmung von Völkern über die eigenen Lebensfragen. Insbesondere „Neoliberalismus und Demokratie sind in der Tat miteinander unvereinbar. […] Demokratie wird […] nur soweit als ‚zulässig‘ angesehen, wie der Bereich der Wirtschaft von demokratischen Entscheidungsprozessen verschont ist – also solange sie keine Demokratie ist“ (S. 30).

Mausfeld weist nach, dass dies nichts Neues ist und dass Vertreter der Herrschenden das vielfach ebenso sehen und sahen.

Schon der griechische Historiker Thukydides (454-399 v. u. Z.) befürwortete eine Staatsform, die „dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit die Herrschaft des Ersten Mannes“ sein solle. James Madison (1751-1836), einer der „Väter“ der US-amerikanischen Verfassung, forderte eine Machtkonstellation, die „die Minderheit der Reichen gegen die Mehrheit der Armen schützt“.
Der Sigmund-Freud-Neffe Edward Bernays, Experte für Werbung und Propaganda, schrieb 1928: „Die bewusste und intelligente Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften“. Das Wall-Street-Journal konstatierte 2013, das „neoliberale Programm“ sei „nicht mehr demokratisch abwählbar“. 2015 charakterisierte Ex-US-Präsident Jimmy Carter sein Land als „Oligarchie“ (S. 28-32).

Das Wirken dieser Oligarchen – nicht etwa nur in den USA –, der Siegeszug des nach weltweiter totalitärer Herrschaft strebenden Neoliberalismus (S. 101ff.) gehe einher mit „systematische[r] Verrechtlichung der organisierten Kriminalität der herrschenden Klasse“ (S. 99). Gleichzeitig damit werde weiter eine Volksherrschaft vorgegaukelt – was sich seit Langem als effektivste und billigste Methode für Machthaber erwiesen habe, um Massen ruhig zu stellen und selbst nach Bedarf schalten und walten zu können (S. 138-149).

Zwischendurch dürfe zwar auch gewählt werden, aber Wahlen seien „weitgehend eine Art Politentertainment und Zuschauersport“ (S. 240). Die großen Parteien – Mausfeld nennt sie „Kartell-Parteien“ – dienten als „Wahlmaschinen“ der „Legitimitätssicherung“ unserer Pseudodemokratie (S. 199). Diese „Kartellparteien haben“ daher auch

„jenseits aller rhetorischen Bekundungen keine wirkliche Angst vor Rechtspopulismus und übersteigertem Nationalismus; beides haben sie selbst immer wieder recht erfolgreich genutzt und integriert. Wirklich bedrohlich wäre für sie dagegen ein gesellschaftlicher Wandel, der an die Wurzeln gegenwärtiger Machtverhältnisse ginge“ (S. 208).

Rainer Mausfelds Auflistung der Massenmorde, Kriege, der Verarmung, des Hungers und der Not, die in unserem Namen auch von unserem Staats- und Wirtschaftssystem weltweit herbeigeführt oder unterstützt werden (S. 12ff.), während wir uns im Schein angeblicher Demokratie sonnen, illustriert eindrucksvoll die soziale Situation auf unserem Planeten.
Auch unser relativ gutes Leben in Deutschland ist verknüpft mit millionenfachem Elend in anderen Regionen. Was sich nach innen (noch) als demokratisch gibt, hat nach außen vielfach ein offen brutales destruktives Gesicht.

Ich stimme Mausfeld ebenfalls zu, wenn er den „Leitmedien“ dieses Landes vorwirft, all das immer dreister durch Tatsachenverdrehungen zu flankieren, so auch – bewusst oder unbewusst – beizutragen zu einer „radikalen Gegenaufklärung“ (S. 105). Er erläutert zudem die für diese Manipulation hauptsächlich verwendeten Mechanismen und Tricks, zum Beispiel: unbequeme Fakten zu bloßen Meinungen abwerten, miteinander verflochtene Informationen ihres Zusammenhangs berauben und sie in einen für die beabsichtigte Manipulation passenden neuen Kontext zwängen (S. 34).

