Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Eine Kurzfassung

 von Andreas Peglau (Juni 2019)

Psychoanalyse im Nationalsozialismus

 

 

 

 

 

 

 

 

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Peglau, Andreas (2019): Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Eine Kurzfassung, https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/wp-content/uploads/2019/06/Andreas-Peglau-Psychoanalyse-im-Nationalsozialismus.-Eine-Kurzfassung-2019.pdf

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 Vorab

2013 erschien erstmals mein Buch „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“. 2017 brachte der Psychosozial-Verlag Gießen die dritte und erweiterte Auflage heraus.
Um einige der wichtigsten Ergebnisse meiner Recherchen leichter zugänglich zu machen, habe ich nun – mit freundlicher Erlaubnis des Verlages – neun gekürzte, geänderte und zu Teilen ergänzte Auszüge des Buches zusammengestellt.
Zwar können sie die Informationsfülle und Detailliertheit der knapp 700 Buchseiten nicht ersetzen (siehe auch die Rezensionsauszüge am Ende dieser Kurzfassung).
Aber sie bieten einen guten Einstieg in dessen Inhalt.

Vielleicht – das hoffe ich – regen sie auch weitere Forschungen zu diesem Thema an. Notwendig sind solche Forschungen schon deshalb, um das ursprüngliche Potential der Psychoanalyse als kritischer Sozialwissenschaft wiederzubeleben.
Der größte Teil davon ist in der NS-Zeit verloren gegangen – bislang dauerhaft.

Zugleich kann die Auseinandersetzung mit den schuldhaften Verstrickungen früherer Generationen dabei helfen, eigene Maßstäbe für ethisch angemessenes Verhalten auf den Prüfstand zu stellen.

Andreas Peglau, Berlin im Juni 2019

P.S. Das komplette Quellen- und Literaturverzeichnis des Buches lässt sich hier nachlesen und herunterladen: https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/wp-content/uploads/2019/06/Quellen-und-Literatur-Peglau-Unpolitische-Wissenschaft-Wilhelm-Reich-und-die-Psychoanalyse-im-Nationalsozialismus-Psychosozial-Verlag-Gie%C3%9Fen-2017.pdf
Da dort auch die Quellen enthalten sind, auf die ich im Folgenden verweise, habe ich im vorliegenden Text auf deren Nachweis verzichtet. Soweit ich zusätzliche Literatur herangezogen habe, ist diese jeweils am Ende der neun Abschnitte aufgeführt. Der Hinweis „Peglau 2017a“ bezieht sich auf weiterführende Abschnitte der dritten Auflage von „Unpolitische Wissenschaft?“.

 

 

Inhalt

1. „Liquidierung“? Totalverbot? Mitnichten: ein hohes Maß an Kollaboration.

2. Verbrannte Psychoanalyse: pauschaler Bannspruch, vier direkt betroffene Autoren

3. „Die Psychoanalyse bemüht sich, (…) unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen (…) umzuformen“. Das 1933er „Memorandum“

4. Verbotene Psychoanalyse? Zwischen „soll unangetastet bleiben“ und „ist auszumerzen“

5. „Vergeßt das Unbewußte nicht!“ Die Neue deutsche Seelenheilkunde

6. Viel Würdigung, wenig Diffamierung. Psychoanalyse in der deutschen Fachliteratur

7. Ein „sehr modernes medizinisches Fach“ und „jüdische Seelenvergiftung“: Psychoanalyse im Völkischen Beobachter

8. „Möglichst keine tödlichen Diagnosen“. Zuarbeiten des Göring-Institutes zur „Eugenik“

9. Tiefenpsychologische Kriegsführung 

Anhang: Der vorgefundene Forschungsstand

Zitate aus Rezensionen

 

 


 

1. „Liquidierung“? Totalverbot? Mitnichten: ein hohes Maß an Kollaboration.

Legenden

Bis heute wird, auch in Fachkreisen, vielfach die Meinung vertreten, Freuds Name, seine Erkenntnisse und die von ihm kreierten Begriffe durften in Deutschland zwischen 1933 und 1945 grundsätzlich nur noch in herabwürdigender Weise öffentlich erwähnt werden.
So schrieb 2010 die prominente französische Psychoanalytikerin und Historikerin Elisabeth Roudinesco, das analytische Vokabular wurde im Dritten Reich „ausgerottet: Die Wörter der Psychoanalyse werden noch vor der Anwendung des Programms der Endlösung gewissermaßen ‘vernichtet‘“ (Roudinesco 2011, S. 29, Fn 26). Sechs Jahre zuvor hatten sie und Michel Plon im Wörterbuch der Psychoanalyse behauptet, dass der Nationalsozialismus „in seinem Programm“ – es bleibt unklar, was gemeint ist – „die radikale Vernichtung der Psychoanalyse bzw. ihrer Begriffe, Werke, Institutionen, Bewegung und Therapeuten vorsah“, ein „Vernichtungsprogramm der Psychoanalyse“ sei durchgeführt worden (Roudinesco/Plon 2004, S. 712).
Lothar Bayer und Hans-Martin Lohmann meinten im 2006 erschienenen Freud-Handbuch, die Freud-Rezeption sei in Deutschland „durch den ‘Kulturbruch’, den der Sieg des Nationalsozialismus bedeutete, seit 1933 faktisch zum Stillstand gekommen“ (Lohmann/Pfeiffer 2006, S. 277). Tilmann J. Elliger (1986, S. 145) sprach von einem „praktischen Verbot jeglicher psychoanalytischer Publizierung“. „Fortan“ sei es nicht mehr möglich gewesen,

„psychoanalytische Arbeiten zu zitieren – es sei denn in kritischem und ablehnendem Sinne. Entsprechend sistierte die Rezensionstätigkeit über Freudsche Arbeiten in den deutschen Zeitschriften 1933 schlagartig, verschwanden die psychoanalytischen Arbeiten vom deutschen Buchmarkt“.

Regine Lockot urteilte 1985 im – 2002 wieder aufgelegten – Standardwerk Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus: „Die psychoanalytische Terminologie durfte nicht mehr verwandt werden“ (Lockot 2002, S. 8).
1976 vertraten die einflussreiche französische Analytikerin Janine Chasseguet-Smirgel und ihr Kollege Béla Grunberger die Ansicht, „in totalitären Systemen, seien sie nun rechts- oder linksgerichtet“, werde „die Ausübung und Verbreitung der Psychoanalyse verboten“ (Grunberger/Chasseguet-Smirgel 1979, S. 60f.).
Schon 1963 hatte Helmut Thomä (1963a, S. 44f.) geschrieben, dass „psychoanalytische Publikationen 1933 aufhörten“ und „Autoren […], die in Berlin verblieben waren, […] Freuds Ansichten nicht mehr öffentlich vertreten [konnten]. Die psychoanalytische Terminologie war verpönt“.

Ausgangspunkt derartiger Betrachtungsweisen, für die sich viele weitere Beispiele finden lassen, dürften Überlieferungen von Analytikern sein, die selbst in die Geschehnisse im Dritten Reich involviert gewesen waren.
Felix Boehm, 1933 zum DPG-Vorsitzenden gewählt, berichtete in der Rückschau: „Da Freud – wenn überhaupt – nur kritisch zitiert werden durfte“, habe er sich notgedrungen behelfen müssen mit der Wendung „wie ein Freund von mir einmal sagte“ (zitiert in Lockot 2002, S. 117). Und ein anderer Hauptakteur jener Zeit, der langjährige Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung Ernest Jones, bezeichnete 1957 „die ‘Liquidierung’ der Psychoanalyse im Deutschen Reich“ als

„eine der wenigen Taten, die Hitler vollständig gelungen sind. Rückblickend muß man staunen, wie es möglich war, das in Deutschland so verbreitete Wissen von Freud und seinem Werk derartig vollständig auszulöschen“ (Jones 1984, Bd. 3, S. 222).

Bernd Nitzschke (2013, S. 117) vermerkt dazu:

„Hätte Jones mit seiner Darstellung recht, so wäre es nicht mehr nötig, nach der Politik gegenüber dem NS-Regime zu fragen, die die Vertreter der Psychoanalyse nach 1934 betrieben haben. Denn es hätte ja gar keine Psychoanalyse mehr gegeben“.[1]

Auch Elisabeth Brainin und Isidor J. Kaminer urteilten, dass „die Verleugnung in manchen Darstellungen“ so weit gehe, „die Psychoanalyse in der Nazizeit für tot zu erklären, um nicht sehen zu müssen, wie sehr sie sich in den Dienst der herrschenden Ideologie gestellt hatte“ (Brainin/Kaminer 1982, S. 1001).[2]

Ob nun absichtlich oder unabsichtlich, in der Tat erschweren alle zuvor zitierten Verabsolutierungen über die Unterdrückung der Analyse den Blick auf die NS-Zeit.
Denn sie sind falsch.

Wie sah die Realität aus?

Bei der Berliner Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 wurde der „Schule Sigmund Freuds“ ein eigener „Feuerspruch“ gewidmet. Freud und seine Lehre waren darüber hinaus teils hasserfüllt wirkenden Verbalattacken ausgesetzt (Brecht et al. 1985,S. 86–90, 103).[3]
Belegt ist zudem, dass das Weiterbestehen der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) im ersten Jahr der NS-Diktatur bedroht war (Brecht et al. 1985, S. 103ff.) und dass C.G. Jung sich beeilte, gegen die angeblich jüdische, „un-germanische“ Psychoanalyse öffentlich Front zu machen (Zentralblatt für Psychotherapie, 1933, Bd. 6, S. 139, 1934, Bd. 7, S. 9).
Der Psychiater und ausgewiesene Psychoanalysegegner Oswald Bumke setzte seine grundsätzliche, doch im sachlichen Ton gehaltene Kritik an Freud, C.G. Jung und Alfred Adler nach 1933 fort (z.B. Bumke 1938; 1941, S. 205–221).
Andere Ärzte scheinen die Hoffnung, Freuds Werk oder zumindest dessen angeblich jüdische Bestandteile dem Vergessen überantworten zu können, nicht aufgegeben zu haben (Brecht et al. 1985, S. 172). (Weitere Informationen siehe „Der vorgefundene Forschungsstand“ im Anhang.)

Gemessen daran, dass es hier um einen Zeitraum von immerhin zwölf Jahren geht und dass die Psychoanalyse nach allgemeinem Verständnis zu den Feindbildern des Nationalsozialismus gehörte, wurden in psychoanalysehistorischen Darstellungen jedoch nur relativ wenige, zumeist aus den Anfangsjahren des Dritten Reichs stammende öffentliche Diffamierungen der Psychoanalyse benannt.[4] Für keine dieser Diffamierungen zeichnete ein höherer NS-Funktionär als Autor verantwortlich.

Neue Quellen

Um zu umfassenderen Erkenntnissen zu gelangen, habe ich eine Vielzahl von Dokumenten vor allem aus deutschen Archiven[5] einbezogen.
Zudem wertete ich 2012 als einer der ersten europäischen Forscher den 2007 geöffneten Nachlass Wilhelm Reichs aus. Er ist Bestandteil der Materialien der Archives of the Orgone Institute und lagert in der Bostoner Harvard University.

Im Januar 2012 sichtete ich dort sämtliche Dokumente, die für mich erkennbar in Bezug zu Reichs Zeit in Berlin, zur Psychoanalyse und zu seinen bis 1946 entstandenen faschismuskritischen Publikationen standen.

Psychoanalyse im Nationalsozialismus Boston, Archiv

Einer der Aufbewahrungskästen für Wilhelm Reichs Nachlass im Bostoner Archiv (Foto A. Peglau 2012)

Darüber hinaus habe ich insbesondere auf zeitgenössische psychotherapeutische Fachliteratur, diverse Biografien und geschichtswissenschaftliche Forschungsliteratur zugegriffen. Ein großer Teil dieser Quellen wurde zuvor überhaupt noch nicht ausgewertet oder zumindest nicht im Zusammenhang mit der Psychoanalysegeschichte.

Notwendige Korrekturen am Bild der Psychoanalyse

Eine der wesentlichsten Erkenntnisse, die sich aus meinen Recherchen ergab, ist, dass Psychoanalyse, Psychoanalytiker und psychoanalytische Literatur[6] noch weitaus stärker in das NS-System integriert waren, als von damaligen Psychoanalytikern im Nachhinein meist zugegeben wurde bzw. auch heute noch zumeist angenommen oder behauptet wird. Die gegen die Psychoanalyse und ihre Schriften gerichteten Maßnahmen fielen dementsprechend ebenfalls weit weniger hart aus.
Konsequent unterdrückt wurde nur ein sehr kleiner Teil der Psychoanalyse (und der Individualpsychologie), nämlich deren offen gesellschaftskritische, insbesondere „linke“ Ausrichtung. Wesentliche Teile des therapeutischen analytischen Wissens wurden dagegen von NS-Verantwortlichen toleriert und – insbesondere am Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie (DIPFP), dem sogenannten „Göring-Institut“ – pragmatisch genutzt (Peglau 2017a, S. 468–484).
Nicht nur im Zentralblatt für Psychotherapie, der für innerhalb Deutschlands wirkende Psychotherapeuten entscheidenden Zeitschrift, blieb es bis zur Einstellung ihres Erscheinens 1944 möglich, würdigend von „Psychoanalyse“ zu sprechen – von „Tiefenpsychologie“ ohnehin – und zentrale analytische Termini wie „Übertragung“, „Projektion“ und „Libido“ zu gebrauchen, ohne sich davon zu distanzieren (ebd. S. 351–410).
Dass es auch außerhalb von Fachmedien nicht tabuisiert war, die Analyse positiv zu erwähnen, belegt sogar der Völkische Beobachter.
Wenn Psychoanalytiker zu Opfern des NS-Systems wurden, dann niemals, weil sie Psychoanalytiker waren, sondern wegen ihrer jüdischen Herkunft oder wegen widerständigen, insbesondere politisch „linken“ Äußerungen oder Aktivitäten: Mindestens 23 von ihnen starben durch direkte oder indirekte Einwirkung des NS-Terrors (Hermanns 2001, S. 46; Th. Mueller 2000, S. 6; Brecht et al. 1985, S. 76–85).

Direkte Widerstandshandlungen waren freilich bei Analytikern ebenso selten wie bei anderen Berufsgruppen: Acht Psychoanalytiker bzw. in Ausbildung zum Psychoanalytiker befindliche Personen waren daran beteiligt (Peglau 2017a, S. 451–455).

Das NS-System, so lässt sich zusammenfassen, profitierte von mehreren, teils prominenten „Freudianern“ und von diversen Freud’schen Erkenntnissen. Wie die Geschichte des 1943 wegen Hochverrates hingerichteten John Rittmeister zeigt, konnten Widerstand und Kollaboration in ein und derselben Person zusammenfallen: Rittmeisters Name stand ebenfalls unter dem am DIPFP erstellten „Diagnoseschema“, das bis zu 15 Prozent der Patienten mit einer Stigmatisierung versah, die zu Sterilisation und Euthanasie führen konnte. Mit diesem Schema leisteten auch die beteiligten Analytiker dem NS-Patientenmord Vorschub. Zumindest von der späteren DPV-Mitbegründerin Ingeborg Kath und dem „wilden Analytiker“ J. H. Schultz liegen zudem Selbstzeugnisse vor, die direkte Beihilfe zu den Euthanasieverbrechen belegen.
Auch den im arbeitenden Psychoanalytikern und Tiefenpsychologen gelang nicht, was ohnedies ein Unding ist: innerhalb eines Systems und mit dessen Anerkennung zu wirken, ohne Anteil an dem zu haben, was dieses System an Schuld auf sich lädt.
Warum also hätten die verantwortlichen Nationalsozialisten Erkenntnisse, Schriftgut oder Vokabular einer Wissenschaftsrichtung konsequent ächten sollen, die sich ja (wenn auch wesentlicher Inhalte beraubt) durchaus als verwendbar im Sinne des NS-Staates herausstellte?

Ausnahme und Hoffnungsträger: Wilhelm Reich

Der einzige Psychoanalytiker, der wegen seines politischen Engagements 1933 aus Preußen, dann auch aus Deutschland ausgewiesen und 1939 ausgebürgert wurde, war Wilhelm Reich (ebd., S. 328–338). Er war auch der einzige Psychoanalytiker, der seine Kollegen öffentlich – wenn auch vergeblich – davor warnte, sich mit dem NS-Staat einzulassen.
Ende 1930 war er von Wien nach Berlin gezogen. Hier schloss er sich umgehend der KPD an und rückte alsbald in ein Leitungsgremium einer KPD-nahen sexualpolitischen Massenorganisation auf. Anfang März 1933, wenige Wochen nach Hitlers Machtübernahme, musste Reich aus Deutschland fliehen.
Die veröffentlichten Mitteilungen über seine Aktivitäten in den dazwischenliegenden zweieinhalb Jahren sind ausgesprochen lücken-, oft auch fehlerhaft. Die Ergänzungen, die ich dazu vornehmen konnte, erzwingen eine Neubewertung Wilhelm Reichs: als einem der wichtigsten Vertreter, Anwender und Weiterentwickler der Freud’schen Lehre – sowohl was deren therapeutische als auch deren sozialkritische Aspekte anbelangt.
Mit seinem öffentlichen antifaschistischen Engagement und seiner Gesellschaftsanalyse, wie er sie in der 1933 erschienenen Massenpsychologie des Faschismus formulierte, nahm Reich unter den Anhängern Freuds eine positive Sonderstellung ein.
Hätten sich die Psychoanalytiker mit Reichs Erkenntnissen und Fragen konstruktiv auseinandergesetzt statt ihn auszugrenzen, hätte dies die Chancen beträchtlich vergrößert, eine weiterhin aufklärerische Psychoanalyse zu betreiben – auch eine Psychoanalyse gegen den Faschismus.
Die Psychoanalyse täte noch immer gut daran, gerade an Letzteres anzuknüpfen. Nicht nur, um ihren anhaltenden Abstieg in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit (Peglau 2017a, S. 544–547) zu stoppen. Sondern auch, um wenigstens heute – angesichts des aktuellen politischen „Rechtsrucks“ (Peglau 2017b) – ihrer objektiven Verantwortung gerecht zu werden.
Bislang gilt jedoch der Befund von Elisabeth Brainin und Isidor J. Kaminer (1982, S. 989):

„Obwohl ‘Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten’ ein wesentliches Prinzip psychoanalytischer Arbeit darstellt, ist ein Großteil der Analytiker nicht in der Lage, dieses Prinzip auf die Ära des Nationalsozialismus anzuwenden.“

*

Zusätzliche Literatur:
Peglau, Andreas (2017b): Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus als Erklärungsansatz, Berlin: NORA.

Anmerkungen
[1] Bereits der Zeitzeuge und Analytiker Franz Baumeyer hat Jones’ Aussage widersprochen und darauf verwiesen, dass die Psychoanalyse in ihrer Anwendung behindert, aber nicht liquidiert wurde. Wenn er allerdings pauschal urteilt, die Psychoanalyse sei „in Deutschland erhalten geblieben“ und damit „das kompromißbereite Vorgehen der DPG“ als „gerechtfertigt“ einstuft, ist das diskussionswürdig (Baumeyer 1971, S. 205ff., 216).
[2] Walter Bräutigam, Ausbildungskandidat in Berlin ab 1942, widerspricht aufgrund seiner, wie er selbst sagt, „subjektive[n] Erfahrung“ der These von der In-Dienst-Stellung der Analyse (Bräutigam 1984, S. 911). Wie wir sehen werden, sprechen jedoch zahlreiche Befunde für die These von Brainin und Kaminer. Zuzustimmen ist Bräutigam aber in jedem Fall, wenn er fordert, zur Beurteilung dieses Sachverhaltes zu klären, „was die eigentliche Verkörperung psychoanalytischer Tradition […] ist“ (ebd.). Widersprüchlich formuliert Käthe Dräger (1994, S. 43, 52), eine andere Zeitzeugin, zunächst, dass die Psychoanalyse „vernichtet“ wurde, dann, dass sie „verschüttet, aber […] nicht völlig tot“ gewesen sei.
[3] So am 14.5.1933, also vier Tage nach der Berliner Bücherverbrennung, ausführlich in der Berliner Börsenzeitung. Unter der Überschrift „Wider die Psychoanalyse“ hieß es dort unter anderem, die „Ärmlichkeit“ der Freudschen Auffassung drücke sich insbesondere in ihrer falschen, herabwürdigenden „Einstellung gegenüber dem religiösen Erleben aus“. In der Deutschen Volksgesundheit aus Blut und Boden vom August/September 1933 konnte man auf Seite 15 über Die Psychoanalyse des Juden Freud lesen, sie nehme den Patienten den letzten ethischen Halt und stoße sie hinab „in die asiatische Weltanschauung ‘Genieße, denn morgen bist du tot!’“. Freud reihe sich, hieß es weiter, würdig ein in „die anderen jüdischen Bestrebungen, die nordische Rasse an ihrem empfindlichsten Punkt, dem Geschlechtsleben, zu treffen“, er habe eine „schmutzige Fantasie“, deute Sexualität „schon in die Kinderseele“ hinein, habe das Konzept des Unbewussten nur erdacht, „um die Stimme des Gewissens, die sich bei Onanie und außerehelichem Verkehr im nordischen Menschen regt, zu töten“. Ebenfalls 1933 behauptete der NS-Pathologe Martin Staemmler, später unter anderem Referent im „Rassenpolitischen Amt“ (Essner 2002, S. 74), die Psychoanalyse ziehe „jede geistige Regung, jede Ungezogenheit des Kindes mit in die sexuelle Sphäre“ hinein. Zustimmend zitierte er den Chemnitzer Kinderarzt Kurt Oxenius (persönliche Information von Thomas Lennert, 20.5.2014) mit der Behauptung, für Psychoanalytiker bestehe der Mensch „nur noch aus einem Geschlechtsorgan […], um das herum der Körper vegetiert“ (Staemmler 1933, S. 207). In der Deutschen Volksgesundheit aus Blut und Boden vom Juli 1934 (S. 10–11) diffamierte ein Dr. Horst W. Raensch in dem Artikel „Die Rolle des Juden in der Medizin. Jude und Onanie“ ausführlich Magnus Hirschfeld und Max Hodann, zählte dann auch Freud („der die Onanie beim Säugling für möglich, ja natürlich hält“), Stefan Zweig, Otto Weininger, Ernst Toller, Leonard Frank, Georg Manes auf, die „mit dazu beitragen, die Jugend unseres Volkes zu verderben“. Für den im Dritten Reich (und in der BRD) angesehenen Theologen und Experten für Jugendsexualität, Heinz Hunger, war die Psychoanalyse 1938 „nichts anderes als die Vergewaltigung der abendländischen Kultur“ (zitiert in Herzog 2005, S. 30). „Psychoanalytiker und Ärzte – ‘meist jüdischer Herkunft’ – die für die Rechte von Homosexuellen eintraten, wurden als ‘Zuhälter unter wissenschaftlichem Deckmantel’ bezeichnet, von der Psychoanalyse beeinflusste Fachleute für Sexualerziehung zu ‘jüdischen Sexualverbrechern’ erklärt“, ergänzt die Historikerin Dagmar Herzog (ebd.).
[4] Um den Umgang mit Psychoanalyse im NS-Staat durch Originalquellen zu belegen, wird oftmals auf die (zu Teilen schon in Zapp 1980 genannten) in Brecht et al. (1985, insbesondere S. 86–90) abgebildeten Dokumente verwiesen, so in Cocks (1997); Goggin/Goggin (2001); Lockot (2002, S. 138ff.); Roudinesco/Plon (2004, S. 712f.); Herzog (2005, S. 30); Zaretsky (2006, S. 323). Eine umfassende wissenschaftliche Arbeit zur öffentlichen Rezeption der Psychoanalyse im Dritten Reich ist mir nicht bekannt. Die von Johannes Cremerius 1981 herausgegebene Untersuchung über Die Rezeption der Psychoanalyse im deutschen Sprachraum endet für Deutschland im Wesentlichen 1933, für Österreich 1938.
[5] So unter anderem aus dem Bundesarchiv Berlin und dem im Bundesarchiv Koblenz lagernden Archiv zur Geschichte der Psychoanalyse. Weitere in meiner Arbeit verwendete Dokumente entstammen dem Landesarchiv Berlin, dem politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, dem Hausarchiv der Deutschen Bücherei Leipzig, dem Willy-Brandt-Archiv in Bonn, dem Archiv der Sozialistischen Arbeiterpartei SAP, dem Archiv der Gedenkstätte deutscher Widerstand, dem Berliner Bertolt-Brecht-Archiv, dem Landeshauptarchiv Brandenburg, dem Russischen Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte (RGASPI), Moskau sowie mehreren Privatarchiven.
[6] Dass hier eine Übereinstimmung existiert, erscheint logisch: Psychoanalyse und psychoanalytische Literatur sind nicht zu trennen. Freuds Schriften sind eine entscheidende Basis der Analyse, nicht zuletzt durch ihre Publikationen erlangte die Analyse Weltgeltung und erlangten die Analytiker eine verbindende Identität. Der Umgang mit der Psychoanalyse musste also immer Einfluss auf die Behandlung analytischer Literatur haben. Umgekehrt musste sich in der Behandlung dieser Literatur die Stellung der Psychoanalyse in der Gesellschaft wiederspiegeln – auch im Nationalsozialismus.

 

 


 

2. Verbrannte Psychoanalyse: pauschaler Bannspruch, vier direkt betroffene Autoren

10. Mai 1933, Berlin

Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten mehrten sich in der Tat die Zeichen für eine zu erwartende Bedrohung der Psychoanalyse in Deutschland. Das in dieser Hinsicht dramatischte Ereignis ereignete sich Anfang Mai in Berlin.

Mehr oder weniger spontane Bücherverbrennungen, meist als Begleiterscheinung von SA- und SS-Terror, gab es bereits ab März 1933. Bis zum Oktober des Jahres lassen sich bislang mehr als 100 Verbrennungsakte in 85 deutschen Städten nachweisen (Treß 2011, S. 40f.). Die meisten davon wurden von der Hitlerjugend organisiert und richteten sich gegen missliebige Bestände von Schulbibliotheken (Treß 2008a, S. 14ff., 2008b, S. 52–58). Aber auch der von Alfred Rosenberg geleitete Kampfbund für deutsche Kultur, der Deutsche Handlungsgehilfenverband, die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation sowie Ortsgruppen der NSDAP traten als Träger der Vernichtungsaktionen in Erscheinung (Treß 2008a, S. 24).
Ab April 1933 beteiligten sich nationalsozialistische Studenten ebenfalls mit einem Diffamierungs- und Zerstörungskonzept: der Aktion „Wider den undeutschen Geist!“. Die eng mit der SA verflochtene Deutsche Studentenschaft (DSt) wollte damit offenbar auch die eigene Bedeutsamkeit spektakulär demonstrieren (Treß 2008a, S. 53, 2003, S. 61ff.). Als Termin für Hauptakt und Höhepunkt der auf vier Wochen angelegten Kampagne benannte die DSt-Leitung den 10. Mai 1933, als Ort Berlin.
Bevor hier an jenem Abend die zentrale Aktion der Bücherverbrennung begann, hielt der Philosoph und Pädagoge Alfred Baeumler in der Berliner Universität seine Antrittsvorlesung als neu berufener Ordinarius für Politische Pädagogik (Treß 2003, S. 117). Die Sätze, die er den Studenten am Ende mit auf den Weg gab, dürften sich auch auf Sigmund Freud bezogen haben:[1]

„Sie ziehen jetzt hinaus, um Bücher zu verbrennen, in denen ein uns fremder Geist sich des deutschen Wortes bedient hat, um uns zu bekämpfen […]. Was wir heute von uns abtun, sind Giftstoffe, die sich in der Zeit einer falschen Duldung angesammelt haben. Es ist unsere Aufgabe, den deutschen Geist in uns so mächtig werden zu lassen, dass sich solche Stoffe nicht mehr ansammeln können“ (ebd., S. 118).

Bald darauf versammelten sich tausende Schaulustige, Professoren in Talaren, NS-Studenten sowie Abordnungen von SA, SS, Burschenschaften und Hitlerjugend auf dem durch Scheinwerfer hell erleuchteten Berliner Opernplatz, umrahmt von den Gebäuden der Berliner Universität, der Königlichen Bibliothek, der Hedwigskirche und der Berliner Oper.

Bebelplatz Berlin Psychoanalyse im Nationalsozialismus

Der heutige (August-)Bebel-, frühere Opernplatz, Ort der Berliner Bücherverbrennung (Foto: Gudrun Peters 2007).

Feuersprüche

Vor dieser ebenso geschichts- wie kulturträchtigen Kulisse begann gegen 23:30 Uhr der Hauptakt, und die „Feuersprüche“ wurden deklamiert. Diese waren am Vortag von der DSt-Leitung per Rundschreiben vorgegeben worden.

Alle Sprüche waren zweigeteilt. In der ersten Zeile erfuhr man, wogegen sich der Spruch richtete: „Klassenkampf“, „Verrat“, „Gesinnungslumperei“ usw. In dem der Psychoanalyse gewidmeten Spruch Nummer vier hieß es: „Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des
Trieblebens“. Schon das Wort „seelenzerfasernd“ – eine in gewisser Weise treffende, wenn auch abwertende Übersetzung von „psychoanalytisch“ – erforderte eine Einsicht, die bei zumal politisch „rechts“-orientierten Studenten nicht unbedingt vorausgesetzt werden konnte. Sieht man sich die Sprüche, in denen ganz verschiedene Gebiete sowie 15 teils wenig bekannte Journalisten, Wissenschaftler, Schriftsteller und Verleger aufgeführt wurden, insgesamt an, verstärkt sich der Eindruck: Für diese Formulierungen waren Kenntnisse nötig, die das normale Maß (NS‑)studentischer Allgemeinbildung überschritten haben dürften.
Die zweite Zeile ergänzte jeweils, wofür man stattdessen zu sein hatte. Das wies durchweg „nationale“ Bezüge auf – „Volksgemeinschaft“, „deutscher Volksgeist“ und Ähnliches wurden benannt –, mit Ausnahme von Spruch vier.
Denn hier lautete die zweite Zeile: „Für den Adel der menschlichen Seele“. Im Gegensatz zu den anderen Feinden wurde also die Psychoanalyse als ein globales Risiko bewertet: nämlich als Risiko für die menschliche Seele an sich. Ihre Erkenntnisse, so scheint man hier gewusst zu haben, machten nicht an (deutschen) Länder- oder Sprachgrenzen halt; das „Zersetzungs“-Potenzial der Analyse bedrohte grundlegende – patriarchale, autoritäre, gefühlsunterdrückende – Normen, auf denen auch der Nationalsozialismus beruhte.
Hinter der Einschätzung der Psychoanalyse als Risiko könnte sich tatsächlich eine indirekte Anerkennung ihrer aufklärerischen und therapeutischen Möglichkeiten verbergen. Denn dass ausgerechnet die für die Bücherverbrennung federführenden Nationalsozialisten menschlichen Seelenadel eingeklagten, lässt sich vielleicht so verstehen: Die destruktiven Persönlichkeitsstrukturen derer, die sich in Gestalt des Dritten Reiches, des italienischen Faschismus und ähnlicher Regimes einen für sie passenden sozialen Rahmen schufen, sollten nicht durch analytische Erkenntnisse demaskiert – oder gar geheilt – werden.

Acht der neun Sprüche bezogen sich auf bestimmte Personen, deren Werke verbrannt werden sollten: von „Marx, Kautsky“ (Spruch eins) über Heinrich Mann, Erich Kästner und andere bis „Tucholsky, Ossietzky“ (Spruch neun). Begleitet von Spruch vier war jedoch laut DSt-Rundschreiben ins Feuer zu werfen: „Freudsche Schule, Zeitschrift Imago“.

Das hieß: Hier wurde ausnahmsweise kein einzelner Autor zum symbolischen Feuertod verurteilt. Anvisiert war vielmehr die gesamte, von Freud geprägte Wissenschafts- und Therapierichtung einschließlich ihrer Publikationen – Bücher ebenso wie Zeitschriften. Das ist umso bemerkenswerter, als ja zumindest auch Marx und Kautsky „Schulen“ und Organisationen hinter sich hatten: die marxistische bzw. sozialistische Bewegung. Doch unterblieb hier eine entsprechende Ausweitung beim Benennen zu vernichtender Schriften. Sollte etwa vermieden werden, die eher sozialistisch orientierten Anhänger in den eigenen Reihen zu frustrieren? Das könnte auf „Feuerspruch“-Autoren hindeuten, die nicht nur über ein hohes Maß an politischem Bewusstsein im Sinne des NS-Staates verfügten, sondern vielleicht auch selbst zum „linken“ NSDAP-Flügel „gehörten.
Dass gerade die Zeitschrift Imago ausgewählt worden war, belegt nun mit Sicherheit eine gewisse Kompetenz in Sachen Analyse: Da diese Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geistes- und Naturwissenschaften das weiteste Themenspektrum unter den analytischen Periodika hatte, ließ sich hier auch die größte öffentliche Wirkung über die Ärzteschaft hinaus vermuten.

Wie sich heute noch anhand eines erhalten gebliebenen Tondokuments[2] nachvollziehen lässt, hieß es dann am 10.5.1933 an vierter Stelle bei den „Feuersprüchen“:

„Gegen seelenzersetzende Überschätzung des Trieblebens!
Für den Adel des menschlichen … der menschlichen Seele!
Ich übergebe dem Feuer die Schriften der Schule Sigmund Freuds!“[3]

An diesem Abend in Berlin kam es also, wie geplant, zur deutschlandweit per Rundfunk[4] ausgestrahlten Verdammung der gesamten Psychoanalyse. Ein Faktum, das in der mir bekannten Literatur in der Regel gar nicht auftaucht, da der Berliner Psychoanalysespruch – wenn er denn eigens erwähnt wird – meist so kolportiert wird: „Ich übergebe dem Feuer die Schriften des Sigmund Freud!“[5]

Ein bloßes namentliches Verfluchen Freuds dürfte auch deswegen für ungenügend erachtet worden sein, weil es Wilhelm Reich ausgeschlossen hätte – der unter Nationalsozialisten offenkundig verhasster war als Freud. Reich war inzwischen – nach Freud – zum erfolgreichsten analytischen Autor im deutschen Sprachraum geworden (Peglau 2017a, S. 92f.). Noch 1935 sollte die Gestapo dem Auswärtigen Amt mitteilen, Reich habe „vor der nationalsozialistischen Revolution im Kampf für den Kommunismus Deutschland mit einer Menge von Schmutzliteratur überschwemmt“ (AAA R 99578). Der DPG-Vorsitzende Felix Boehm berichtete, im Frühjahr 1933 seien „in öffentlichen Anlagen und Straßen Zehntausende von Zetteln verteilt und angeklebt worden […] mit dem Inhalt: ‚Schützt unsere Jugend vor der Reichschen Kulturschande!’“ (Schröter 2005, S. 162).
Es war nur folgerichtig, dass sich alsbald gegen Reichs Schriften mehr NS-Maßnahmen richteten als gegen die seiner sämtlichen Kollegen, inklusive Sigmund Freud.

Psychoanalyse im Nationalsozialismus Die 1983 auf dem Bebelplatz eingeweihte Gedenktafel (Foto A. Peglau 2016) fle

Die 1983 auf dem Bebelplatz eingeweihte Gedenktafel (Foto A. Peglau 2015)

 Nicht nur verbrannte Bücher

Allein in Berlin brannten am 10. Mai 1933 ca. 20.000 Bücher.
Zeitgleich fanden mindestens 21 weitere Verbrennungen in anderen Städten statt, darunter Bonn, Dresden, Göttingen, Hannover, Frankfurt am Main und München, später unter anderem Hamburg, Heidelberg und Köln (Treß 2003, S. 116–208). Dass psychoanalytische Schriften noch nach dem Mai 1933 betroffen waren, belegt ein Flugblatt, das im nahe Karlsruhe gelegenen Bretten verteilt wurde. Auch dort wurde im Juni 1933 durch die Hitlerjugend eine „Kampfwoche gegen Schmutz und Schund“ durchgeführt. Auf der dafür vorgegebenen Liste einzusammelnder Bücher war in der Rubrik „Politische und wissenschaftliche Werke“ unter anderem Sigmund Freud aufgeführt (dokumentiert in Wild 2003, S. 185).

Die Anzahl der 1933 insgesamt vernichteten Bücher ist kaum abzuschätzen. Am 20.5.1933 informierte die Berliner Polizei die Presse darüber, dass sie „etwa 10000 Zentner Bücher und Zeitschriften“ beschlagnahmt habe. Das dürfte, so der Historiker Werner Treß, „etwa einer Million Bände entsprechen“ (Treß 2008b, S. 126f.).
Die Frage, welche Bücher vernichtet wurden, wird sich ebenfalls niemals exakt beantworten lassen, da die auf den „Schwarzen Listen“ erfassten Titel nur den Kernbestand der verbrannten Bücher bildeten. Nicht nur wurde auf manch zusätzlichen „Index“ zurückgegriffen (Treß 2003, S. 104f.). Von den Handelnden wurde auch Kreativität verlangt. Dass einzelne konkrete Bücher als besonders vernichtungswürdig vorgegeben würden, schließe nicht aus, hieß es dazu suggestiv im DSt-Rundschreiben vom 9.5.1933, „daß trotzdem ein großer Haufen Bücher verbrannt wird. Die örtlichen Veranstalter haben dabei jegliche Freiheit“ (ebd.).

In der öffentlichen Wahrnehmung scheint von diesen Geschehnissen vor allem angekommen oder letztlich in Erinnerung geblieben zu sein, dass Belletristik verbrannt wurde. Aber bereits die „Feuersprüche“ waren mitnichten auf schöngeistige Schriftsteller beschränkt: Publizisten sowie politische und wissenschaftliche Autoren spielten hier eine mindestens ebenso große Rolle. Insgesamt wurden namentlich benannt:

Karl Marx, Karl Kautsky, Heinrich Mann, Ernst Glaeser, Erich Kästner, Friedrich Wilhelm Foerster, Sigmund Freud, Emil Ludwig, Werner Hegemann, Theodor Wolff, Georg Bernhard, Erich Maria Remarque, Alfred Kerr, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky.

Und selbst die Bezeichnung „Bücherverbrennung“ ist irreführend, weil viel zu eng. Schon im vorbereitenden Schreiben der DSt wurde von „Büchern und Schriften“ gesprochen (Treß 2009, S. 43). Die Imago ist dann nur ein Beispiel dafür, dass man auch andere Druckerzeugnisse – wie „Programmschriften und Periodika“ – im Auge hatte (ebd., S. 630). Auch an Schallplatten und andere Tonträger sowie Notensätze war von einigen Akteuren gedacht worden (Treß 2008b, S. 79).[6]
Bei anderen Verbrennungsaktionen landeten zusätzlich Wahltransparente und Fahnen im Feuer, auch eine „Puppe in Uniform der roten Frontkämpfer“ als, wie die Weser-Zeitung schrieb, „symbolische Figur des Bolschewismus, des dem Tode geweihten Lebenszerstörers“ (zitiert in Rohdenburg 2008, S. 181). In Berlin warfen zwei Turnstudenten nach einem „choreographisch einstudierten Anlauf“ eine Büste von Magnus Hirschfeld in die Flammen (Treß 2008b, S. 121).
Es ging also um weit mehr als um Bücher. Das brachte Walter Schlevogt, Führer der Bonner Studentenschaft, auf den Punkt: Ziel sei „die Ausrottung aller undeutschen Geistesproduktion“ (Bodsch 2008, S. 152). Auch Goebbels beschwor am Scheiterhaufen des 10. Mai die Notwendigkeit, „den Ungeist der Vergangenheit den Flammen anzuvertrauen“ (Treß 2003, S. 127). In einem geradezu magischen Ritual sollten, so scheint es, mit den Materialisierungen oder Symbolen dieser Ideen auch die Ideen selbst zum Verschwinden gebracht, deren Wirken, psychoanalytisch gesprochen, „ungeschehen gemacht“ werden.

Welche Psychoanalytiker waren betroffen?