Letzteres wird auch von dem Friedensforscher Daniele Ganser  ausführlich diskutiert unter dem Stichwort „Framing“. Hinweise auf Ganser habe ich bei Mausfeld ebenso vermisst – oder nicht gefunden? – wie auf den Medienforscher Uwe Krüger, dessen Buch „Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse“ in differenzierter Weise die organisatorischen Strukturen und politischen Haltungen beschreibt, die wichtige deutsche Medienlenker miteinander verbinden (siehe dazu auch hier).

Trotz dieser Detailkritik: Eine so schlüssige Darstellung des demokratiefeindlichen Wechselspiels zwischen Vertretern von Politik, Wirtschaft und Medien wie bei Rainer Mausfeld habe ich zuvor nicht gelesen. Daher kann ich sein Buch nur dringend empfehlen.

Kein Mensch wird als Schaf geboren. Zu "Warum schweigen die Lämmer?" von Rainer Mausfeld.

Warum lassen wir uns beschwindeln? 

Während ich Mausfelds Gesellschafts- und Medienanalyse, die den Hauptteil des Buches ausmacht, also weitgehend zustimmen kann, gelingt mir das nicht bei dem von ihm vertretenen Menschenbild – aus dem er wiederum seine Lösungsvorschläge ableitet.

Denn seine Darstellung ist durchzogen von der (sinngemäßen) Aussage: Ihr könnt kaum etwas dafür, dass euch die Eliten und deren Leitmedien beschwindeln. Dass wir das zumeist nicht durchschauen, läge an „natürlichen Schwachstellen des menschlichen Geistes“ (S. 65), die wir als „Disposition“ in uns trügen. „Wir können uns nicht dagegen wehren […]: Je häufiger [eine Versuchsperson] eine Meinung hört, umso stärker steigt der gefühlte Wahrheitsgehalt“ (S. 35). Und:

„Wir können also den psychologischen Effekten, die sich Manipulationstechniken gezielt zunutze machen, nur dadurch entgehen, dass wir die auslösende Situation so gut es geht, vermeiden“ und uns somit bestenfalls „einen Rest von Autonomie […] bewahren“ (S. 52).

Dementsprechend heißt es dann (unter Bezug auf die Politikwissenschaftlerin Ingeborg Maus):

„Offensichtlich genügt es, kontinuierlich zu behaupten, das Volk sei wesensmäßig irrational, infantil, triebhaft, launenhaft, selbstsüchtig, rationalen Argumenten nicht zugänglich, und die Eliten seien wesensmäßig intelligent, gebildet und rational“ (S. 67).

Doch wieso genügt es? Solche Behauptungen sind doch mit nur zwei Blicken als Lachnummer enttarnt: einer in die Tagesschau, aktuell am besten auf Spitzenpolitiker, die gerade eine Wahlschlappe wegfaseln – und ein zweiter in den eigenen Spiegel!

Politische Dumpfheit, Untertanengeist, aber auch bereitwillige bis fanatische Übernahme von Tatsachenentstellungen („Die Flüchtlinge sind unser Hauptproblem!“) werden von Mausfeld so nahezu gleichgesetzt mit dem kaum vermeidbaren Hereinfallen auf optische Täuschungen (S. 26) und mittels Wahrnehmungspsychologie – vermeintlich – erklärt. Da die Eliten unsere Schwachstellen kennen, können sie uns seiner Ansicht nach leicht an der Nase herumführen (S. 66).

Ja, Politiker, Parteien, Massenmedien verbreiten zuhauf Fehldarstellungen. Aber schon 1933 hat Wilhelm Reich in der Massenpsychologie des Faschismus angemerkt, dass bürgerliche Parteien – er bezog es damals insbesondere auf die SPD – nun mal die Funktion haben, „Illusionen zu verbreiten“, dass „die politische Reaktion“ – damals vor allem in Gestalt der NSDAP – die Massen nach Möglichkeit „vernebelt, verführt und hypnotisiert“. Das sei doch aber nun mal, fügte er hinzu, genau die Rolle „rechter“ Kräfte. Und er schloss daraus: 

„Liegt nicht nahe, zu fragen, was in den Massen vorgeht, dass sie diese Rolle nicht erkennen wollten und konnten? […] Die Grundfrage ist: Warum lassen sich die Arbeiter politisch beschwindeln? Sie hatten alle Möglichkeiten, die Propaganda der verschiedenen Parteien zu kontrollieren. Warum entdeckten sie nicht etwa, dass Hitler den Arbeitern Enteignung des Besitzes an Produktionsmitteln und den Kapitalisten Schutz vor Streiks gleichzeitig versprach?“

Auch heute steht die Frage: Warum lassen wir uns beschwindeln – obwohl doch durch das Internet in einem nie gekannten Maße alternative, leicht erreichbare Informationsquellen vorhanden sind? Die Antworten, die Rainer Mausfeld darauf gibt, sind nicht überzeugend.