Angesichts des umfassenden Vernichtungsanspruchs, den die DSt bezüglich der Psychoanalyse formuliert hatte – „Ich übergebe dem Feuer die Schriften der Schule Sigmund Freuds!“ –, müssten, sollte man meinen, etliche analytische Autoren betroffen gewesen sein, als im Mai 1933 die Bücher brannten. Wenn Jack Rubins (1983, S. 178) – ohne Beleg – behauptet, dass am 10. Mai tausende Bücher, „einschließlich der meisten psychoanalytischen Werke“, verbrannt wurden, entbehrt das jedoch jeder Grundlage. Die Wahrscheinlichkeit ist zwar hoch, dass einzelne analytische Werke an mehreren Stellen, insbesondere bei der Plünderung des sexualwissenschaftlichen Instituts von Magnus Hirschfeld mit eingesammelt und verbrannt wurden.[7]
Dafür, dass tatsächlich die „meisten psychoanalytischen Werke“ am 10. Mai 1933 betroffen waren, gibt es jedoch keine Hinweise – obwohl im Vorfeld durchaus die Möglichkeit bestand, dieser Schriften in größerem Umfang habhaft zu werden. Man hätte nur, analog zum sexualwissenschaftlichen Institut, das Berliner Psychoanalytische Institut plündern müssen. Offenbar hatten die Akteure daran aber kein Interesse. Auch das belegt, dass Freud nicht gleichermaßen verhasst war wie Hirschfeld.[8]
Nach den vorliegenden Angaben befanden sich unter den etwa 400 betroffenen Autoren – darunter Einstein, Fallada, Feuchtwanger, Gorki, Heinrich Heine, Hemingway, Kästner, Kafka, Jack London, Upton Sinclair, B. Traven und Tucholsky aber auch Josef Stalin – nur vier Psychoanalytiker:[9] Sigmund Freud, Anna Freud, Wilhelm Reich und Siegfried Bernfeld.

Die Einbeziehung Sigmund Freuds in das Berliner Ritual vom 10. Mai 1933 ist durch das Tonband-Dokument belegt. Auf allen mir bekannten Listen verbrannter Autoren tauchen neben Freud auch Reich und Bernfeld auf. Meist, aber nicht immer, wird auch Anna Freud genannt.[10]

Wurden sie gezielt ausgewählt? Wenn ja – warum gerade sie? Und: Warum nur sie?
Die Antwort könnte sein: Im Ritual der Verbrennungen genügte es, die wichtigsten Repräsentanten dessen zu vernichten, was Nationalsozialisten 1933 an der Psychoanalyse am meisten fürchteten und hassten. Die beiden Freuds, Bernfeld und Reich konnten durchaus als solche Repräsentanten gelten.
Auch die vier Personen, die als maßgebliche Initiatoren für die Formulierung der „Feuersprüche“ in Frage kommen, lassen sich identifizieren.[11]

Reichs möglicherweise verbrannte Bücher

Die Deutsche Studentenschaft knüpfte bei ihrem Bücherpogrom an der deutschen „Schund- und Schmutz“-Gesetzgebung an – damit an einem Index, auf dem sich seit 1930 auch Wilhelm Reichs Sexualerregung und Sexualbefriedigung befand (Peglau 2017a, S. 78-84). Diese Schrift könnte also am 10. Mai gebrannt haben. Zusätzlich kommen infrage: Der sexuelle Kampf der Jugend (am 2.3.1933 im Völkischen Beobachter attackiert) und Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral – 1932 im Handbuch der Judenfrage (ebd., S. 178f.) geschmäht.
Aber auch der Buchbestand von Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft wurde ja der Verbrennung zugeführt. Und schon aufgrund seiner Kooperation mit dem Arzt und Sexualreformer Max Hodann dürften sich dort Bücher von Reich befunden haben. Es ist zudem möglich, dass die Charakteranalyse verbrannt wurde. Das Buch wurde bald nach Reichs Ankunft in Kopenhagen am 1.5.1933 in Wien veröffentlicht (Reich 1995, S. 206) und dürfte zeitnah in Deutschland ausgeliefert worden sein.
Da die Bücherverbrennungen zumindest noch bis zum Oktober 1933 anhielten, ist auch nicht auszuschließen, dass jenes Buch Reichs auf einen NS-Scheiterhaufen gelangte, das ohnehin den deutschen Machthabern am meisten verhasst gewesen sein dürfte: die Massenpsychologie des Faschismus. Die Schrift erschien im August oder September 1933 im skandinavischen Exil und wurde nach Deutschland geschmuggelt (Reich 1986, S. 17).

*

Anmerkungen
[1] 1927/28 hatte sich Baeumler, nach persönlicher Auskunft seiner Witwe, Marianne Baeumler,  in seinen Ethikvorlesungen an der TH Dresden mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt und dabei durchaus Positives vermerkt. Das könnte in der folgenden Zeit gerade deshalb in generelle Ablehnung umgeschlagen sein, weil Thomas Mann sich überaus deutlich zu Freud bekannte. Zwischen Baeumler und Mann hatte Anfang der 1920er Jahre eine gewisse geistige Nähe und wohl auch Sympathie bestanden, die aber seit 1926 durch philosophische und politische Differenzen in Ablehnung umgeschlagen waren. Baeumler, der über sich schreibt: „Von früh an hatte ich eine Abneigung gegen psychologische Erklärungen“, sah vor allem in Manns Annäherung an Freud bzw. seinen daraus abgeleiteten „Psychologismus“ die Ursache für ihr Zerwürfnis (Baeumler et al. 1989, S. 65f., 236, 241, 250).
[2] https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/holocaust/audios/r2/11.mp3.
[3] Dass die Formulierung „seelenzersetzend“ das vorgegebene, sprachlich ungewöhnlichere „seelenzerfasernd“ ersetzte, halte ich für eine spontane Fehlleistung des Ausrufenden. Interessant wäre auch zu wissen, welche Freudsche Fehlleistung hinter dem Versprecher in der zweiten Zeile steckte. Welche Bücher tatsächlich nach diesem Spruch ins Feuer geworfen wurden, ist nicht bekannt.
[4] In dem später in der „Wochenschau“ in den deutschen Kinos gezeigten Ausschnitt war der Spruch nicht enthalten (persönliche Information von Werner Treß).
[5] Mit der zusätzlichen Abweichung „der Flamme“ statt „dem Feuer“ zitiert es so zum Beispiel Mark Edmundson in seinem 2009 erschienenen Buch Sigmund Freud. Das Vermächtnis der letzten Jahre. Er behauptet zudem, „der vorsitzende Parteifunktionär“ habe „mit lauter Stimme“ diese „Anklage erhoben“ (Edmundson 2009, S. 18). Vermutlich weiß Edmundson selbst nicht, wen er damit meint. Tatsächlich fungierten als Ausrufer offensichtlich mehrere NS-Studenten (Treß 2009, S. 46). Zu denen, die den Spruch in den entscheidenden Punkten korrekt wiedergeben, gehören Elisabeth Brainin und Isidor J. Kaminer (Brainin/Kaminer 1982, S. 991).
[6] Zumindest in der Stadt Bretten wurde das teilweise auch umgesetzt: Auf der dort verwendeten Sammelliste waren „Musikwerke“ wie Kurt Weills Dreigroschenoper oder Komponisten wie Hanns Eisler und Arnold Schönberg aufgeführt (Wild 2003, S. 185).
[7] Herbert Will schreibt, dass auch Georg Groddecks Bücher „vor der Stadtbücherei in Baden-Baden“ verbrannt wurden (Will 1987, S. 7, 1995, S. 20). Obwohl dafür bislang keine Nachweise vorliegen – diese waren auch weder durch ein Telefonat mit Herbert Will noch durch Nachfragen bei der Groddeck-Gesellschaft zu beschaffen –, scheint das plausibel: Groddeck stand bereits 1933 auf den ersten Indizierungslisten.
[8] Dem entspricht auch, dass in diversen NS-Artikeln Hirschfeld deutlicher und aggressiver geschmäht wurde als Freud. Wie zitiert, schrieb beispielsweise Martin Staemmler, „die Psychoanalytiker sind noch nicht die schlimmsten. Weit übler ist, was sich um Magnus Hirschfeld schart“ (Staemmler 1933, S. 401).
[9] Ebenfalls betroffen waren Schriften der Individualpsychologen Alfred Adler, Alice Rühle-Gerstel, Otto Rühle und Gina Kaus.
[10] Es ist mir bisher nicht gelungen, die ursprüngliche Quelle zu finden, in der Anna Freud, Bernfeld und Reich als Betroffene der Bücherverbrennung benannt wurden.
[11] Dazu siehe Peglau 2017a, S. 193-196.

 

 


3. „Die Psychoanalyse bemüht sich, (…) unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen (…) umzuformen“. Das 1933er „Memorandum“

Schon bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, angetrieben auch von der Bedrohung durch die Bücherverbrennung, bemühten sich Funktionäre der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) darum, die Analyse dem neuen Regime anzudienen.
Auf Bitten von Felix Boehm, dem designierten „arischen“ Vorsitzenden der DPG, verfasste Carl Müller-Braunschweig (bald darauf ebenfalls DPG-Vorstandsmitglied) im Sommer 1933 ein „Memorandum“, um, so Boehm, „die bisherigen Verdienste unseres Institutes zu schildern, von [Wilhelm] Reich’s in Berlin bekanntgewordenen Ansichten deutlich abzurücken und zu zeigen, wie die Ps[ycho].A.[nalyse] die wertvollen Seiten jedes Menschen fördere“ (Brecht et al. 1985, S. 105). Wesentliche Passagen dieses Memorandums fanden sich dann nahezu wörtlich unter der Überschrift „Psychoanalyse und Weltanschauung“ am 22.10.1933 in einem Artikel Müller-Braunschweigs in der nationalsozialistischen Wochenschrift Der Reichswart.[1]
Aber bereits das Memorandum enthielt – allerdings erst am Ende einer sachlichen achtseitigen Darstellung von Geschichte, Gegenwart und möglichen Perspektiven der DPG und des Berliner Psychoanalytischen Instituts – Formulierungen über die Verwendbarkeit der Psychoanalyse im Nationalsozialismus (Schröter 2009, S. 9ff.).[2] In dieser ursprünglichen Fassung lauteten sie:

„Die Psychoanalyse bemüht sich nicht allein – auf körperlichem Gebiete – sexuell unfähige Menschen zu sexuell fähigen zu machen, sondern überhaupt auf allen Gebieten des Menschen unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die den Wirklichkeiten ins Auge zu sehen vermögen, ihren Triebimpulsen Ausgelieferte zu solchen, die ihre Triebe zu beherrschen vermögen, liebesunfähige und egoistische Menschen zu liebes und opferfähigen, am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern am Ganzen umzuformen. Dadurch leistet sie eine hervorragende Erziehungsarbeit und vermag den gerade jetzt neu herausgestellten Linien einer heroischen, realitätszugewandten, aufbauenden Lebensauffassung neu zu dienen“ (zitiert in Lockot 2002, S. 141ff.).

Umso befremdlicher ist es, von Felix Boehm dazu Folgendes zu erfahren:

„Nun bat ich [Ernest] Jones als Präsidenten der I.P.V. um eine Unterredung. An dieser nahmen im Haag am 1.10.33 Jones, [IPV-Vorstandsmitglied] van Ophuijsen, Müller-Br.[aunschweig] und ich teil. […] die Unterredung dauerte ca. 6 Stunden. Müller-Br. und ich erzählten alles, was wir bis jetzt über die Geschicke der PsA wussten, u.a. verlas Müller-Br. das von ihm verfasste Memorandum; die Unterredung führte zu einer vollkommenen Übereinstimmung.
Alle bis dahin von uns unternommenen Schritte wurden von Jones gutgeheissen. Er versprach uns[3] weitestgehende Förderung und Unterstützung und schrieb sofort in diesem Sinne an Anna Freud. Darauf erhielt ich einen Brief von Anna Freud vom 17.10., aus dem ich zitiere: ‘[…] Jones hat mir auch schon geschrieben und von dem[4] sehr erfreulichen Verlauf der Zusammenkunft berichtet. Dass ich Ihnen ein Überwinden aller Schwierigkeiten in der nächsten Zukunft wünsche, brauche ich Ihnen wohl nicht extra zu sagen’“ (dokumentiert in Brecht et al. 1985, S. 106f.; Hervorhebungen A.P.).

Da es sich bei Boehms Text, aus dem dieses Zitat stammt, um einen bereits 1934 verfassten, wohl an die IPV-Leitung weitergereichten Bericht handelt,[5] den auch die dort namentlich genannten Personen in die Hand bekommen haben dürften, wird er sich an die Wahrheit gehalten haben.[6] Das bedeutet, dass auch IPV-Präsident Jones die oben zitierten Sätze aus dem Memorandum kannte und billigte.[7]
Inwieweit die IPV-Sekretärin Anna Freud – und durch sie oder Jones auch Sigmund Freud – über das Memorandum informiert war, muss offen bleiben. Dass Jones ihr „den sehr erfreulichen Verlauf der Zusammenkunft berichtet“ haben könnte, ohne das Memorandum zu erwähnen, halte ich allerdings für unwahrscheinlich.
Müller-Braunschweig wurde wegen dieser Sätze im Memorandum nicht nur offenbar von keinem Mitglied der IPV-Leitung gerügt, 1950 sollte er sogar der von der IPV anerkannte Vorsitzende der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung werden. „Die psychoanalytische Welt sah in Müller-Braunschweig den Repräsentanten der Psychoanalyse in Deutschland“, berichtet Helmut Thomä (1963a, S. 77).[8]
Den anderen DPG-Mitgliedern wurden 1933 sowohl Memorandum als auch Reichswart-Artikel erst nachträglich bekanntgemacht und lösten bei diesen unterschiedliche, von Verständnis bis Empörung reichende Reaktionen aus (Schröter 2009, S. 1100f.).
Vor allem auf Wilhelm Reich dürfte Müller-Braunschweig die Formulierung geeicht haben, dass nicht alle analytischen Veröffentlichungen jene „positive und schöpferische Grundhaltung“ aufweisen, die zum NS-Staat passte. Reich entdeckte den Reichswart-Artikel und druckte ihn 1934 in der ersten Ausgabe seiner Exil-Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie unter der Überschrift „‘Unpolitische’ Psychoanalyse“ ab (ZPPS, Bd. 1, H.1 1934, S. 74ff.).

Memorandum 1933 in ZPPS

Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie, Hg. Wilhelm Reich (als Ernst Parell), 1934, Heft 1, S. 74-76. Bitte hineinzoomen zum Lesen. (Quelle Archiv A. Peglau)

Für eine weitere Ausgabe seiner Zeitschrift verfasste er einen Kommentar[9]:

„Die Verbrennung der Bücher Freuds im ‘Dritten Reich’ hatte dem genannten Vorstandsmitglied [gemeint ist Müller-Braunschweig – A.P.] die Unvereinbarkeit von Psychoanalyse und Faschismus offenbar nicht klar genug demonstriert. Als zur Emigration gezwungenes Mitglied der deutschen psa. Vereinigung erkläre ich hiermit, daß der genannte Artikel von Müller-Braunschweig eine Schande für die gesamte psychoanalytische Wissenschaft und Bewegung darstellt. Die psychoanalytischen Forschungsergebnisse […] widersprechen […] dem Nationalsozialismus wie jeder reaktionären Moral- und Weltauffassung. Als kulturpolitische Bewegung muß sie [die Psychoanalyse – A.P.] sich anläßlich der Bücherverbrennung etc. zum Todfeind des Nationalsozialismus erklären. Der gegenwärtige deutsche Reichskanzler handelte, das sei hier nachdrücklichst betont, von seinem Standpunkt aus, durchaus folgerichtig, als er die Bücher des ‘Untermenschen’ Freud verbrennen ließ.[10]
Um so größer ist die Schande der Bestrebungen führender Analytiker, sich gleichschalten zu lassen“ (zitiert in Fenichel 1998, Bd. 1, S. 103f.).

Spätestens durch diesen Zweitabdruck wurde Müller-Braunschweigs Reichswart-Artikel auch anderen, nichtdeutschen Analytikern im Wortlaut bekannt. Das beweist eine Besprechung von Reichs Exilzeitschrift in der Imago (1934, Bd. 20, S. 504–507). Dort behauptetet Robert Wälder, dass die

„vorliegenden ‘wissenschaftlichen Bestrebungen’ [Reichs] mit der Psychoanalyse nichts mehr zu tun haben, daß niemand, der Reich auf seinem Wege folgt, mehr Recht hat, sich noch auf die Psychoanalyse zu berufen als irgend andere Autoren, die ein Stück psychoanalytischen Gedankengutes, modifiziert und unter Eliminierung anderer Motive, für ihre Zwecke verwenden“.

Wälder monierte zugleich, dass Reich unter der Überschrift „‘Unpolitische’ Psychoanalyse“ ein Zitat des Analytikers Richard Sterba wiedergegeben habe. Dass dieses Zitat jedoch nur die Einleitung für den im Anschluss daran beginnenden Nachdruck des Reichswart-Beitrags bildete (siehe Kopie des Reich-Beitrags oben), verschwieg Wälder.[11]

Da die Imago, in der Wälders Besprechung erschien, von Freud selbst herausgegeben wurde, muss auch Freud diese Rezension und damit die Existenz der Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie zur Kenntnis genommen haben. Reich dürfte Freud aber ohnehin seine Zeitschrift zugeschickt haben, so wie er es mit anderen, von ihm ab 1933 veröffentlichten Schriften wie der Massenpsychologie des Faschismus auch tat.[12]

Mit dem Nachdruck des Reichswart-Artikels und anderen Beiträgen in seiner Zeitschrift war und blieb Reich der einzige Analytiker, der seine Kollegen öffentlich davor warnte, sich mit dem Faschismus einzulassen. Was dieses Sich-Einlassen im Einzelnen bedeuten würde, konnte jedoch auch er noch nicht ahnen.

*

P.S. Das „Memorandum“ ist mittlerweile im vollen Wortlaut abgedruckt in Werkblatt. Psychoanalyse & Gesellschaftskritik, 79 (2017), S. 92–98. Eine dem Original nachgestaltete Kopie des Reichswart-Artikels „Psychoanalyse und Weltanschauung“ findet sich in Peglau 2017a, S. 588–590.
1983 deckte Helmut Dahmer in der Zeitschrift Psyche mittels dieser Publikation Reichs den Anpassungskurs des psychoanalytischen Hauptstroms an das NS-System auf (Lohmann 1984, S. 120–136). Das löste eine erste Auseinandersetzung mit der Rolle der Psychoanalyse im Nationalsozialismus aus sowie eine bis heute anhaltende Kontroverse (Dahmer 2017; Nitzschke 2017).

Zusätzliche Quellen:
Dahmer, Helmut (2017): Schuld, Scham und Abwehr. Ein DPG-DPV-Trauerspiel in drei Akten. Werkblatt – Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik 34, 79/2017, Heft 2, S. 5–44.
Nitzschke, Bernd (2017): Schamabwehr per Schuldzuweisung. Vom Umgang der Erben mit der Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Werkblatt – Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik 34, 79/2017, Heft 2, S. 47–90.

Anmerkungen
[1] Der Reichswart (zeitweise erschienen mit den Untertiteln Wochenschrift für nationale Unabhängigkeit und deutschen Sozialismus bzw. Organ der Deutschen Glaubensbewegung (Staatsbibliothek Berlin, Ad 768 MR) war zwar eindeutig nationalsozialistisch ausgerichtet, jedoch im Vergleich zu Stürmer oder Angriff politisch gemäßigter. Schon die bloße Tatsache, dass es hier möglich war, offen für die Psychoanalyse einzutreten (in einer späteren Ausgabe wurde daran noch einmal sachlich angeknüpft), belegt die weiter gesteckten Toleranzgrenzen des Reichswart: Ein solcher Artikel wäre in den anderen beiden NS-Periodika undenkbar gewesen. Das lag nicht zuletzt daran, dass Reichwart-Herausgeber Graf Ernst zu Reventlow eine teilweise tolerantere politische Haltung als Hitler und Goebbels hatte (vgl. Krebs 1959, S. 220–225). Neben an anderen Stellen ausgedrückter Wertschätzung urteilte Goebbels am 22.3.1935 über Reventlow: „Er ist und bleibt ein Außenseiter“ (Goebbels 1992, Bd. 3, S. 855).
[2] Ein im Reichswart verwendetes Freud-Zitat aus „Psychoanalyse“ und „Libidotheorie“ (…) wurde im Memorandum noch nicht verwendet. Michael Schröter hat mir die Möglichkeit gegeben, den Originaltext des Memorandums einzusehen.
[3] Im Original „und“ statt „uns“ (siehe Brecht et al. 1985, S. 107).
[4] Im Original „der“ statt „dem“ (siehe ebd.).
[5] Er wurde im Londoner Archiv der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft archiviert (siehe Stempel ebd., S. 99).
[6] Mir ist auch keine Stellungnahme bekannt, welche die dortige Darstellung Boehms in den zitierten Punkten bestreitet.
[7] So wertet dies auch bereits Bernd Nitzschke (1997, S. 97ff.).
[8] Dies hat Bernd Nitzschke bereits ausführlich dargestellt und kritisiert (Nitzschke 1997, S. 85, 104–111). Noch 1935 sahen Jones, Max Eitingon und Anna Freud „in Müller-Braunschweig keinen uneigennützigen, vertrauensvollen Vertreter der Psychoanalyse. Jones meinte nun, daß Müller-Braunschweig mit einer Verbindung der psychoanalytischen Philosophie mit dem quasi-theologischen Konzept der nationalsozialistischen Ideologie kokettiere und antisemitisch eingestellt sei“ (Lockot 1994, S. 37).
Sowohl über Felix Böhm als auch über Müller-Braunschweig wurde – vermutlich zunächst von ihnen selbst – behauptet, sie hätten 1938 Publikationsverbote erhalten (Brecht et al. 1985, S. 160; Lockot 2002, S. 117). Dies wird jedoch durch Beiträge, die Müller-Braunschweig 1939 und 1940, Böhm 1940 und 1942 veröffentlichten, widerlegt (Peglau 2017a, S. 357, 368f.). In Mitteilungen zu Müller-Braunschweig und Böhm wird auf das angebliche Publikationsverbot dennoch weiter verwiesen: https://dpg-psa.de/Chronik_1907-1958.html; https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_M%C3%BCller-Braunschweig.
[9] Vielleicht schloss Reich sich Fenichels Meinung an, dass der Reichswart-Artikel für sich spräche (Fenichel 1998, Bd. 1, S. 104). Jedenfalls kürzte er seinen Text dann für die Veröffentlichung als Vorbemerkung zu Ein Widerspruch der Freudschen Verdrängungslehre (ZPPS Bd. 1, H. 2 1934, S. 115): https://archive.org/details/ZeitschriftFuumlrPolitischePsychologieUndSexualoumlkonomieI1934Heft/page/n27.
[10] Direkte Einflussnahme Hitlers auf die Bücherverbrennung ist nicht erwiesen. Dass Reich auch selbst betroffen war, scheint er zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst zu haben. 1956 sollte er erneut die Verbrennung seiner Bücher erleben – diesmal in den USA.
[11] Darauf verweist bereits Bernd Nitzschke (1997, S. 92ff.).
[12] Vgl. Davis/Fichtner 2006.

 


 

4. Verbotene Psychoanalyse? Zwischen „soll unangetastet bleiben“ und „ist auszumerzen“

Der während der Berliner Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 ausgerufene „Feuerspruch“ Nummer vier war zwar eindeutig auf die gesamte analytische Lehre und ihre Schriften ausgerichtet. Doch bereits zwei Monate später, im Juli 1933, wurden für die Verbote analytischer Schiften Kriterien herangezogen, die man – für NS-Verhältnisse – nur als erstaunlich tolerant bezeichnen kann. Nach den fanatisierten NS-Studenten, die die Bücherverbrennung initiiert hatten, kamen nun Bürokraten zum Zuge – und Wissenschaftler.

Verbotene Psychoanalyse DB

Einer der im Original erhalten gebliebenen Kartiekästen, ahand derer in der Deutschen Bücherei Leipzig 1933 die Psychoanalyse zensiert wurde (Foto A. Peglau 2012).

Die 1933er Kampfbundlisten

Im Auftrag des Berliner Magistrats erstellten Berliner Bibliothekare im April 1933 „Schwarze Listen“ über „Schöne Literatur“ und die „Belehrende Abteilung“. Sie betonten dabei mehrfach, dass darüber hinaus insbesondere eine Liste „Sexualwissenschaft“ vonnöten sei (Treß 2011, S. 151f.). Damit ging es um jenes Spektrum sexueller Aufklärungsschriften, dem die reaktionäre „Schund- und Schmutz“-Gesetzgebung zuvor recht machtlos gegenübergestanden hatte.
Mitte Mai wurde unter Federführung des Kampfbundes für deutsche Kultur ein „Arbeitsausschuss“ gegründet, der deutschlandweit gültige Verbotsregelungen vorbereiten sollte. Mit dem Vorsitz wurde der Geschäftsführer der Kampfbund-“Reichsleitung“ und „spätere Stabschef des ‘Amtes Rosenberg’ Gotthard Urban“ betraut (ebd., S. 278).
Auch der als „Feuerspruch“-Autor in Frage kommende Philosoph und Pädagoge Alfred Baeumler war wieder mit dabei. Im Auftrag des Kampfbundes hatte er die Verantwortung für die Listen wissenschaftlicher Publikationen übernommen (ebd., S. 163).

Am Freitag, dem 16.6.1933, um 11 Uhr begann die erste Sitzung im Gebäude der Deutschen Bücherei in Leipzig.

Verbotene Psychoanalyse DB Leipzig

Das Gebäude der 1916 gegründeten Deutschen Bücherei Leipzig (heute Deutsche Nationalbibliothek). Quelle: http://www.dnb.de/SharedDocs/Bilder/DE/DNB/ArchitekturLeipzig/Fototour100JahreDeutscheBuechereiGebaeude/GruendungsbauDB.jpg?__blob=zoom (Netzabfrage 2019)

Zensoren

Baeumler forderte zunächst „klare Begründungen für jedes einzelne Werk, da sie in die ganze Welt hinaus getragen werden sollen“ (LA A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 16939, S. 1). Am Nachmittag wurden dann unter anderem Festlegungen zum Verzeichnis „Sexualliteratur“ getroffen, aus dem man dem Leipziger Psychologie-Professor Hans Volkelt „eine Reihe von Einzelwerken“ „zur nochmaligen Prüfung“ übergab (ebd., S. 3). Aus dem Sitzungsprotokoll geht nun auch hervor, welche Aufgabe der von Baeumler initiierten und von Volkelt geleiteten Kommission zugedacht war: Sie sollte „die Schriften der Psychoanalyse für die Schwarzen Listen bearbeiten“ (ebd., S. 5). Sicherlich war die Adlersche Individualpsychologie ebenfalls gemeint: Auch wenn im Weiteren gelegentlich von der „Psychoanalyse“-Liste gesprochen wurde, ging es offenbar immer um das Verzeichnis „Psychoanalyse und Individualpsychologie“.
Da vor Baeumlers Eingreifen psychoanalytische Schriften keinerlei Erwähnung gefunden hatten, könnte er – wie möglicherweise auch bei der Bücherverbrennung – derjenige gewesen sein, der erst das Augenmerk darauf lenkte.
Neben Hans Volkelt waren in der von ihm geleiteten Kommission „die Herren: Professor Dr. [Otto] Klemm, Dr. [Adolf ] Erhardt und Dr. Helmuth Burkhardt (sämtlich vom Psychologischen Institut der Universität Leipzig) sowie Herr Privatdozent Dr. med. Hans Bürger-Prinz von der Psychiatrischen Nervenklinik der Universität Leipzig“ (ebd.) vertreten.[1]

Bedenkt man, dass das Leipziger Institut im Sommer 1933 insgesamt nur neun wissenschaftliche Mitarbeiter hatte[2] und vier von diesen in der Kommission mitwirkten – Burkhardt, Erhardt, Klemm und Volkelt –, ist es nicht übertrieben zu formulieren: Das Leipziger Psychologische Institut hatte maßgeblichen Einfluss auf die Psychoanalyseverbote. Jedoch ebenso darauf, welche analytischen Schriften nicht verboten wurden. Denn es sollte keinesfalls zu einem Rundumschlag kommen – weder gegen die Analyse noch gegen die Individualpsychologie.

Kriterien

Das lässt sich anhand eines Dokumentes aus dem Archiv der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig (HADB 840/4/1) belegen, in dem die Leipziger Kommission ihre Grundsätze erläutert:

„1. unangetastet bleiben soll dasjenige Schrifttum, in welchem die Psychoanalyse und die Individualpsychologie von ihren Begründern und denen, die sie wissenschaftlich weiterbildeten, dargestellt wird. Von dem geistigen Bilde dieser Art des Denkens und Forschens soll kein irgend wesentlicher Zug getilgt werden.
2. auszumerzen ist dasjenige Schrifttum, das – ohne von dem Grundsatz 1 betroffen zu werden – mit Sinn und Geist der Nationalsozialistischen Bewegung in einem nicht verträglichen Widerspruche steht.“

Die Anwendung des zweiten Grundsatzes, hieß es weiter, führe zu folgenden fünf Hauptgesichtspunkten, aufgrund derer die „Tilgung“ einer Schrift zu fordern sei:

„a. blosse Ausbreitung der Lehre, oft in popularisierender Weise und zu billigem Preis,
b. Ausmünzung der Lehre für marxistische, kommunistische oder pazifistische Propaganda,
c. Vorstösse in die einzelnen Gebiete geistigen Lebens, die das völkische und staatliche Wertbewusstsein erschüttern,
d. Übergriffe in das Gebiet des Erziehertums und des religiösen Lebens,
e. unnötige Häufung und Sammlung von Einzelfällen der sexualpathologischen Erfahrung, die oft das Pornographische streifen.“

Psychoanalyse (und Individualpsychologie) galten somit also prinzipiell als erhaltenswert – auch für den Nationalsozialismus. Man billigte ihnen wissenschaftlichen Charakter zu und verzichtete auf Diffamierungen. Jedoch wollte man offenbar nicht leugnen, dass aus ihnen auch Schriften hervorgegangen waren, die mit dem NS-Regime nicht kompatibel waren. Entsprachen sie aber der in Punkt 1 geforderten grundlegenden Bedeutung, sollten sie dennoch erhalten bleiben.
Nur was dem Nationalsozialismus zuwiderlief und keine wissenschaftliche Bedeutung hatte, sollte „ausgemerzt“ werden. Hier waren also definitiv keine Zensoren am Werk, die die Psychoanalyse so tief wie möglich treffen wollten.

Opfer

Hauptsächlich in der Rubrik „Psychoanalyse und Individualpsychologie“, in drei Fällen aber auch in „Sexualliteratur“, wurden Verbote beantragt für die folgenden 41 psychoanalytischen bzw. der Analyse nahestehenden[3] Autorinnen und Autoren:

Siegfried Bernfeld, Felix Boehm,[4] Marie Bonaparte, Claude D. Daly, Helene Deutsch, Paul Federn, Sergei Feitelberg,[5] Otto Fenichel, Sándor Ferenczi, Anna Freud, Sigmund Freud, Erich Fromm, Fritz Giese, G.H. Graber, Georg Groddeck, Imre Hermann, Eduard Hitschmann, Istvan Hollos, Hermine Hug-Hellmuth, Hellmuth Kaiser, Leo Kaplan, Melanie Klein, Aurel Kolnai, René Laforgue, Georg Langer, Ruth Mack Brunswick, Bronislaw Malinowski, Heinrich Meng, Carl Müller-Braunschweig, Oskar Pfister, Annie Reich,[6] Wilhelm Reich, Theodor Reik, Alfred Robitsek, Philipp Sarasin, Wilhelm Stekel, Adolf Storfer, Georg Wanke,[7] Fritz Wittels, Nelly Wolffheim, Hans Zulliger.

Insgesamt wurden 64 Schriften dieser Autorinnen und Autoren mit Titeln benannt.

Verbotene Psychoanalyse 1

Verbotene Psychoanalyse 3

Index „Psychoanalyse und Individualpsychologie“ 1933

Sowohl im Umgang mit Sigmund Freud wie auch mit Alfred Adler scheint man sich daran gehalten zu haben, „dasjenige Schrifttum“ weitgehend unangetastet zu lassen, „in welchem die Psychoanalyse und die Individualpsychologie von ihren Begründern […] dargestellt wird“. Bei Adler blieb es dabei, dass man nur Individualpsychologie in der Schule für indizierungswürdig hielt. Bei Freud wurde die nur die Sonderausgabe der Traumdeutung – also nicht etwa dieses Werk an sich – für nicht erhaltenswert angesehen (BA NS 8/288, Bl. 167) sowie Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. Alle anderen Einzelausgaben seiner Schriften blieben jedoch verschont. Weder Totem und Tabu noch Das Unbehagen in der Kultur, mit denen er doch eindeutig Vorstöße in „Gebiete geistigen Lebens“ wagte, „die das völkische und staatliche Wertbewusstsein erschüttern“, wurden aufgeführt. Und war nicht Freuds Schrift Die Zukunft einer Illusion, in der er Religion als kollektive Zwangsneurose beschrieb, ein erwähnenswerter „Übergriff“ in das Gebiet des religiösen Lebens? Dennoch kam es auch hier nicht zum Verbotsvorschlag.

Da 1933 allein in deutscher Sprache ein Vielfaches an analytischen Publikationen vorlag – schon Freud hatte zu diesem Zeitpunkt über 130 Veröffentlichungen vorzuweisen[8] –, heißt das: Es wurde nur ein sehr kleiner Teil analytischer Publikationen verboten. Dabei hielt man sich – weitestgehend – daran, gegen Publikationen vorzugehen und nicht gegen Autoren: Viele der Aufgelisteten hatten mehr publiziert als verboten werden sollte.

Nimmt man die zitierten Grundsätze der Kommission beim Wort, wurde damit indirekt zahlreichen Publikationen zugebilligt, Psychoanalyse und Individualpsychologie „wissenschaftlich weitergebildet“ zu haben.

Wilhelm Reich – als einziger komplett verboten

Verboteten Psychoanalyse: Wilhelm Reich

Wilhelm Reich: erstes Verbot 1933.

Nur bei einem Psychoanalytiker wurde 1933 eine Totalindizierung für nötig erachtet: Wilhelm Reich. Schon im ersten „Entwurf“ für die Verbotsliste „Sexualliteratur“, der vermutlich im Mai 1933 erstellt wurde, war er enthalten – mit dem Vermerk: „Sämtliche Veröffentlichungen“ (BA R 56 V/70 a, Blatt 61). Dem stimmte am 16.6.1933 der Leipziger „Arbeitsausschuss“ zu (LA A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 16939, Blatt 50). Reich komplett zu verbieten, war also bereits Konsens, als jene Liste „Psychoanalyse“, auf der Freud lediglich mit zwei Schriften auftauchen sollte, erst in Auftrag gegeben wurde.

Im Leipziger Index wurde dann unter „Psychoanalyse und Individualpsychologie“ Reichs Schrift Die Funktion des Orgasmus als „unrein“ hervorgehoben. In „Sexualliteratur“ benannte man die Titel Der Einbruch der Sexualmoral, Der sexuelle Kampf der Jugend sowie Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral und forderte erneut das Verbot sämtlicher seiner Schriften ein.

Begründet wurde dies damit, dass er „die sexuellen Probleme ausschließlich vom sozialistischen und psychoanalytischen Standpunkt aus“ behandle (BA NS 8/288, Bl. 143).

Das Verbot betraf zu diesem Zeitpunkt sieben bereits veröffentlichte Bücher sowie diverse Artikel. Insgesamt waren bis zum Sommer 1933 mindestens 45 analytische Veröffentlichungen von ihm erschienen (Laska 2008, S. 142f., 145).

Geheime Verbote

Am 11.8.1933 konnten die Leipziger Zensoren dem Kampfbund 250 Kopien der inzwischen vom Propagandaministerium bestätigten Liste „Psychoanalyse und Individualpsychologie“ zusenden. Doch selbst nach dem Absegnen durch dieses Ministerium hatten die Kampfbundlisten nicht nur keine Gesetzeskraft: Sie blieben sogar dauerhaft geheim. Dennoch wurden sie angewendet.
Statt jedoch, wie ursprünglich beabsichtigt, die Verbotsbegründungen „in die ganze Welt hinaus zu tragen“, wurden sie nun bei Strafandrohung „streng vertraulich“ weitergegeben: vermutlich eine Reaktion auf die internationale Empörung über die Bücherverbrennung und den damit einhergehenden Prestigeverlust für den NS-Staat, der sich ja als neuer deutscher Kulturträger präsentieren wollte (Barbian 1994, S. 525). Das hatte weitreichende Konsequenzen, auch für den Umgang mit analytischer Literatur.
Neben den Zensoren kannten nur die Verantwortlichen des Börsenvereins, die betroffenen Verlage und Bibliotheken die Verbotslisten, durften aber diese Kenntnis nicht weitergeben, nicht einmal an die Buchgrossisten oder die Inhaber der Buchläden. So beklagte die Zeitschrift Der Buchhändler im neuen Reich, dass Thomas Manns Bücher auch nach dessen Ausbürgerung 1936 „ungehindert feilgeboten und verkauft werden“, und leitete daraus die Forderung ab: „[D]er deutsche Buchhändler hat hier Gelegenheit zu beweisen, daß er – ohne Verbote – weiß, was zu tun ist.“ „Verbotslisten […] gab es nicht“, erinnerte sich entsprechend ein damaliger Buchhändler: „Allein aus Selbsterhaltungsgründen müssten wir so etwas gekannt haben. Das ‘gesunde Volksempfinden’ des Buchhändlers hatte hier zu sprechen und zu entscheiden“ (zitiert in Schäfer 1983, S. 14). So kam es, dass „im Buchhandel stets auch verbotene Literatur kursierte, die dann über aufwendige Razzien der Gestapo oder des SD beschlagnahmt werden musste“ (Barbian 2008, S. 23).
Auch die betroffenen analytischen Autoren dürften in der Regel höchstens indirekt – eben durch die Beschlagnahmungen ihrer Bücher oder durch erzwungene Auflösungen von Verlagsverträgen – erfahren haben, dass sie auf den Verbotslisten standen. Offiziell mitgeteilt wurde es ihnen nie.
Dass dürfte zugleich einer der entscheidenden Gründe gewesen sein, warum während der gesamten NS-Zeit in Fachliteratur wie dem Zentralblatt für Psychotherapie unter den ohnehin oft positiv erwähnten analytischen Veröffentlichungen verbotene Publikationen auftauchten.

Die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“

Einen – weiterhin geheimen – „reichseinheitlichen“ Index konnte das Propagandaministerium aufgrund diverser Kompetenzstreitigkeiten erst Ende 1935 fertigstellen. Er nannte sich „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ und wurde zum wichtigsten und umfassendsten Instrument der Verbotspolitik.
In der Ausgabe der Liste von 1935[9] war erstmals Sigmund Freud mit einem Gesamtverbot belegt – womit nun doch auf das Herz der psychoanalytischen Literatur gezielt worden war. Auch Anna Freuds „sämtliche Schriften“ waren jetzt indiziert.
Jedoch hatte sich nur in Bezug auf die beiden Freuds eine härtere Gangart durchgesetzt, als sie die Volkelt-Kommission im Sinne gehabt hatte. Denn als weitere psychoanalytische Autoren waren – mit je einem Buch – nur noch Heinrich Körber und Alexander Mette hinzugekommen. Außerdem „Ernst Parell“ – also der unter einem bislang unerkannten Pseudonym schreibende Wilhelm Reich.

Ab 1936 folgten zur Aktualisierung der Liste Verbotskonferenzen mit Vertretern unter anderem aus dem Propaganda- und Erziehungsministerium, der Gestapo, dem Sicherheitsdienst und der Parteiamtlichen Prüfungskommission (Barbian 1993, S. 526). Ende 1938 enthielt dieser Index 4.175 verbotene Einzeltitel und 565 weitere Eintragungen mit dem Vermerk „Sämtliche Schriften“ (ebd., S. 528).

Die Zahl betroffener Schriften dürfte damit im Vergleich zu den 1933er Kampfbundlisten mindestens auf das Drei- bis Vierfache angewachsen sein. Nun war auch eine weit größere Zahl sowohl ausländischer Verlage (zum Beispiel aus Warschau, Oslo, London, New York, Toronto, Moskau, Paris) einbezogen als auch fremdsprachige Schriften, zum Beispiel in sorbischer, polnischer, tschechischer, französischer, norwegischer, niederländischer, englischer und russischer Sprache. Darüber hinaus gab es eine eigene Rubrik verbotener „Serien und Zeitschriften“ sowie eine von Verlagen, „deren Gesamtproduktion verboten ist“ (Reprint der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“).
Dementsprechend hätten sowohl in Deutschland als auch weltweit erschienene, sowohl deutsch- als auch fremdsprachige, sowohl in Buch- als auch in Zeitschriften- bzw. Artikelform publizierte psychoanalytische Schriften verboten werden können, dazu natürlich auch das vollständige Repertoire des Internationalen Psychoanalytischen Verlages: insgesamt mehrere tausend Publikationen.[10]

Bezüglich der Psychoanalyse war jedoch, nachdem den beiden Freuds ein Totalverbot erteilt wurde, von den erweiterten Indizierungsmöglichkeiten kaum Gebrauch gemacht worden. Vergleicht man die 1935er und 1938er Liste, tauchen aus dem Kreis analytischer bzw. analysenaher Autoren nur zwei weitere Namen auf, deren indizierte Bücher aber nichts mit Psychoanalyse zu tun hatten: Eckard von Sydow und Kristian Schjelderup. Von anderen, schon zuvor berücksichtigten Autoren (Malinowski, Annie Reich, Reik, Stekel, Wittels) waren Bücher hinzugekommen (bei Stekel „Sämtliche Werke“). Als Mitautor der von Max Horkheimer herausgegebenen Studien über Autorität und Familie war auch Erich Fromm betroffen.