Schwachstellen menschlichen Geistes?

Auf Seite 128 seines Buches wird er von den Nachdenkseiten gebeten, doch mal eine der „Schwachstellen unseres Geistes“ konkret anzugeben. Er nennt nun eine „natürliche Disposition“, „den „jeweiligen Zustand der Gesellschaft, in der wir leben, als […]  erstrebenwert anzusehen“, auch dann, wenn „bessere Alternativen“ vorhanden sind.

Aber er notiert doch selbst (S. 12ff.), dass Milliarden von Menschen ihr Dasein auf diesem Planeten nur noch als Opfer empfinden können, leiden, gefoltert oder getötet werden oder an Hunger verrecken. Ich kann nicht glauben, dass er meint, diese fänden ihren Zustand erstrebenswert. Schon das heißt: Es ist eben keine Menschheitskonstante, keine „natürliche Disposition“, schlechte Lebensumstände gut zu finden.
Es würde auch niemand nach Europa flüchten, der mit seinen Lebensumständen zuhause zufrieden ist. Das DDR-Ende wäre gleichfalls nicht zu verstehen, wenn es diese „natürliche Disposition“ gäbe: Die DDR-Bürgerinnen und -Bürger hielten mehrheitlich ihr System für die schlechtere Alternative – und ließen es letztendlich zusammenbrechen.

Aber vor allem lässt sich hier auf die Entwicklungspsychologie verweisen: Babys protestieren lautstark gegen jeden Leid verursachenden Zustand wie Hunger oder Einsamkeit. (Jedenfalls so lange, bis ihnen das möglicherweise ausgetrieben wird).
So kommen wir auf die Welt: als Wesen, die – wenn nötig – rebellieren, mit aller Kraft. Und die neugierig sind, Fragen stellen, die Welt erkennen, kreativ auf sie einwirken wollen. Nur ist bei uns Erwachsenen meist kaum noch etwas davon verfügbar bzw. bewusst.

Das anzuerkennen, ist zum einen wichtig, um zu begreifen, weshalb „die Lämmer“ tatsächlich schweigen. Zum anderen: weil es Hoffnung macht auf ein angeborenes Potential zur Weltveränderung.

Doch Rainer Mausfeld vertritt offenbar ein anderes Menschenbild, das sich zu bewegen scheint zwischen „Der Mensch ist ein unbeschriebenes Blatt, wenn er auf die Welt kommt“ und „Der Mensch ist anlagegemäß zu allem Schlimmen fähig“, zum Beispiel dazu, zu foltern:

„Früh – nämlich vor etwa 14.000 Jahren […] – erkannte Homo sapiens, […] dass er befähigt ist, auch seinesgleichen als Werkzeug zu betrachten und seinen Intentionen zu unterwerfen – eine in der Natur einzigartige Befähigung und die Grundlage zur Entwicklung von Krieg, Sklaverei und Folter. Die Befähigung zur Folter lässt sich geradezu als Humanspezifikum betrachten, wie das Lachen, die Kunst oder die Sprache“ (S. 253).

Auch „Rassismus“ müsse „eine geeignete Grundlage in bestimmten Eigenschaften und Neigungen unseres Geistes haben“. In welcher Weise die ohnehin vorliegende „Ausgrenzungsbereitschaft […] aktiviert“ werde, hänge dann „wesentlich“ ab „von kulturellen Faktoren“. Einmal mehr ordnet er das ein als „Schwachstelle unseres Geistes“. Er setzt fort:

„Die psychischen Widerstände gegen die Idee einer universellen Menschenwürde und damit einer Gleichwertigkeit aller Menschen haben ihre Wurzeln in der natürlichen (!) Neigung des Menschen, den als fremd empfundenen anderen nicht im vollen Umfang das zu gewähren, was er an Menschenwürde ganz selbstverständlich für sich selbst beansprucht“ (S. 243).