Die weitaus größte Zahl an psychoanalytischen und psychoanalysenahen Autoren und Autorinnen blieb weiterhin unbehelligt von Indizierungen. Wer auch immer jetzt dafür verantwortlich war, scheint sich – abgesehen vom Umgang mit Sigmund Freud und seiner Tochter – noch immer an die von der Volkelt-Kommission vorgeschlagenen Kriterien gehalten zu haben.

1940: Pauschalverbot und zwei Ergänzungen

Am 15.4.1940 stellte eine Anordnung alle „voll- und halbjüdischen“ Autoren pauschal unter Totalverbot – also auch viele Analytiker. Wohl nicht zuletzt, weil damit für den Buchhandel ja vielfach weiter nicht klar war, wen das betraf, wurden weiter einzelne Autoren und Werke auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt.

Was Publikationen analytischen Inhalts betrifft, gab es nur zwei Ergänzungen. Zum einen wurde das Verbot für Annie Reich auf „sämtliche Schriften“ ausgedehnt – was sich auf die zwischen 1930 und 1932 erschienenen Aufklärungsschriften Ist Abtreibung schädlich?, Das Kreidedreieck und Wenn dein Kind dich fragt gerichtet haben dürfte, mit denen sie zu Wilhelm Reichs sexualpolitischen Aktivitäten beigetragen hatte. Zum anderen kam Karl Motesiczky hinzu, der bei Reich eine Ausbildung zum Psychoanalytiker begonnen hatte. Unter dem Namen „Karl Teschitz“ hatte er sich von 1934 bis 1937 intensiv an Reichs faschismuskritischen Exilpublikationen in der Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie beteiligt, was 1941 mit dem Verbot seiner sämtlichen unter diesem Pseudonym verfassten Publikationen geahndet wurde.
Beide zusätzlichen Verbote waren also eng mit dem politischen Engagement Wilhelm Reichs verknüpft. Reichs publizistische Tätigkeit sollte auch in den Jahren nach seiner Emigration von Deutschland aus weiter beobachtet, und die Liste seiner staatsgefährdenden Schriften mehrfach vervollständigt werden.

Einige der gegen Reich gerichteten Maßnahmen: Buchverbote im Reichsanzeiger.

Verschiedene Behörden verboten teilweise ein- und dieselben Bücher.
Da Verbote von Reichs Schriften im Reichsanzeiger veröffentlicht wurden, war er der einzige Psychoanalytiker, bei dem Indizierungen öffentlich gemacht wurden.
Auch das unterstreicht seine aus der Gruppe der Analytiker herausragende Bedeutung – als Feind des Hitler-Staates.

 

 

 

 

 

 

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Anmerkungen
[1] Biographische Informationen zu diesen Männern: Peglau 2017a, S. 207-210.
[2] In Loosch (2008, S. 50) sind sie für 1934 aufgelistet. Für den Sommer 1933 bestätigte mir Anneros Meischner-Metge – von ihr bekam ich auch Literatur und Literaturhinweise zur Geschichte des Leipziger Psychologischen Instituts –, dass dieselben Personen als Mitarbeiter aufgeführt waren.
[3] Der Begriff „nahestehend“ ist nicht eindeutig zu fassen und führt bei anderer Auslegung zu einer anderen Zahl betroffener Autoren. Ich habe hier zum Beispiel Bronislaw Malinowski eingeordnet, weil er – obwohl kein Analytiker – im Internationalen Psychoanalytischen
Verlag veröffentlichte. Ebenso habe ich Wilhelm Stekel und Fritz Giese hinzugezählt, obwohl sich bei beiden darüber streiten lässt, ob sie 1933 (noch) als Analytiker gelten sollten.
[4] Boehm dürfte es, ebenso wie Otto Fenichel, deshalb getroffen haben, weil sie Koautoren Wilhelm Reichs für den Band Über den Ödipuskomplex waren. Beide tauchen jedenfalls im Gegensatz zu Reich kein weiteres Mal auf. Allerdings wurde das Thema frühkindliche Sexualität – für das ja der Ödipuskomplex stand – oft als besonders anstoßerregend angesehen. Auch das könnte zum Verbot geführt haben.
[5] Der Ingenieur und Arzt Sergei Feitelberg tauchte nur als Koautor einer indizierten Schrift Bernfelds auf. Zu seiner Biografie siehe Fallend/Reichmayr (1992, S. 183). Ob er 1933 sein Medizinstudium schon abgeschlossen hatte, ist dort nicht vermerkt. Psychoanalytiker wurde er nie.
[6] Sie wird hier namentlich nicht erwähnt, war aber (zusammen mit W. Reich und anderen) Mitautorin der unter „Sexualliteratur“ zur Indizierung vorgeschlagenen Schrift Das Kreidedreieck (Mühlleitner 1992, S. 255f.).
[7] Die Tatsache, dass der im thüringischen Friedrichroda wirkende Georg Wanke bereits 1928 verstorben war, belegt, dass auch bei der Psychoanalyse der Zugriff nicht auf noch lebende Autoren eingeschränkt wurde.
[8] Dabei sind Freuds zahlreiche Vor- und Gedenkworte nicht mitgerechnet.
[9] Diese stellte mir Werner Treß am 24.11.2010 zur Verfügung. Lydia Marinelli verweist darauf, dass laut Dietrich Strothmanns Buch Nationalsozialistische Literaturpolitik (1963) die bayerische Politische Polizei bereits 1934 ein regionales Gesamtverbot für Freuds Werke erlassen habe (Marinelli 2009, S. 82). Das konnte ich nicht überprüfen.
[10] In Fallend et al. (1985, S. 125) werden für die gesamte Zeit des Bestehens des Internationalen Psychoanalytischen Verlages – zusätzlich zu Freuds Veröffentlichungen – „etwa 250 bis 300 Einzelpublikationen“ erwähnt. Grinstein 1956–1960 belegt, dass die Zahl internationaler analytischer Buch- und Artikelveröffentlichungen bis 1938 um ein Vielfaches darüber hinausging.

 


5. „Vergeßt das Unbewußte nicht!“
Die Neue deutsche Seelenheilkunde

Der „Reichsführer“ der Psychotherapie

Matthias Heinrich Göring (1879–1945) war einer derjenigen, die nach der NS-Machtübernahme zu unerwarteter Macht gelangten. Vermutlich gab es im Dritten Reich niemanden, der auf den Umgang mit der Psychoanalyse mehr direkten Einfluss nahm als er. Göring, Nervenarzt und „Adlerianer“, war im Sommer 1933 Vorsitzender der neu gegründeten Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie geworden – nicht zuletzt, weil die hier maßgeblichen Ärzte Hoffnungen in Görings verwandtschaftliche Beziehungen setzten. Diese aktivierte er auch umgehend, indem er im Herbst 1933 bei einem Treffen „mit [m]einem Vetter Hermann die Lage der Psychotherapie besprach“, wobei Hermann Göring, damals unter anderem preußischer Ministerpräsident, sich angeblich „sehr für die Psychotherapie einsetzte“ (BA Koblenz, Kleine Erwerbungen, Nr. 762–2). Auch ansonsten hielt M. H. Göring privat und beruflich Kontakt zu seinem mächtigen Verwandten (Lockot 2002, S. 85).

Zwei Jahre später verschaffte die Gründung des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie (DIPFP), später oft als „Göring-Institut“ bezeichnet, M. H. Göring die Basis, um der von ihm angestrebten „neuen deutschen Seelenheilkunde“ näherzukommen.

Das „Göring-Institut“

Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) übernahmen hier von Anfang an wichtige Funktionen, DPG-Chef Felix Boehm Vorstandsmitglied (Schröter 2010, S. 1144–1150; Boehm 1978, S. 304). „Ohne die Psychoanalytiker“, konstatiert Dierk Juelich (1991, S. 91), „hätte die Psychotherapie während des Nationalsozialismus im ‘Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie’ nicht die eminent wichtige Bedeutung erhalten, wie es der Fall war“.

Die offizielle Gründung des DIPFP erfolgte am 14.6.1936 (Boehm 1978, S. 303f.). Michael Schröter beschreibt, wie auffällig das Institut

„im Organisatorischen an die freudianische Tradition anknüpfte. Es übernahm vom Berliner Psychoanalytischen Institut nicht nur die Räume mitsamt Bibliothek, die Poliklinik und den Dreiklang von Vorlesungen/Seminaren, Lehranalyse und Supervision, sondern auch das Prinzip einer Psychotherapeutenausbildung außerhalb der Universität“ (Schröter 2001, S. 734).

Bereits 1937 konnte Felix Boehm intern mitteilen: An der Wand des Institutes hinge nun wieder das Bild Freuds; allerdings neben dem Bild des Führers, das er aufzuhängen gezwungen war“ (Fenichel 1998, Bd. 1, S. 552).
Im selben Jahr hatte sich die DPG auch von Sigmund Freud die nachträgliche Zustimmung für ihren DIPFP-Beitritt eingeholt (Hermanns 1982, S. 165). In der psychoanalytischen Abteilung des Instituts wurden, zeitweise unter Tarnbezeichnungen, bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Analytiker ausgebildet und Analysen durchgeführt (Brecht et al. 1985, S. 164ff.; Hermanns 1989, S. 28–33; Bräutigam 1984); gegen Unterschrift blieben den Ausbildungskandidaten Freuds Werke zugänglich (Dräger 1994, S. 49).
Michael Schröter teilt nach Durchsicht der Mitgliederkartei des DIPFP mit, „die Ausübung der Psychoanalyse“ habe sich unter anderem hinter Ausdrücken wie „große tiefenpsychologische Behandlung“, „Tiefenpsychologie (Entwicklungspsychologie)“ sowie „wirkliche psychotherapeuti-sche Behandlung von langer Dauer“ verborgen. Aber auch „Psychoanalyse“ sei gelegentlich eingetragen worden, allerdings nicht von (ehemaligen) DPG-Mitgliedern, sondern von den Therapeuten Gebsattel und Muthmann (Schröter 2000a, S. 19 und Fn 6).
Dietfried Müller-Hegemann, der seine analytische Ausbildung am DIPFP 1936 begonnen hatte, sprach später von dem „höchst lebhafte[n] Interesse der faschistischen Machthaber […] an der Tiefenpsychologie“, das zum Aufbau des Instituts geführt habe (zitiert in Bernhardt 2000, S. 186). Geoffrey Cocks schreibt: Die Nationalsozialisten konnten „das Bedürfnis nach psychologischer Betreuung und Hilfe, innerhalb und außerhalb ihrer eigenen Reihen, schlechterdings nicht ignorieren“. Und Freud war nun einmal „für alle psychotherapeutischen Denkschulen, wie groß auch die Unterschiede zwischen ihnen waren, eine unverzichtbare gemeinsame Quelle“ (Cocks 1983, S. 1072, 1076). Anders formuliert: Die Arbeit des DIPFP basierte im Wesentlichen auf tiefenpsychologischer Therapie – und tiefenpsychologische Therapie basierte im Wesentlichen auf Freud.
Ernest Jones teilte auf dem IPV-Kongress im August 1936 in Marienbad mit, die Psychoanalyse sei im Dritten Reich „‘neben anderen Richtungen der Psychotherapie’ anerkannt. Auch habe sie noch immer ‘ihre Selbstständigkeit hinsichtlich der wissenschaftlichen Arbeit und der Lehrtätigkeit bewahrt’“ (zitiert in Nitzschke 1997a, S. 75).
Dies war jedoch ein beschönigender Blick auf die Realität.

Faule Kompromisse

Schon Anfang 1934 hatte die DPG ihren Mitgliedern verboten, Menschen zu behandeln, die als Kommunisten oder auf andere Weise in „hochverräterische“ Aktivitäten hätten verwickelt sein können – und die den Analytikern daher „Dinge“ mitteilen könnten, „welche wir anzeigen müssen“ (Schröter 2005b, S. 164f.).[1] Wirklich freies Assoziieren seitens der Patienten dürfte damit ebenso unmöglich geworden sein wie freies Handeln als Therapeut – was negative Auswirkungen auf jegliche wissenschaftliche Arbeit gehabt haben muss, die auf der Auswertung dieser Behandlungen beruhte.
Am DIPFP kamen dann Vorgaben wie diese hinzu: „Die Mitglieder des Institutes haben bei den poliklinischen ebenso wie bei den Privatpatienten unbedingt Aufzeichnungen zu machen […]. Oft sind 10 Jahre [Archivierung] nicht ausreichend, denn es kommen von Behörden und anderen Stellen später häufig Anfragen über ehemalige Patienten“ (ZfP, 1942, 1/2, S. 66).
Welche Vorstellungen M. H. Göring 1936 zur Integration der Psychoanalyse entwickelt hatte, geht aus seinem im Zentralblatt für Psychotherapie veröffentlichten Vortrag auf der ersten Mitgliederversammlung des DIPFP hervor. Hier pflichtete er zunächst der Ansicht bei, dass es nicht darauf ankomme, „ob auch in der Psychotherapie die nationalsozialistische Idee zu finden sei“, sondern lediglich darauf, „ob die Psychotherapie der nationalsozialistischen Idee dienstbar gemacht werden könne“. Dann fuhr er fort:

„Leider hat niemand vor Freud die Erkenntnisse des Unbewußten praktisch verwertet. Die Anwendungsmöglichkeit uns zu zeigen, ist das Verdienst Freuds. Seine Methode ist Allgemeingut aller Psychotherapeuten geworden. Viel wichtiger als die Methode ist aber die Weltanschauung.“

Mit anderen Worten: Wer sich zum Nationalsozialismus bekenne, dürfe auch weiter an Sigmund Freud anknüpfen, wenn das dem Nationalsozialismus dienlich sei. Er setzte fort: „Die Weltanschauung beginnt, sobald wir nach dem Inhalt des Unbewußten fragen.“ Und hier gelte es zu lernen, „arische“ und jüdische Inhalte zu unterscheiden (ZfP, Bd. 9, Heft 5, S. 290–296).
Man verfüge also, sollte das wohl heißen, über ein rein „arisches“ Unbewusstes, für dessen Heilung man notgedrungen auf die Methode zurückgreifen müsse, die der Jude Freud zuerst gefunden hatte.

Die Integration der Analyse

1940 war man mit der angestrebten Integration schon deutlich weiter vorangekommen. Auf der dritten Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, die in Wien stattfand, erklärte M. H. Göring in seiner Eröffnungsansprache, man wolle sich hier mit der „Tiefenpsychologie im allgemeinen“ befassen und zeigen, dass „die Tiefenpsychologie in das ganze menschliche Leben hineingreift“. Zur Ganzheit gehöre „auch das Unbewußte im Menschen“. Daher sehe es die Ärztliche Gesellschaft

„als eine ihrer vornehmsten Aufgaben an, den Ärzten, den Pädagogen, überhaupt allen Volksgenossen, die sich mit Menschenführung befassen, nicht zuletzt auch in der Wehrmacht und in der Wirtschaft, zuzurufen: Vergeßt das Unbewußte nicht! Glaubt doch nicht den Menschen als Ganzes zu erfassen, wenn ihr vor dem Unbewußten die Augen schließt!“ (Bilz 1941, S. 8).

Wie umfangreich die inhaltlichen und begrifflichen Übernahmen aus der Psychoanalyse durch die „neue deutsche Seelenheilkunde“ letztlich waren, wird nicht nur im Zentralblatt für Psychotherapie vielfach deutlich. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht auch ein Vortrag des Nicht-Analytikers Fritz Mohr über Die Behandlung der Neurosen durch Psychotherapie, gehalten auf der zweiten Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie im September 1938 in Düsseldorf. Im Tagungsband, publiziert 1939, lässt sich Folgendes nachlesen (Hervorhebungen: A.P.):

„Die moderne Psychotherapie geht aus von der Tatsache, daß unbewußte, in der persönlichen Kindheit oder in der Urzeit der Menschheit liegende, dem Triebleben angehörende Erinnerungen, Einübungen oder Bilder auch im Leben des erwachsenen Kulturmenschen eine ausschlaggebende Rolle spielen, daß also Geltungstrieb, Machthunger,[2] Sexualität und alles, was mit den Fortpflanzungsvorgängen zusammenhängt, daß Anschlußbedürftigkeit und sonstige Gemeinschaftserscheinungen und soziale Instinkte unser Leben bis ins kleinste hinein bestimmen, daß aber auch innere Konflikte zwischen religiösen bzw. Weltanschauungsidealen und diesen Triebregungen uns mehr zerspalten, als wir wissen. […]
Man hat an dem Begriff des Unbewußten an sich herumgemäkelt […], daß es ein Hilfsbegriff ist, […] daß wir nur seine Wirkungen kennen. Aber daß diese Wirkungen da sind, daß wir uns in irgendeiner Weise damit auseinandersetzen […] müssen, das muß von allen Seiten zugegeben werden. Man hat an dem Begriff Verdrängung Anstoß genommen. Aber kann irgend ein Mensch leugnen, daß wir tausendfach im Leben Dinge vergessen oder beiseite schieben, die uns unangenehm sind? […] Daß überall da, wo Menschen Zusammenhänge, die ihnen peinlich sind, erkennen sollen, sich innere Widerstände erheben, bejahen alle psychotherapeutischen Schulen. […] Die Bedeutung der Träume als eines Mittels zur Erkennung unbewußter Wünsche und Regungen wird von allen zugegeben […]. Das, was man analytisch den Wiederholungszwang genannt hat […], entspringt ebenfalls einer allgemein menschlichen Tendenz […].
Auch die Tatsache der Uebertragung der Affekte auf den behandelnden Arzt wird ernsthaft von keiner Schule bestritten und findet ihre Analogie im sonstigen Leben in allen zwischenmenschlichen Beziehungen […]. In die Uebertragung spielt bekanntlich vor allem die Erinnerung an die Vater- und Mutterbindung stark hinein. […] Auch Willenstherapieformen sind […] vorhanden in der Uebung des freien Assoziierens, das besonders den kultivierten, also reflektierten Menschen oft außerordentlich schwer zu werden pflegt […].
Man sieht aus allem Bisherigen, das möchte ich zum Schluß noch einmal unterstreichen: Die gemeinsamen Grundlagen und Berührungspunkte aller seelischen Behandlungsmethoden sind so groß, daß demgegenüber die Unterschiede für die Wirkung nur sehr wenig in Betracht kommen“ (Curtius o.J., S. 53ff., 60, 66).

Sigmund Freud hat „Psychoanalyse“ recht unterschiedlich definiert. 1914 schrieb er: Jede Forschungsrichtung“, welche

„die Tatsache der Übertragung und die des Widerstandes […] anerkennt und sie zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit nimmt, darf sich Psychoanalyse heißen, auch wenn sie zu anderen Ergebnissen als den meinigen kommt“ (Freud 1914d, S. 54).

Nimmt man ihm beim Wort, so war auch die „neue deutsche Seelenheilkunde“: Psychoanalyse.
Auf jeden Fall konnte die „neue deutsche Seelenheilkunde“ niemals grundsätzlich konträr zum Inhalt der Psychoanalyse stehen oder diese pauschal bekämpfen: Sie hätte in erheblichem Maß gegen sich selbst gekämpft.

Viel Erfolg wünscht Adolf Hitler …

Vor diesem Hintergrund ist es erst recht bemerkenswert, dass von Hitler am 27.September 1938 auf ein entsprechendes Dank- und Grußtelegramm, das ihm M. H. Göring zu Beginn einer Fachtagung gesandt hatte, folgende Antwort kam:

„Der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie danke ich für ihr Treuegelöbnis und für die Meldung von der Errichtung eines Deutschen Institutes für Psychologische Forschung und Psychotherapie. Ich wünsche Ihrer Arbeit guten Erfolg“ (zitiert in Curtius o.J., S. 4).

1940, anlässlich einer weiteren Tagung, konnte M. H. Göring mitteilen, auch der Reichsorganisationsleiter der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, habe erkannt, „wie wichtig die Tiefenpsychologie nicht nur für die Medizin, sondern für alle Zweige des Lebens ist, vor allem auch für die Wirtschaft“ (Bilz 1941, S. 7, 9). Wieder erhielt Hitler ein Telegramm. Diesmal antwortete er:

„Der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie danke ich für die mir anlässlich der 3. Tagung telegraphisch bekundete treue Einsatzbereitschaft und sende meine besten Wünsche für den Erfolg Ihrer Tagung“ (dokumentiert in Bilz 1941, S. 10).

Telegramm an Hitler

Staunend stehen wir vor dem Führer, M. H. Göring 1940 (Archiv Peglau).