Ich weiß nicht, ob Rainer Mausfeld bewusst ist, dass er damit zugleich die Realisierbarkeit des von ihm befürworteten „linken“ Projekts infrage stellt. Denn er definiert: „Links ist, wer sich für die Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen (‚universeller Humanismus‘) und für eine demokratische Einhegung der Macht einsetzt“ (S. 209).
„Links“ zu sein, würde also entsprechend seiner Vorstellungen bedeuten, die eigene Natur zu unterdrücken.

Realitätsgerechtere Menschenbilder

Ich kann als Vorlage für eine sinnvolle Diskussion des Themas „Menschenbild“ hier nur einmal mehr auf Erich Fromms 1973 erschienenes Buch Anatomie der menschlichen Destruktivität“ verweisen. Anhand diverser Befunde aus Psychoanalyse, (Sozial-)Psychologie, Paläontologie, Anthropologie, Neurophysiologie, Tierpsychologie und Geschichtswissenschaft belegt Fromm unsere angeborene Fähigkeit zu konstruktivem, prosozialem Verhalten.
Er zeigt auch, in welcher Weise wir zuerst psychisch verunstaltet werden müssen, um uns dann derart destruktiv zu verhalten, wie sich das unter anderem im Verfolgen und Quälen Anderer niederschlägt. Die „Befähigung“ zur Folter ist bereits das Symptom einer schwerwiegenden, herbeisozialisierten seelischen Störung.

Wer aktuellere Belege dafür sucht, findet sie zum Beispiel in der Neurobiologie und -psychologie, in Büchern von Gerald Hüther oder Joachim Bauer. Auch eine 2007 veröffentlichte Untersuchung der Yale-Universität konnte zeigen, dass Säuglinge sich mit verfolgten, unterdrückten Figuren solidarisieren – was sich erst im Laufe ihrer weiteren Sozialisierung abschwächt oder gar ins Gegenteil kippt.

Widersprüche bei Rainer Mausfeld

Manche von Mausfelds von mir hier kritisierte Aussagen stehen immerhin im – von ihm leider nicht reflektierten – Widerspruch zu anderen Thesen seines Buches. So zum Beispiel, wenn er festhält, „natürlich (!) stört es die Mehrheit der Bevölkerung, dass sie einen immer geringer werdenden Anteil an den von der Bevölkerung erwirtschafteten Gewinnen hat“ (S. 161). Oder:

„[Wir] verfügen […] von Natur aus über ein reiches Repertoire an Möglichkeiten unseres Verstandes, um Manipulationskontexte erkennen und somit aktiv vermeiden zu können. Wir verfügen gleichsam über ein natürliches Immunsystem gegen Manipulation. Wir müssen uns nur entschließen, es zu nutzen“ (S. 52).

Ich würde stattdessen formulieren:

Wir verfügen von Natur aus über gesunde psychische Maßstäbe, die uns erkennen lassen könnten, was gut und schlecht für uns ist. Das würde uns unter anderem helfen, Manipulationskontexte zu erkennen und somit aktiv vermeiden zu können.
Wir verfügen gleichsam über ein natürliches Immunsystem gegen Manipulation. Nur ist dieses in aller Regel durch unsere entfremdende, autoritäre Sozialisation verschüttet. Wir müssen uns daher entschließen, es mühsam wieder „auszugraben“ – zum Beispiel durch eine tiefgründige Psychotherapie –, um es nutzen zu können.

Dass derartige „Ausgrabungen“ möglich sind, demonstriert Mausfelds Buch ebenso wie zahllose andere sozialkritische Publikationen.

Da Rainer Mausfeld die erwähnten psychosozialen Hintergründe ausblendet, dürfte die Lektüre seines Buches einerseits die Wut auf „die da oben“ beleben – ohne jedoch zugleich zum notwendigen Nachdenken darüber anzuregen, welche eigenen Anteile, Störungen aus unserer Lebensgeschichte, Kindheit, Elternbeziehung dieses Sich-Manipulieren-Lassen überhaupt erst ermöglichen.

Wir werden nicht erst durch Medien vielfach verdummt, sondern wir werden spätestens von Geburt an, in Familie, Kindergarten und Schule psychisch so geformt – genauer gesagt: deformiert – dass wir möglichst reibungslos in die bestehende Gesellschaft passen.
Aber das geschieht in der prägenden Anfangsphase unseres Lebens ja nicht etwa durch Eliten. Sondern durch Eltern, Kita-Erzieherinnen, Ärzte, Lehrer usw. Wir deformieren unsere Kinder selbst – wenn auch im oftmals unbewussten „Auftrag“ der Herrschenden und auf Grundlage von deren, von uns längst verinnerlichter Ideologie.

Das war auch der Grund, weshalb Wilhelm Reich sein Augenmerk auf den Schutz der „Kinder der Zukunft“ vor dieser psychosozialen Zurichtung lenkte. Diese Zurichtung erst schafft die Basis dafür, dass wir die uns umgebende Gesellschaft inklusive der Botschaften der Medien als Erwachsene zumeist nicht in Frage stellen, dass wir „funktionieren“ – und so die gesellschaftlichen Verhältnisse am Laufen halten, unter denen auch wir selbst leiden.
Wir Erwachsene sind mitverantwortlich für das, was Wirtschafts- und Politikeliten mit unserem Staat und mit uns tun – inklusive medialer Verdummung. Ohne unsere massenhafte Duldung und Unterstützung wären Eliten handlungsunfähig.

Diese bittere Erkenntnis erspart uns Mausfeld. Damit fällt zugleich die ermutigende Kehrseite dieser Situation unter den Tisch: Wofür wir mitverantwortlich sind, darauf können wir Einfluss nehmen.

Lösungen

Rainer Mausfelds wichtigste Lösungsvorschläge sind, soweit ich sehe: Mehr Verstand einsetzen (S. 52) bzw. den „Leitidealen“ der Aufklärung „neue Strahlkrafft verleihen“ (S. 274), weniger Medien konsumieren (S. 52) und das Mediensystem radikal demokratisieren (S. 172). Diese Vorschläge kann ich unterschreiben.
Doch sie greifen entschieden zu kurz, ebenso wie Mausfelds Einschätzung, die politische Passivität der Massen sei das Resultat „einer jahrzehntelangen systematischen Indoktrination durch die herrschenden Eliten“ (S. 106).

Wilhelm Reich, der 1933 detailliert analysierte, wie uns autoritär-gefühlsunterdrückende Erziehung und Sozialisation erst zu den „schweigenden Schafen“ machen, über die nun auch Mausfeld schreibt, schlussfolgerte: Nicht nur der Kapitalismus muss überwunden werden, sondern mit ihm die jahrtausendealte patriarchalische Tradition autoritärer Gefühls- und Sexualunterdrückung, der systematischen, spätestens bei der Geburt beginnenden Entfremdung der Menschen von sich selbst.
Reich schrieb auch: „[J]ede Gesellschaftsordnung erzeugt in den Massen ihrer Mitglieder diejenigen Strukturen, die sie für ihre Hauptziele braucht“. Und:

„In der Klassengesellschaft ist es die jeweils herrschende Klasse, die mit Hilfe der Erziehung und der Familieninstitution ihre Position sichert, indem sie ihre Ideologien zu den herrschenden Ideologien aller Gesellschaftsmitglieder macht.“

Damit lieferte Reich die psychologische Basis für einen bekannten Satz von Karl Marx und Friedrich Engels: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“
In der Tat: Dies gilt seit Jahrhunderten, galt auch, als es noch gar keine Massenmedien und kein „Framing“ gab. Die „Schafe“ schwiegen schon damals.
Warum wohl?

Ich meine: Die Erkenntnisse Rainer Mausfelds sollten dringend mit denen von Wilhelm Reich und Erich Fromm kombiniert sowie mit ergänzenden Befunden aus Entwicklungs- und Neuropsychologie abgeglichen werden.
Erst dann könnten wir umfassend begreifen, auf welche Weise wir alltäglich manipuliert werden. Und nur wenn wir das begreifen, haben wir überhaupt eine Chance, daran etwas zu ändern.

*

[1] Ich danke Gudrun Peters, Manfred Lotze, Günter Rexilius und Hartmut Rübner für kritische Rückmeldungen zu diesem Text.

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