Ob Hitler sich selbst mit dem, was er da telegrafisch befürwortete, befasst hatte, ist unklar. Zumindest jemand in seiner Nähe, vielleicht in seinem Sekretariat, muss entschieden haben, welche eingehenden Telegramme beantwortet wurden und in welcher Weise. Wahllos wurden hier ganz sicher nicht „beste Wünsche für den Erfolg“ ausgesprochen.

… und Hermann Göring geht zum Analytiker

In der Endphase des „Dritten Reiches“ suchte übrigens auch Hitler-Mitstreiter Hermann Göring (ebenso wie andere NS-Staatsdiener – Lockot 2002, S. 226f.) einen Analytiker auf. Genauer gesagt: Er konsultierte – vermutlich auf Empfehlung seines Vetters M. H. Göring – im letzten Kriegsjahr heimlich Harald Schultz-Hencke mehrfach in dessen Wohnung.
Dabei sei es vor allem um Görings Drogenabhängigkeit gegangen, berichtet der Psychoanalytiker Otto Haselhoff, der zu dieser Zeit in Schultz-Henckes Wohnung einquartiert war (Lockot 1994, Fußnote S. 240).
Also maß auch Reichsmarschall Göring der Psychoanalyse heilende Wirkung bei.

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Zusätzliche Literatur:
Heekerens, Hans-Peter (2016): Psychotherapie und Soziale Arbeit. Studien zu einer wechselvollen Beziehungsgeschichte, Weitramsdorf-Weidach: ZKS-Verlag.

Anmerkungen
[1] Dieses Vorgehen belegt auch, wie genau man sich über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Klaren war, einschließlich ihrer bedrohlichen Aspekte.
[2] Diese beiden letzten Begriffe deuten, ebenso wie die „Anschlußbedürftigkeit und sonstige Gemeinschaftserscheinungen“, auf die Übernahmen von Alfred Adler hin. Hans-Peter Heekerens (2016, S. 124-126) weist darauf hin, dass auch die „Geburt“ der Kinder- und Jugendpsychotherapie und der Psychagogik „im NS-Staat“ vonstatten ging.

 


 

6. Viel Würdigung, wenig Diffamierung. Psychoanalyse in der deutschen Fachliteratur

Veröffentlichungen von (ehemaligen) DPG-Mitgliedern

Zwischen 1930 und 1938 – dem Jahr ihrer Auflösung – hatte die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) insgesamt 89 Mitglieder. Waren es 1932 noch 56 Mitglieder gewesen, hatten 1934 bereits 32 von ihnen Deutschland den Rücken gekehrt. 27 nichtjüdische DPG-Mitglieder schlossen sich ab 1936 dem Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie an (Lockot 2002, S. 149f.).
Laut Grinstein-Index und anderen von mir verwerteten Quellen sind im Dritten Reich 48 Erstveröffentlichungen von zwölf DPG-Mitgliedern zu verzeichnen: Felix Boehm, G.H. Graber, Martin Grotjahn, Karen Horney, Werner Kemper, Hans March, Alexander Mette, Carl Müller-Braunschweig, Gerhart Scheunert, Felix Schottlaender, Harald Schultz-Hencke und Margarethe Seiff.[1]

Das Zentralblatt für Psychotherapie

Diese Publikation, mit vollem Titel Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete einschließlich der medizinischen Psychologie und psychischen Hygiene, war das Organ der 1927 gegründeten Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie. Von Anfang an vorwiegend aus deutschen Mitgliedern bestehend, wurde diese Gesellschaft auch nach 1933 dominiert durch ihre deutsche, zunehmend „arisierte“ Ländergruppe, die neugegründete Deutsche allgemeine ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie. Diese, geführt von M. H. Göring, war zugleich die einzige offizielle Interessenvertretung deutscher Psychotherapeuten im Dritten Reich (ZfP, Bd. 7, S. 140–144).

In den beiden ersten Zentralblatt-Heften von 1933 wurde die Psychoanalyse ohnehin noch oft, ausführlich und anerkennend behandelt. So schrieb Felix Mayer einen Beitrag Zur Frage der Sublimierung, Dorian Feigenbaum veröffentlichte seinen „Vortrag, gehalten zu Ehren von Professor Freuds 75. Geburtstag“, und für Kurse des Sommersemesters des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts wurde geworben (ebd., Bd. 6, S. 18ff., S. 26ff., S. 65).

In Heft 3, veröffentlicht im Herbst 1933, schlug dann die politische Wende zu Buche. C.G. Jung verkündete im „Geleitwort“, dass von nun an die „schon längst bekannten Verschiedenheiten der germanischen und der jüdischen Psychologie […] nicht mehr verwischt werden“ sollen (ebd., S. 139). Aber im anschließenden Beitrag schrieb der niederländische Analytiker Johannes Hermanus van der Hoop:

„Die neuen psychoanalytischen Methoden, die sich nicht mit der Freudschen Psychoanalyse identifizieren (Adler, Stekel, Jung, Maeder), sind doch aus letzterer abgeleitet […]. Daher ist es nötig, erst das Wesen der Psychoanalyse näher zu betrachten“ (ebd.,S. 147f.).

Dem ließ van der Hoop eine ausführliche, würdigende Diskussion der Psychoanalyse inklusive sachlicher Kritik einiger Details folgen (ebd., S. 148–161).

„Kehrichtkübel unerfüllbarer Kinderwünsche“

1934 steigerte C. G. Jung seine Anwürfe zu offenem Rassismus:Psychoanalyse im Nationalsozialismus

„Der Jude als relativer Nomade hat nie und wird voraussichtlich auch nie eine eigene Kulturform schaffen, da alle seine Instinkte und Begabungen ein mehr oder weniger zivilisiertes Wirtsvolk voraussetzen. Die jüdische Rasse als Ganzes besitzt daher nach meiner Erfahrung ein Unbewußtes, das sich mit dem arischen nur bedingt vergleichen lässt. […] Das arische Unbewußte hat ein höheres Potential als das jüdische […]. Meines Erachtens ist es ein schwerer Fehler der bisherigen medizinischen Psychologie gewesen, dass sie jüdische Kategorien […] unbesehen auf den christlichen Germanen oder Slawen verwandte […]. Freud […] kannte die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine germanischen Nachbeter sie kannten. Hat sie die gewaltige Erscheinung des Nationalsozialismus […] eines Besseren belehrt? Wo war die unerhörte Spannung und Wucht, als es noch keinen Nationalsozialismus gab? Sie lag verborgen in der germanischen Seele, in jenem tiefen Grunde, der alles andere ist als der Kehrichtkübel unerfüllbarer Kinderwünsche und unerledigter Familienressentiments“ (ebd., Bd.7, S. 9).

Der „Jungianer“ G.R. Heyer schrieb im Anschluss, Freuds und Adlers Formulierungen seien „vielfach abwegig, ihre systematisierenden Versuche unhaltbar, ihre Übertreibungen geradezu wahnhaft, das Semitische in ihrer Psyche und Psychologie uns wesensfremd“. Doch hinter der „zeit- und rassebestimmte[n] Auffassung“ werde, so Heyer weiter, „auch das ‘Gute’ klar“ – bei Freud insbesondere die wertvolle Leistung, das Unbewusste erforscht zu haben (ebd., S. 21f.). W. M. Kranefeldt, ebenfalls „Jungianer“, behauptete im nächsten Beitrag: Die versteckte Basis der Psychoanalyse sei Freuds „leidenschaftlicher Monotheismus, sein Jahweismus“ (ebd., S. 35).
Gleichwohl war einem der sicherlich von Jung gemeinten „germanischen Nachbeter“ Freuds, Georg Groddeck (DPG-Mitglied und betroffen von den Bücherverboten), und seinem Buch Der Mensch als Symbol, 1933 im Internationalen Psychoanalytischen Verlag erschienen, im selben Heft eine positive Rezension gewidmet (ebd., S. 109).

Selbst ein ausdrücklich als Nationalsozialist auftretender Therapeut wie Kurt Gauger verdammte Freud nicht in Bausch und Bogen. Ein 1934 wiedergegebener Vortrag Gaugers begann mit der Ankündigung, „daß der Sinn meiner Ausführungen ein politischer ist, wie ich ja auch in der Uniform des Soldaten der Politik, des SA-Mannes vor Ihnen stehe“. Die Psychoanalyse kritisierte er danach als „eindeutig für die materialistische Weltanschauung Stellung“ nehmend, daher den „Bereich des Seelischen seines Eigenwertes“ beraubend (ebd., S. 159). Doch wenig später hieß es: „Wir bestreiten […] nicht den Wert einiger Thesen der Freudschen Psychoanalyse, die auf Grund […] naturwissenschaftlicher Beobachtung des menschlichen Seelenlebens formuliert wurden“ (ebd., S. 165).

Der ehemals mit der Psychoanalyse verbundene Hans von Hattingberg bemängelte im selben Jahresband, Freud sehe nur das Individuum und verliere dabei die „Beziehung zum größern überindividuellen Ganzen“ aus dem Auge (ebd., S. 99). Dennoch könnten die Ärzte Freuds Werke,

„die eine politisch begeisterte Jugend (von ihrem Standpunkt aus mit Recht) verbrannte [, nicht entbehren]. Wir müssen und dürfen uns zu dem bekennen, was wir seiner Arbeit verdanken, gleichviel, daß wir seine Irrtümer ablehnen, weil wir auf seinen Schultern stehend, weiter gelangt sind“ (ebd., S. 103).

Mit den nur 17 angegebenen Nennungen im Register – in Wirklichkeit waren es weitaus mehr – lag Freud im Jahrgang 1934 weiter auf Platz eins der namentlichen Erwähnungen – vor Jung mit 15 Nennungen.

Reich-Schelte und Freud-Lob

Und selbst Wilhelm Reich wurde noch dreimal genannt. Der Schwede Ivan Bratt bekundete seine „Übereinstimmung mit der Reichschen Auffassung“ des neurotischen Charakters (ebd., S. 287). Der Niederländer E.A.D.E. Carp kritisierte erst die gesamte Psychoanalyse, die mittels freier Assoziation die „Denkdisziplin“ des Patienten ausschalte und so dafür sorge, dass dieser „seine individuelle Selbständigkeit zum Behufe des Analytikers preisgibt“. Dann setzte er, sprachlich nicht völlig korrekt, fort:

„Es ist mir bekannt, dass führende (!) Psychoanalytiker (u.a. Wilhelm Reich in seinem kürzlich erschienenen Werk über Charakteranalyse […]) empfehlen, systematisch im Anfange jeder psychoanalytischen Behandlung die […] Widerstände abzubrechen [sic] und diese ‘Widerstandsanalyse’ von größter Bedeutung erachten“ (ebd., S. 318f.).

J. H. van der Hoop schließlich kritisierte „einzelne Analytiker“, die „ihre moralischen Grundsätze […] mit der Psychoanalyse gleichsetzen“, und ergänzte in der Fußnote: „Dies zeigt sich an dem Beispiel Reichs, der die Psychoanalyse mit bestimmten kommunistischen und sexuellen Prinzipien gleichsetzt“ (ebd., S. 337).

Auf Freud dagegen veröffentlichte van der Hoop 1935 geradezu eine Laudatio:

„Ich sehe in der Psychoanalyse die objektivste Psychotherapie, die wir jetzt besitzen und bemühe mich, diese so gut wie möglich auszuüben. Ich bewundere an Freud nicht nur die Genialität seiner Methode und seiner Einsichten und die meisterhafte Genauigkeit, mit der er und seine Schüler dieses ungeheure neue Gebiet durchforschen, sondern vor allem seinen moralischen Mut zur Wahrheit, um den mancher Forscher ihn beneiden kann“ (ZfP, Bd. 8, S. 171).

Zu kritisieren sei an der Analyse vor allem, ergänzte er, dass ganzheitlichen Zusammenhängen, Idealen, Einflüssen von Familie, Beruf, Nationalität, Rasse, Religion zu wenig Augenmerk zuteilwerde (ebd., S. 172f.).

In diesem Zentralblatt blieb es bis zu dessen kriegsbedingter Einstellung 1944 immer möglich, würdigend von „Psychoanalyse“ zu sprechen – von „Tiefenpsychologie“ ohnehin – und zentrale analytische Termini wie „Übertragung“, „Projektion“ und „Libido“ zu gebrauchen, ohne sich davon zu distanzieren. Das geschah sowohl in den „wissenschaftlichen Beiträgen“ der Zeitschrift wie auch in den oft ausführlichen Buch- und Artikelbesprechungen.

Inoffiziell verboten – offiziell rezensiert

Letztere bezogen sich allerdings ab 1940 nur noch gelegentlich direkt auf Publikationen, die von Psychoanalytikern verfasst waren, öfter aber auf Autoren, die auch die Bedeutung von Freud würdigten – neben, vor allem, Jung und Adler.
Die Rezensionen waren zumeist mit Angaben zu Verlag, Seitenzahl und Preis versehen: „Freud, Sigm., Selbstdarstellung, Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1936, 107 S., Geh. [geheftet], RM [Reichsmark] 3,50, geb. [gebunden] RM 5,-“ hieß es da zum Beispiel (ebd., Bd. 9/1936, S. 375). Und in allen Heften wurden die Rezensionen eingeleitet durch die Mitteilung: „Sämtliche in diesem Heft besprochenen oder vom Verlag angezeigten Bücher sind in allen deutschen Buchhandlungen zu erhalten.“

Mit anderen Worten: Die gesamte hier erwähnte analytische Literatur galt als in Deutschland legal verkäuflich. Eine Rezension im Zentralblatt war aber immer auch eine Werbung – und das schon aufgrund der gegebenen Zusatzinformationen, natürlich selbst dann, wenn es sich um eine kritische Besprechung handelte.
Da Freud und andere im Zentralblatt rezensierte analytische Autoren gleichzeitig NS-Bücherverboten unterlagen, heißt das: Es wurde vielfach für verbotene Literatur geworben.
Zumindest soweit man hier psychoanalytische Erkenntnisse auch positiv bewertete, wurden diese Erkenntnisse damit zugleich propagiert.

Ich habe nur sehr wenige Fälle entdeckt, in denen Diffamierungen der Psychoanalyse klar dem nationalsozialistischen Geist folgten, indem sie die Analyse wegen ihres vermeintlich jüdischen Charakters rassistisch attackierten.[2] Die meisten Anwürfe gingen jedoch über das schon vor 1933 gegen Freuds Schöpfung Vorgebrachte nicht hinaus.[3] Eine Ballung an Aggressivität, Antisemitismus und grundsätzlicher, sich über ganze Seiten hinziehender Abwertung, wie sie die 1934er Auslassungen C. G. Jungs kennzeichnete, blieb einmalig im Zentralblatt für Psychotherapie. Lobende, zustimmende oder um Neutralität bemühte Erwähnungen der Psychoanalyse, in sachlichem Ton vorgetragene Detailkritiken überwogen bei Weitem.

Eine weitere zeitgenössische, auch für den Bereich der Psychotherapie wesentliche Fachzeitschrift belegt: Dieser Umgang mit der Psychoanalyse war keine Ausnahme.

Das Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie

Diese von Karl Bonhoeffer herausgegebene Zeitschrift war ein „referierendes Organ“, d.h. ihre Ausgaben bestanden ausschließlich aus Rezensionen und Buchhinweisen. Sie hatte den Anspruch, über die gesamten, weltweiten Entwicklungen in Neurologie und Psychiatrie zu berichten und dabei „alle wichtigen Publikationen“ einzubeziehen, darunter diverse deutsche medizinische Fachblätter.
Auch in diesem Zentralblatt ist eine hohe Zahl von Erwähnungen analytischer Literatur zu konstatieren und ein bemerkenswert toleranter Umgang damit. Hier blieb es ebenfalls möglich, Freud und die Psychoanalyse zu würdigen, geschah jedoch mit der Zeit seltener. Auch in dieser Fachzeitschrift wurden diverse Publikationen von Autoren rezensiert, die Buchverboten unterlagen.
Analog zum Zentralblatt für Psychotherapie scheint es nur gelegentlich zu Diffamierungen gekommen zu sein. Kritik oder Schmähung der Psychoanalyse, die über schon vor 1933 erhobene Anwürfe hinausgingen, habe ich bei meiner hier nur stichprobenartigen Untersuchung nicht entdeckt.

M. H. Göring über Wilhelm Reich

Wilhelm Reichs Massenpsychologie wurde natürlich auch im Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie totgeschwiegen. Reich selbst taucht jedoch zum einen 1939 innerhalb einer Rezension zu Nic Hoels Pseudodebilität auf, die, so heißt es da, „ausgehend von den Grundanschauungen der Psychoanalyse, und insbesondere den Schriften Wilhelm Reichs“, argumentiere (ebd., Bd. 93, S. 44).
Zum anderen wurde auch Reichs 1933 erschienenes Lehrbuch Charakteranalyse rezensiert – und zwar ausgerechnet vom Führer der deutschen Seelenheilkunde, M. H. Göring.
Das ist umso bemerkenswerter, als Reich auch in der Charakteranalyse, insbesondere im Vorwort und im letzten Abschnitt des Buches, seine therapeutischen und politischen Auffassungen so zusammenführte:

„Ich habe mich bemüht zu zeigen, daß die Neurosen Ergebnisse der patriarchalisch-familiären und sexualunterdrückenden Erziehung sind, daß ferner ernsthaft nur eine Neurosenprophylaxe in Frage kommt, zu deren praktischer Durchführung im heutigen gesellschaftlichen System alle Voraussetzungen fehlen, daß erst eine grundsätzliche Umstülpung der gesellschaftlichen Institutionen und Ideologien, die von dem Ausgang der politischen Kämpfe unserer Jahrhunderts abhängt, die Voraussetzungen einer umfassenden Neurosenprophylaxe schaffen wird“ (Reich o.J., S. 11).

Unter diese Sätze schrieb Reich: „Berlin, im Januar 1933“. An anderen Stellen wird deutlich, dass er sich jene Umwälzung als eine sozialistische vorstellte, die auch psychoanalytische Erkenntnisse und sexualreformerische Erfordernisse berücksichtigte.
Ein Jahr später konterte nun M. H. Göring in seiner Zentralblatt-Rezension:

Reich „glaubt, daß das gesellschaftliche System der Zeit vor der nationalsozialistischen Revolution – denn in dieser Zeit ist das Buch geschrieben – nicht die Voraussetzungen in sich trage, um die Neurosenprophylaxe durchzuführen, daß erst eine grundsätzliche Umstülpung der gesellschaftlichen Institutionen und Ideologien […] die Voraussetzungen […] schaffen werde. Die Umstülpung hat mit einer gewaltigen Intensität begonnen, aber sicher nicht in der Form, wie Verf. es sich gedacht hatte, sondern in entgegengesetzter. Das neue Deutschland wehrt sich dagegen, dem sexuellen Triebleben die überragende Bedeutung zu geben, die es von Freud und seinen Schülern erhalten hat und der Verf. die Krone aufsetzt“ (ZfNuP, Bd. 69, S. 188).

*

Anmerkungen
[1] Gemeint sind hier nur Schriften, die, zeitlich und räumlich gesehen, innerhalb des Dritten Reiches erschienen sind. Nicht in Betracht kommen daher zum Beispiel sämtliche Veröffentlichungen des Internationalen Psychoanalytischen Verlags in Wien. Ebenso fallen diejenigen Autoren heraus, die zwar der Analyse in manchem nahestanden und in ihren Schriften auch auf sie Bezug nahmen, aber nie zur DPG gehörten. Ein Beispiel dafür ist J. H. Schultz: Er wurde gelegentlich als „wilder Analytiker“ eingeordnet (Lockot 2002, S. 147). Auch die zwischen 1934 und 1937 in Wilhelm Stekels Zeitschrift Psychotherapeutische Praxis veröffentlichten Beiträge berücksichtige ich nicht. Stekel verlegte den Herausgabeort nach der NS-Machtübernahme von Deutschland nach Wien; 1937 stellte er die Zeitschrift ein.
[2] Ohne Bezugnahme auf die Psychoanalyse wurde im Zentralblatt des Öfteren die Bedeutung von „Rassenhygiene“ und „Rassentrennung“ betont. Das Thema „Erbbiologie und Rassenkunde“ erhielt auch eine eigene Rubrik in den Referaten, zu der unter anderen M. H. Göring, E. Herzog und J. H. Schultz beitrugen (ZfP, Bd. 10, S. 301ff.).
[3] Vgl. zum Beispiel die entsprechenden Zitate im Abschnitt „Psychoanalyse und Sexualwissenschaft“ in Peglau, Unpolitische Wissenschaft? (2017a, S. 84–86), die frühere Kritik an der Psychoanalyse im Zentralblatt für Psychotherapie, z.B. ZfP., Bd. 5, S. 779ff., die Dokumente in Cremerius (1981) oder die im Gesamtregister der Gesammelten Werke Freuds genannten Verweise zu den Stichworten „Psychoanalyse, Widerstände gegen d.“ bzw. „Psychoanalyse, Vorurteile“ (Freud 1999, S. 464f.). Auch wenn Kranefeldt Freud „Jahweismus“ vorwarf, ging er damit nicht über bereits früher erhobene Anschuldigungen wegen angeblicher „talmudistischer Spitzfindigkeit“ und Ähnlichem hinaus (Cremerius 1981, S. 9; vgl. auch Brecht et al. 1985, S. 88). Hans-Martin Lohmann schreibt über die Situation in Österreich vor 1938: „Natürlich galt die Freudsche Psychoanalyse in den Augen der meisten Konservativen und Katholiken als ‘jüdische Wissenschaft’“ (Lohmann 2006a, S. 8). Bereits Gudrun Zapp informiert ausführlich über die rassistischen Anwürfe „arischer“ Psychotherapeuten gegen die Analyse (Zapp 1980, S. 70–112).

 


 

7. Ein „sehr modernes medizinisches Fach“ und „jüdische Seelenvergiftung“: Psychoanalyse im Völkischen Beobachter

Nicht nur im Zentralblatt für Psychotherapie blieb es bis zur Einstellung ihres Erscheinens 1944 möglich, würdigend von „Psychoanalyse“ zu sprechen – von „Tiefenpsychologie“ ohnehin – und zentrale analytische Termini wie „Übertragung“, „Projektion“ und „Libido“ zu gebrauchen, ohne sich davon zu distanzieren (Peglau 2017a, S. 351-410).
Dass es auch außerhalb von Fachmedien nicht tabuisiert war, die Analyse positiv zu erwähnen,[1] belegt sogar der Völkische Beobachter.
Dieser wurde nach 1933 nicht nur zur auflagenstärksten deutschen Tageszeitung (1938/39 knapp eine Million Exemplare), sondern auch das führende Organ der NSDAP, „gleichsam staats- wie parteioffiziell“ (Frei/Schmitz 1999, S. 99ff.), herausgegeben vom NS-“Chefideologen“ Alfred Rosenberg.
Psychoanalytiker tauchten dort allerdings schon früher auf.

Freud (1930) und Reich (1933)

Am 28. August 1930 hatte Sigmund Freud den renommierten Goethepreis erhalten. Tags drauf war im Völkischen Beobachter zu lesen:

„Der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt wurde diesmal Professor Sigmund Freud, dem weltberühmten Wiener Gelehrten und Schöpfer der Psychoanalyse, so jubelt mit Zinken und Posaunen die ‘Israel. Gemeindeztg.’ in Nr. 10, verliehen. Der Goethe-Preis, der größte wissenschaftliche und literarische Preis Deutschlands, wird dem Ausgezeichneten am 28. August, dem Geburtstage Goethes, im Rahmen einer großen Feierlichkeit in Frankfurt/M. überreicht werden. Die Preissumme beträgt 10 000 Mark. – Daß von namhaften Gelehrten die ganze Psychoanalyse des Juden Sigmund Freud als höchst unwissenschaftliches Geschwafel und Geschwätz abgelehnt wird, weiß man. Der große Antisemit Goethe [ein haltlose Überspitzung – A.P.] würde sich im Grabe umdrehen, wenn er erführe, daß ein Jude einen Preis bekommt, der seinen Namen trägt.“

Drei Jahre später, am 2. März 1933 fand sich auch Reich im Völkischen Beobachter. Unter der Überschrift „Bolschewismus oder Deutschland?“ wurde dort gefragt, was der Bolschewismus für die deutschen Frauen bedeute. Die Antworten lauteten: „Hunger und Tod“, „Auflösung der Familie“ und

„Zerstörung der Sittengesetze durch Verführung der Jugend. Ein krasses Beispiel […] stellt das kommunistische Buch von Dr. Wilhelm Weiß [sic] ‘Der sexuelle Kampf der Jugend’ dar […]. Es ist eine schamlose Verführung, die an die niedrigsten Instinkte unreifer Menschenkinder sich wendet und versucht, im Jugendlichen die Verpflichtung zu Sitte, Anstand, Selbstbeherrschung zu zersetzen“.

Bei der Namensverwechslung dürft es sich um eine Fehlleistung handeln: Der jüdische Polizeichef Berlins, Bernhard Weiß, war – durch intensive Hetze von Goebbels – fast schon zum Pseudonym geworden für „fremdrassische“ politische Gegner. Ein Wilhelm Weiss fungierte zudem eine Zeitlang als Chef vom Dienst im Völkischen Beobachter, wurde dann Leiter des Reichsverbandes der deutschen Presse (Bräuninger 2006, S. 207).
Nachdem sich die Psychoanalyse als ausreichend anpassungsfähig erwiesen hatte, sollten andere Töne zu hören sein.

„Auch die ersten Kindheitseinflüsse bestimmen die Lebensgestaltung“

Am 3. Dezember 1938 veröffentlichte DIPFP-Leiter M. H. Göring auf Seite fünf des Völkischen Beobachters den Beitrag Deutsche Seelenheilkunde. Ein deutsches Wissenschaftsgebiet, das fast ausschließlich in jüdischen Händen lag.
Dementsprechend lautete einer der Kernsätze:

„Ist auch […] beim Ausbau gerade dieser Tiefenpsychologie ganz unzweifelhaft weitgehend jüdischer Einfluß unter Führung von Freud und Adler mit am Werk gewesen, so ist das urtümliche Wissen jener Bereiche, um die sich eine Tiefenpsychologie bemüht, in kulturell bedeutsamen Zeiten einem Volke, und zwar gerade seinen bodenverbundenen Gliedern, allezeit vertraut gewesen.“

Schon diesen Beitrag, in dem die Wichtigkeit der Tiefenpsychologie und des Unbewussten mehrfach betont wird, charakterisierte eher Distanzierung von der Psychoanalyse als deren Diffamierung; das Wort „Psychoanalyse“ wurde allerdings vermieden. Ein halbes Jahr später verzichtete M. H. Göring auf diese Zurückhaltung.

Psychoanalyse im Völischen Beobachter 1939

Völkischer Beobachter 14.5.1939, Nachgestaltetet Kopie. Zum Lesen bitte hineinklicken.

Am 14.5.1939 wurde im Völkischen Beobachter unter der Überschrift „Auch die ersten Kindheitseinflüsse bestimmen die Lebensgestaltung“ ein Göring-Interview verarbeitet. In dem eine ganze Zeitungsseite in Anspruch nehmenden Artikel (dokumentiert in Brecht et al. 1985, S. 141) ging es unter anderem um die Frage, „wie es kam, daß die Psychoanalyse, die ein sehr modernes medizinisches Fach darstellt [!], einst [!] so zersetzend gewirkt hat.“ Antwort:

„Unbestreitbar hat die Kirche schwere Erziehungsfehler gemacht. Mit der Unterdrückung alles Sexuellen bereitete sie schließlich den Boden für den Einfall der Juden in das Gebiet der Psychoanalyse.“

„Für den Deutschen“, erfuhr man anschließend, sei es aber „gar nicht nötig“, sich den jüdisch infizierten Teil der Analyse anzueignen, da er über die „Erkenntnis der im Unbewußten schlummernden Kräfte“ ja bereits durch Gottfried Wilhelm Leibniz und Carl Gustav Carus verfüge.[2] Dann hieß es weiter: „Nur die Aufschließung des Unbewußten“, wozu insbesondere die Träume „wesentliche Anhaltspunkte“ lieferten, ermögliche ein erfolgreiches „Bekämpfen“ von Neurosen. Diese wiederum seien „zu einem großen Teil“ durch Erziehungsfehler, vor allem aus der Zeit „bis zum 6. Lebensjahre“, verursacht.

Indem er hier Neurotisierung hauptsächlich auf Erziehung – und nicht auf Triebkonflikte – zurückführte, folgte M. H. Göring nicht den zu dieser Zeit von Freud vertretenen Auffassungen, sondern eher jenen von Harald Schutz-Hencke, Margarete Seiff, Felix Schottlaender oder Wilhelm Reich.
„Außerordentlich wichtig“ sei für die Neurosenprophylaxe, hieß es weiter im Artikel, die sexuelle Aufklärung: „Es sollte zu einem feststehenden Erziehungsgrundsatz werden, daß jede Kindesfrage beantwortet und nicht mit Ausflüchten wie zum Beispiel ‘dazu bist du noch zu klein‘, abgetan wird.“
Freilich kam auch die in der NS-Zeit noch zugespitzte Tendenz, Kinder von Geburt an durch Unterdrückung und „Härtung“ zu willfährigen Untertanen zu deformieren, zum Tragen: Der Säugling dürfe „nur aufgenommen werden […], wenn er naß ist oder Schmerzen hat“,  Kindern müsse so viel zugemutet werden, wie sie „vertragen“, „Verwöhnen und Verweichlichen“ habe zu unterbleiben (vgl. Chamberlain 2010).

Dennoch ist festzuhalten: Vermischt mit NS-Ideologie und gekoppelt an die gängige Umdeutung, bei der Psychoanalyse handele es sich um eine vorfreudsche, „arische“ Errungenschaft, propagierte also – zumindest an diesem Tag – sogar der Völkische Beobachter analytische Grunderkenntnisse und lobte die Psychoanalyse, nicht etwa nur die ohnehin hochgeschätzte Tiefenpsychologie, als ein „sehr modernes medizinisches Fach“. Das belegt erneut, wie gut Teile der Freud’schen Lehre in das nationalsozialistische System integriert waren.

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Anmerkungen
[1] Carl Müller-Braunschweig konnte zwei Artikel in Nichtfachzeitschriften veröffentlichen – 1933 im Reichswart und 1939 in der Berliner Illustrierten Nachtausgabe –, in denen er psychoanalytisch argumentierte, in ersterer auch mit klarer Bezugnahme auf die Freudsche Lehre. Am 9.2.1941 fanden sich auch in der populären Koralle – Wochenschrift für Unterhaltung, Wissen, Lebensfreude psychoanalytische (sowie jungianische und adlerianische) Erkenntnisse, als Lebenshilfe angeboten von dem tiefenpsychologisch interessierten Arzt Otto Kankeleit. Unter der Überschrift „Dein Traum weiß mehr von Dir als Du!“ berichtete er, unterstützt durch großzügige Illustrationen, über Unbewusstes, Verdrängung, Widerstände und Traumsymbole und schloss, der Traum könne „Warner, Erzieher, Berater, Kritiker sein, doch muß er richtig verstanden werden“. Die „Arbeit des Seelenarztes“ bestehe darin, „dieses Traumwissen zu deuten“ und „der Heilung der Neurose dienstbar zu machen“. (Auf diesen Artikel wies mich Wolfgang Leuschner hin.) Ich habe nicht nach weiteren ähnlichen Veröffentlichungen gesucht, nehme aber an, dass es sie gegeben hat. Wenn dem so wäre, hieße das: Freuds Wissen wurde, ohne ihn zu nennen, auch im Dritten Reich – in einem bislang unbekannten Umfang – weiterhin popularisiert, wurde weiterhin zusehends „Allgemeinwissen“.
[2] Zu tatsächlichen Vorleistungen von Carus und Leibniz siehe Peglau 2017a, S, 361–362, 382–383; Buchholz/Gödde 2011, S. 24–28; Goldmann 2005, S. 140–145. Auch der im Völkischen Beobachter ebenfalls erwähnte österreichische Arzt Ernst Maria Johann Karl Freiherr von Feuchtersleben (1806-1849) nahm – bei all seinen Verdiensten – die Psychoanalyse nicht vorweg.
Im Zentralblatt für Psychotherapie wurde ebenfalls vielfach eine nähere Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse mittels der Behauptung vermieden, dass diese im Wesentlichen nur Aussagen über das jüdische Volk enthalte. So urteilte der Arzt Carl Haeberlin – der gedachte, mittels NS-Psychotherapie den Willen des Einzelnen „wieder in die große Gemeinschaft von Blut, Volk und Boden zurückzuführen“ – dort 1935: „Wir erkennen die Forscherpersönlichkeit Freuds ebenso an, wie etwa die seiner Volksgenossen [Paul] Ehrlich und [August Paul von ]Wassermann, wir halten ihn für eine überragende Erscheinung in diesem Volke, nicht anders, wie etwa die Propheten des Alten Testamentes ihre Zeitgenossen überragten. Aber wir sind uns auch der tiefen Trennungen bewusst, die zwischen dem semitischen und unserem Denken, zwischen der Weltanschauung dort und hier vorhanden sind“ (ZfP, Bd. 8, S. 289, 294).

 


 

8. „Möglichst keine tödlichen Diagnosen“. Zuarbeiten des Göring-Institutes zur „Eugenik“

Gegen „erbkranken Nachwuchs“, für „rassische Reinheit“

1934 war das „Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft getreten. Damit knüpften die Nationalsozialisten an „eugenische“ Bestrebungen an, die seit Ende des 19. Jahrhunderts im „linken“ wie im „rechten“ Lager, unter Ärzten, Biologen, Theologen und anderen Berufsgruppen weit verbreitet waren (vgl. Klee 1997, S. 15–33; Peglau 2000b; May 2009, S. 6f.).
Die Befürwortung von Sterilisation und Euthanasie war also nichts spezifisch Nationalsozialistisches – wohl aber deren radikale, sich institutionalisierende und zum hunderttausendfachen Massenmord ausweitende Anwendung.
Um „Erbkranke“ zu erfassen und der Sterilisation zuzuführen, wurden Gesundheitseinrichtungen ab 1934 aufgefordert, grundsätzlich „erbbiologische“ Daten der Patienten mitzuerfassen, zu dokumentieren und bei Verlangen an staatliche Stellen weiterzugeben. Das führte zu ca. 400.000 Sterilisationen an Menschen zwischen 10 und 60 Jahren, zu vielfachen schweren seelischen und/oder körperlichen Folgeschäden sowie zu ca. 6.000 Todesfällen. Weitere im Zuge der Sterilisation bereits „Erfasste“ fielen später der Euthanasie zum Opfer (Hinz-Wessels 2004, S. 101ff., 168ff.).
Auch am Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie galt die Norm, den Festlegungen des „Gesetz[es] zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ zu entsprechen,[1] was unter anderem M. H. Göring mehrfach bekräftigte[2] (Peglau 2017a, S. 478ff.).

„Unheilbare Psychopathen“

Dass das Erbgesundheitsgesetz „Psychopathien“ nicht explizit miteinbezog, führte in der Folge zu Kontroversen. Namhafte deutsche Psychiater wie Kurt Schneider standen einer Einordnung von „Psychopathien“ als Erbkrankheiten jedoch skeptisch gegenüber.
Dennoch entwickelte, offenbar aus eigenem Antrieb, eine Arbeitsgruppe des DIPFP ein „Diagnose-Schema“, das für angeblich unheilbare „Psychopathen“ genau diese Einordnung vornahm (Knebusch 2005). Zu dieser Arbeitsgruppe gehörten die „Freudianer“ Felix Boehm, Werner Kemper, Carl Müller-Braunschweig, „Neo-Freudianer“ Harald Schultz-Hencke, Ex-“Jungianer“ John Rittmeister, die „Jungianer“ Gustav R. Heyer, Wolfgang M. Kranefeldt und Werner Achelis, die „Adlerianer“ M. H. Göring und Edgar Herzog sowie die sich keiner Therapieschule (mehr) zurechnenden, sich aber als Tiefenpsychologen verstehenden Hans v. Hattingberg und J. H. Schultz, der Erfinder des „autogenen Trainings“.[3]
Im Februar 1940 wurde das Schema im Institut vorgestellt und im Heft 1940, 2/3 des Zentralblattes für Psychotherapie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, anschließend wurde es angewendet (Boehm 1942, S. 81).
Das bedeutete unter den im Institut bestens bekannten[4] gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Zusätzlich wurden nun weitere ca. 10 bis 15 Prozent der eigenen Patienten (ZfP 1939, Bd. 11, S. 52) mit einer Stigmatisierung versehen, die nicht nur zur Sterilisation, sondern – spätestens seit 1939 (vgl. dazu Peglau 2000a, S. 66f.) – auch zur Euthanasie führen konnte. Und offenbar bereits geführt hatte, wie das Referat belegt, mit dem J. H. Schultz dieses Diagnoseschema im Institut bzw. im Referatabdruck des Zentralblattes für Psychotherapie präsentierte:

„Wir sind übereinstimmend [!] der Ansicht, daß es auch eine hysterische Psychopathie, eine Entartungshysterie gibt, die völlig unheilbar ist. […] [E]s gibt ganz zweifellos diesen erblich-degenerativen, psychopathischen, unheilbaren hysterischen Typ. Meistens scheint es sich hier um eine sehr durchschlagende Vererbung zu handeln.
Die wenigen Fälle, wo ich dies Todesurteil in Form einer Diagnose gestellt habe [!], zeigten das deutlich; Sie wissen, dass im neuen Scheidungsrecht in Deutschland mit Recht diese Form der Hysterie als Scheidungsgrund gilt; denn es kann keinem Mann zugemutet werden, mit einer solchen Bestie zu leben“ (ZfP 1940, Heft 2/3, S. 114f.; Hervorhebung A.P.).

J. H. Schultz 1940 im Zentralblatt für Psychotherapie. Zum Lesen bitte hineinklicken.

Entscheidungen über Leben und Tod

Regine Lockot schreibt in diesem Zusammenhang:

„Die Diagnose entschied über Leben und Tod des Patienten. Indem ein phänomenologisches Diagnoseschema empfohlen wurde, versuchten [!] wohl Psychotherapeuten, die Diagnosen so zu stellen, dass die Patienten von dem Euthanasie-Programm verschont blieben“ (Lockot 2002, S. 220f.).

Einzelne Institutsmitglieder, so Regine Lockot weiter,

„waren als Psychiater in Kliniken tätig. Eine Psychoanalytikerin, die Assistenzärztin in Buch bei Berlin war, berichtete davon, dass sie die Meldebögen des RMDI [Reichsministerium des Inneren – A.P.] auszufüllen hatte. Da sie ahnte, welchem Zweck sie dienen sollten, habe sie möglichst [!] keine ‘tödlichen Diagnosen’ gestellt“ (ebd., S. 223).

Über dieselbe Analytikerin, Ingeborg Kath, ergänzt Regine Lockot an anderer Stelle, dass sie nach eigener Aussage nur alte Patienten ausgewählt habe, „die sowieso bald gestorben wären“ (Lockot 1994, S. 78).
1950 wurde Kath dann eines der sechs Gründungsmitglieder[5] der von Carl Müller-Braunschweig geführten Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (ebd., S. 243f.).

Allein der im Zentralblatt für Psychotherapie 1942, Heft 1/2, S. 65 f. veröffentlichte Bericht Felix Boehms für das Jahr 1941 nennt bezüglich der 464 Poliklinikpatienten 93 Diagnosen, die Sterilisation und Euthanasie nach sich ziehen konnten: 8 Fälle Debilität, 8 Fälle Epilepsie, 22 Fälle Schizophrenie, 38 Fälle manisch-depressive Erkrankung, 17 Fälle Psychopathie.

Später wurde der von der Euthanasie betroffene Personenkreis durch die verantwortlichen NS-Funktionäre wesentlich ausgeweitet und umfasste – neben vielen anderen Gruppen – weitere „Störungen“, die auch in der Arbeit des DIPFP eine Rolle spielten: „Schulversager“, „Verwahrloste“, „Kriegsneurotiker und -hysteriker“, „Homosexuelle“ (Peglau 2000a, S. 67).
Die Wahrscheinlichkeit, dass mit solchen Stigmatisierungen oder den oben aufgelisteten Diagnosen behaftete DIPFP-Patienten der Euthanasie zum Opfer fielen, dürfte zumindest immer dann hoch gewesen sein, wenn sie anschließend in Krankenhäuser oder Heilanstalten kamen.
Denn hier erfolgte der intensivste Zugriff durch die Euthanasiemaschinerie, die bis Kriegsende mehr als 200.000 Menschenleben auslöschte.

P.S. Bei der ärztlichen Beteiligung an der NS-Euthanasie ging es nicht um die Abwägung, das eigene Leben zu opfern oder das eines Patienten.
Es ist kein einziger „Fall bekannt geworden, daß ein Arzt wegen Verweigerung seiner Mitwirkung zum Tode verurteilt oder eingesperrt wurde, obwohl in einigen Fällen die Ärzte ihre Mitwirkung verweigerten und zum Teil sogar erheblich Widerstand geleistet haben“ (Klee 1991, S. 274).
Ein Beispiel für Letzteres war Dr. Hans Roemer (1878-1947), Leiter der Anstalten in Illenau und Göppingen, der „den Kampf um jeden einzelnen Patienten mit dem allmächtigen Leiter des Gesundheitsamtes“ aufnahm (ebd.). Er wandte sich über einen längeren Zeitraum an alle ihm erreichbaren staatlichen Stellen, um Protest einzulegen, verweigerte das Mittun, rettetet so vielen seiner Patientinnen und Patienten das Leben (ausführlich dazu: Plezko 2011, S. 54–63).
Auch diese Alternative gab es also.

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Zusätzliche Literatur:
Plezko, Anna (2011): Handlungsspielräume und Zwänge in der Medizin im Nationalsozialismus: Das Leben und Werk des Psychiaters Dr. Hans Roemer (1878-1947) Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Zahnmedizin des Fachbereichs Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen. https://d-nb.info/1064838332/34

Anmerkungen
[1] Einige Zitate aus dem Zentralblatt für Psychotherapie 1942, Heft 1/2 mögen das belegen. J. H. Schultz: „[A]n erster Stelle (steht) eine gründliche psychiatrische Erfassung jedes Klienten, auch wenn er nur zu einer ‘Eheberatung’ od. dgl. kommt […]. Die Erfahrung unserer Poliklinik geht dahin, daß alle ernsthaften und gesundungswilligen Kranken durchaus einsichtig und dankbar sind […], während allerdings asoziale Psychopathen oder gemeinschaftsfeindliche Schizoide und ähnliche Minderwertige dazu neigen, ‘beleidigt’ zu sein […]. Dabei muss die Lebens- und Gemeinschaftswertigkeit der Kranken eingeschätzt und berücksichtigt werden, damit die produktiv-heilerischen Potenzen unseres Institutes für werthafte Persönlichkeiten erhalten bleiben […], kann doch z.B. die Heilarbeit ergeben, daß ein unheilbarer erbmißgebildeter Psychopath bei der poliklinischen Aufnahme als Neurose verkannt wurde“ (ebd., S. 15f.). Die „Jungianerin“ Olga von Koenig-Fachsenfeld zur „Erziehungshilfe“ am Institut bzw. in dessen Zweigstellen: „Erbbiologische Gesichtspunkte werden nachdrücklich wahrgenommen, da erbkranke Kinder […] nicht psychotherapeutisch behandelt werden […]. Alle im Verlauf der Therapie erforderlichen Verhandlungen mit Behörden und Dienststellen, Überweisungen an andere Ärzte, in Heime usw. haben über die Erziehungshilfe zu gehen […]. Wie wichtig gut geführte Krankengeschichten für unsere Arbeit sind, hat auch die Poliklinik wieder und wieder betont […]. Wir brauchen sie [unter anderem] aus Gründen der Vertretung unserer Arbeit gegenüber Behörden“ (ebd., S. 27–30). Parallel dazu wurde ohnehin die ärztliche Schweigepflicht staatlicherseits systematisch unterhöhlt (Rüther 1997).
[2] Zum Beispiel indem er zum „Abfassen von Zeugnissen und Gutachten“ am Institut mitteilte: „Es geht nicht an, daß wir etwa schreiben […], Es liegt keine Geisteskrankheit vor […], der Strafrichter muß erfahren, ob ein Angeklagter Psychopath ist, d. h. erbmäßig abnorm ist […]. Mit anderen Worten, ob er noch zu einem brauchbaren Mitglied der Volksgemeinschaft werden kann oder nicht“ (Zentralblatt für Psychotherapie 1942 Heft 1/2, S. 36).
[3] Leider erst am 15.6.2019 habe ich von einem Beitrag erfahren, den der Psychoanalytiker Ulrich Schultz-Venrath schon am 20.6.1984 in der Zeitung TAZ veröffentlichte: „Autogenes Training und Gleichschaltung aller Sinne – 100 Jahre Johannes Heinrich Schultz.“ Darin ist bereits alles Wesentliche über das schuldhafte Handeln von J. H. Schultz in der NS-Zeit auf den Punkt gebracht. Erst 2002 raffte sich die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT) auf, J. H. Schultz die 1950 verliehene Ehrenmitgliedschaft wieder abzuerkennen.
[4] Teilweise waren die DIPFP-Mitglieder auch aus „erster Hand“ informiert. So hielt der Leiter der Euthanasieaktion „T4“, Herbert Linden, der auch Mitglied im Verwaltungsrat des Institutes war, dort Vorträge über „Erb- und Rassenpflege“ (Brecht et al. 1985, S. 148). Über den ohnehin schnell wachsenden Bekanntheitsgrad der „Euthanasie“ in der deutschen Bevölkerung berichtet ausführlich Klee 1997, 130–134, 193–219, 334–344. L. M. Hermanns weist in diesem Zusammenhang auch auf die „‘Arbeitsteilung’ zwischen Psychiatrie und Psychotherapie’ hin (Hermanns 1982, S. 163).
[5] Außer Kath und Müller-Braunschweig waren das Käthe Dräger, Hans March, Gerhart Scheunert, Margarete Steinbach (Hermanns 2010, S. 1159f. u. Fn 4, hier auch Details zur DPV-Gründung).

 


 

9. Tiefenpsychologische Kriegsführung

Bernays, Goebbels – und Freud

Sigmund Freuds in den USA lebender Neffe Edward Bernays war einer der „Väter“ der „Public Relations“. In seine Anleitungen zur Meinungsmanipulation ließ Bernays Thesen Freuds einfließen und behauptete:

“Wenn wir die Mechanismen und Motive der Massenseele verstehen, ist es uns nun möglich, die Massen nach unserem Willen zu kontrollieren und zu führen, ohne dass sie es mitbekommen“ (Bernays 1928, S. Psychoanalyse im Nationaslsozialismus47–48).

Sein erstes Buch zu diesem Thema, das 1923 erschienene Crystallizing Public Opinion, wurde laut Bernays‘ Angaben auch von Joseph Goebbels zu Rate gezogen (Fossel i. V.). [1]

Doch wie Florian Fossel mitteilt, wird Freud in diesem Buch nur einmal namentlich erwähnt, sonst nur indirekt auf ihn Bezug genommen.

Fossel entdeckte allerdings eine weitere Möglichkeit, wie Goebbels auf Freud gestoßen sein könnte.

 

Der deutsche Offizier Kurt Hesse hatte 1922 das Buch Der Feldherr Psychologos: Ein Suchen nach dem Führer der deutschen Zukunft geschrieben. Dort

„nimmt Hesse direkt Bezug auf Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse, indem er die libidinöse Bindung des Soldaten zu seinem Feldherrn beschreibt (Hesse 1922, 189–190). Das Buch dürfte Goebbels bekannt gewesen sein und wird heute noch in der militärischen Ausbildung verwendet“ (ebd.).

Mehr Libido, mehr Kampfkraft! Vorspiel im Ersten Weltkrieg

Psychologos Hesse Psychoanalyse im NationalsozialismusKonkret führt Hesse – der neben Gustave LeBon auch auf Wilhelm Stekel zurückgreift (Hesse 1922, S. 188, 193) – zu Freuds ein Jahr zuvor erschienener Schrift aus:

„Besondere Prüfung verdient meines Erachtens die von dem Wiener Psychologen Siegmund [sic!] Freud vertretene, bedauerlicherweise auch in militärischen Kreisen hier und da bespöttelte Auffassung, daß das Heer ebenso wie die Kirche eine künstliche Masse sei, die der Libido-Begriff zusammenhalte. Zwischen Feldherr und Soldat, meint Freud, bestehe eine enge Verbindung. Liebe einer eigenen Art. Jeder Hauptmann sei gleichsam der Vater seiner Abteilung […] Der preußische Militarismus habe aber diese libidinöse Bindung nicht anerkannt, und dem sei zum Teil auch zuzuschreiben, wenn 1918 in so starkem Maße Zersetzungserscheinungen sich gezeigt hätten.[…]
[H]eute, wo wir sexuelle Fragen als einen nun mal unabänderlichen Teil unseres natürlichen Seins behandeln, fragen wir ohne Furcht, ob wir tatsächlich diese Bindung – geistiger Art – die Freud als bestehend annimt, in ihrem Kern leugnen können.“

Tatsächlich hatte Freud (1921c, S. 103) in Massenpsychologie und Ich-Analyse die „Vernachlässigung dieses libidinösen Faktors in der Armee“ als theoretischen Mangel und „praktische Gefahr“ bezeichnet und fortgesetzt:

„Der preußische Militarismus, der ebenso unpsychologisch war wie die deutsche Wissenschaft, hat dies vielleicht im großen Weltkrieg erfahren müssen. Die Kriegsneurosen, welche die deutsche Armee zersetzten, sind ja großenteils als Protest des Einzelnen gegen die ihm in der Armee zugemutete Rolle erkannt worden, und nach den Mitteilungen von E.[rnst] Simmel (1918) darf man behaupten, daß die lieblose Behandlung des gemeinen Mannes durch seine Vorgesetzten obenan unter den Motiven der Erkrankung stand. Bei besserer Würdigung dieses Libidoanspruches [… wäre] das großartige Instrument […] den deutschen Kriegskünstlern nicht in der Hand zerbrochen.“

Dass Freud den kriegsgeschädigten Soldaten eine durch Libidomangel mitverursachte Erkrankung attestierte und die militärische Mordmaschinerie als „großartiges Instrument“ einordnete, hatte eine Vorgeschichte.
Ende September 1918, auf dem Budapester IPV-Kongress, trugen viele Analytiker Uniformen, waren sie doch „im Rahmen des Sanitätswesens wie alle Militärpsychiater dazu da, die Kampfkraft der Armee aufrechtzuerhalten“ (Reichmayr 1994, S. 53). Zugegen waren aber auch offizielle Regierungsvertreter Deutschlands, Österreichs und Ungarns,[2] die Interesse hatten an analytischen Erkenntnissen zu sogenannten „Kriegsneurosen“: Traumatisierungen durch Kampfhandlungen, welche die weitere Verwendbarkeit von Soldaten beeinträchtigten.
Es ging also darum, weiterhin möglichst viel „Kanonenfutter“ zur Verfügung zu stellen. Sándor Ferenzci, Ernst Simmel und Karl Abraham leisteten durch Vorträge ihren Beitrag dazu, Ernest Jones steuerte für deren spätere Veröffentlichung ebenfalls einen Vortragstext bei.
Freud stellte dieser Veröffentlichung dann ein Vorwort voran, in dem es hieß:

„[D]as hoffnungsvolle [!] Ergebnis dieses ersten Zusammentreffens war die Zusage, psychoanalytische Stationen zu errichten, in denen analytisch geschulte Ärzte Mittel
und Muße finden sollten, um die Natur dieser rätselvollen Erkrankungen und ihre
therapeutische Beeinflussung durch Psychoanalyse zu studieren.“

Offenbar mit Bedauern fügte er hinzu: „Ehe noch diese Vorsätze ausgeführt werden konnten,
kam das Kriegsende“ (Freud et al. 1919, S. 3; vgl. Gay 2006, S. 423f.; Jones 1984, Bd. 2, S. 238f.) – nämlich bereits sechs Wochen nach dem Kongress, am 11. November 1918.
Freud war sich über die ethische Problematik im Klaren, die mit den erhofften Behandlungen verbunden war:

„Dies therapeutische Verfahren war aber von vornherein mit einem Makel behaftet.
Es zielte nicht auf die Herstellung des Kranken oder auf diese nicht in erster Linie,
sondern vor allem auf die Herstellung seiner Kriegstüchtigkeit. Die Medizin stand
eben diesmal im Dienste von Absichten, die ihr wesensfremd sind. Der Arzt war
selbst Kriegsbeamter […]. Der unlösbare Konflikt zwischen den Anforderungen
der Humanität, die sonst für den Arzt maßgebend sind, und denen des Volkskrieges
musste auch die Tätigkeit des Arztes verwirren“ (Freud 1955, S. 708f.).

Es ist schlüssig, dass dieser taktierende, Skrupel beiseite schiebende Freud, der sogar kriegsbedingtes Leid „Trieb-Konstellationen“ anlastete, Kurt Hesse und anderen Psychokriegern Anknüpfungspunkte bot.
Die Verstrickungen späterer Psychoanalytiker in US-amerikanische Menschenversuche und die Erstellung von Psycho-Folter-Methoden lassen sich diesbezüglich auch als Fortführung einer Traditionslinie werten – sozusagen als „Nachspiel“.

Analytisch inspirierte Kriegspropaganda

Ab 1930 war Hesse bei der Heeresbildungsinspektion tätig. 1933 kam er in der Schrift Persönlichkeit und Masse im Zukunftskrieg, einer offenkundig fiktiven „Diskussion jüngerer Offiziere“, erneut auf die Psychoanalyse zurück. Mehrfach verwendete er den von Freud geprägten Begriff „Ich-Trieb“ und legte einem „Mitdiskutanten“ in den Mund:

„Als Freud kürzlich die Frage nach dem Todestrieb stellte, suchte ich sie auch für den Soldaten zu beantworten, in dem Sinne, ob es den deutschen Menschen aus dem Unterbewußten heraus in das große Opfer des Weltkrieges getrieben hat“ (Hesse 1933, S. 32).

Die Antwort blieb Hesse schuldig.
Später sollte er für die psychologische Kriegsführung des NS-Regimes bedeutsam werden: Von 1939 bis 1941 leitete Hesse die Abteilung Heerespropaganda beim Oberkommando der Wehrmacht. Ob er dabei weiterhin auf Freud zurückgriff, war bislang nicht zu klären.[3]

In Publikationen von Albrecht Blau, ab 1938 führendes Mitglied der „Propagandakompanien“ der Wehrmacht, klingen ebenfalls tiefenpsychologische Positionen an.
In der „nur für den Dienstgebrauch“ bestimmten, vermutlich auch von Edward Bernays inspirierten Abhandlung Propaganda als Waffe, die er 1935 für das Oberkommando des Heeres anfertigte, konstatierte Blau: „Wir wissen, daß der Ablauf des Lebens sich vollzieht in bewußten und unbewußten Abläufen.“ Darauf habe die „Werbung“ einzuwirken (Blau 1935, S. 8). Da „die psychologische Masse von ihren Trieben beherrscht und ihre Urteilskraft gering ist“, müssten sich „Werbeinhalte vornehmlich an das Gefühl wenden“ (ebd., S. 10), auf „Triebe“ abzielen, die wiederum auf „Bedürfnisbefriedigung“ gerichtet seien. Der „Werbeinhalt“ solle „die Beseitigung von Unlustgefühlen oder die Erwerbung von Lustgefühlen“ suggerieren, dazu am „Triebhaft-Unbewußten“ ansetzen. Spezielle Anknüpfungspunkte hierfür seien „Selbstwertgefühl“, „Geltungsbedürfnis“ und „Machtstreben“ (ebd., S. 16–17). Die am häufigsten angewandte „Werbemethode“ sei die „Propaganda“, also die „planmäßige Beeinflussung der Meinungsbildung mit positiven Werbeinhalten“, die „auf alle Triebe gleichmäßig ausgerichtet“ sei (ebd., S. 22). Im Weiteren wendete Blau diese und diverse andere Thesen auf die Propaganda für das NS-System und gegen dessen „Feinde“ an.

DIPFP-Kollaborationen

Mit Beginn des zweiten Weltkriegs beteiligte sich auch das Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie daran, die „Wehrkraft“ zu steigern, zunächst durch Begutachtung von kriegsgeschädigten Soldaten (Roth 1987, S. 40).
Wie Karl Heinz Roth anhand von Dokumenten des Militärarchivs nachwies, konnte sich das Institut innerhalb der Luftwaffe beträchtlichen Einfluss verschaffen (vgl. Cocks 1997, S. 210, 308–314). Das dürfte dadurch begünstigt gewesen sein, dass Hermann Göring, der Vetter von M. H. Göring, als Luftwaffenchef fungierte. Es hatte aber auch damit zu tun, dass die für die einfachen „Landser“ übliche Aversions“therapie“ – Stromstöße u. ä. – für das hochqualifizierte fliegende Personal nicht infrage kam (Roth 1987, S. 35). Schon rechtzeitig hatte sich das DIPFP daher auf die „Prävention und Behandlung künftiger ‘Kriegsneurosen’“ spezialisiert:

„Die Mitarbeiter der Berliner Poliklinik hatten eine Reihe von Sanitätsoffizieren in ‘Menschenführung’, im Handhaben ‘therapeutischer Gemeinschaften’ und natürlich in analytischer Neurosenlehre geschult. Danach waren diese Offiziere an die Leitungsstäbe der Luftwaffe abkommandiert worden“ (ebd., S. 35).

Die tiefenpsychologisch-analytische Behandlung etablierte sich letztendlich als „ultima ratio der Kriegsneurotikerbehandlung in der Luftwaffe“. Dem waren allerdings „Hierarchien von suggestiven und ‘kleinen’ Verfahren vorgeschaltet“. M. H. Göring, Hans v. Hattingberg und J. H. Schultz hielten diesbezüglich „die Fäden zusammen und sorgten für eine reibungslose Zusammenarbeit mit der Poliklinik des Institutes“ (ebd., S. 34f.).
Zu den Aufgaben des DIPFP gehörten ab 1944 des Weiteren: psychologische Kriegsführung, Ausbildung von Militärpsychologen und Behandlung von Soldaten, die an Massenexekutionen teilgenommen hatten; Schultz-Hencke arbeitete über „Fragen der Anwendung der Tiefenpsychologie innerhalb der Wehrpsychologie“ (Lockot 2002, S. 209f., 206f.). Boehm beteiligte sich Ende 1944 – als „Beauftragter“ von M. H. Göring – an der Erarbeitung von Vorschlägen zur „Begutachtung von Strafsachen wegen widernatürlicher Unzucht“, in denen homosexuelle Soldaten Verbrechern gleichgesetzt wurden (dokumentiert in Brecht et al. 1985, S. 156f.).
Ebenfalls als Göring-Vertreter wirkte Werner Kemper 1942 bei der Erstellung von „Richtlinien der Wehrmachtspsychiater für die Beurteilung psychogener Reaktionen von Soldaten“ mit. Für Fälle „dauerhafter Rückfälligkeit oder schwerer Abartung“ wurde hier „vorgeschlagen, an geeigneten Orten Abteilungen zu schaffen, damit sowohl die Truppe wie die Heimat von der zersetzenden Wirkung dieser besonderen Menschen bewahrt bleiben“.
In der Praxis dürfte das in der Regel auf die Versetzung in Strafkompanien hinausgelaufen sein – was, wie auch damals schon bekannt war, oft einem Todesurteil gleichkam (ebd., S. 150ff.). Auch Alexander Mette erklärte sich 1944, einer Aufforderung Felix Boehms folgend, bereit, als Sachverständiger in Wehrmachtsprozessen tätig zu werden, was zumindest einmal – noch am 4.1.1945 – tatsächlich geschah (Mette-Tagebücher).

Mit Freud „schwache Punkte des Feindes erkennen“

Zugleich wurden am DIPFP völkerpsychologische Untersuchungen durchgeführt „über die Sowjetunion, die USA, England, Frankreich und die Tschechoslowakei, um die ‘schwachen Punkte’ des Feindes zu erkennen“ (Lockot 2002, S. 195ff., 209ff.).
In der dazugehörigen Literaturliste tauchte neben Hitlers Mein Kampf und Gustave Le Bons Psychologie der Massen dann erneut Freuds Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse auf (Cocks 1997, S. 306).
Das wäre wohl undenkbar gewesen, wenn Freud die Wechselbeziehung zwischen dumpfer Masse und idealisiertem Führer anhand des aufsteigenden italienischen Faschismus abgehandelt hätte. Diesen könnte Freud beim Abfassen des 1921 erschienenen Buches durchaus im Kopf gehabt haben, erwähnt hat er ihn dort jedoch nicht. So wurde selbst diese „einzige Schrift von Freud, deren Gegenstand […] der Soziologie im engeren Sinne zuzurechnen ist“ (Reiche 2006, S. 175), weder 1933 von der Leipziger Volkelt-Kommission als indizierungswürdig angesehen, noch ließ sich das „Göring-Institut“ von deren Nutzbarmachung abhalten.

Wäre Letzteres Ausdruck eines so radikalen Pragmatismus gewesen, dass auf jegliche Literatur zurückgegriffen wurde, die interessante massenpsychologische Darlegungen enthielt, hätte auch Reichs Massenpsychologie des Faschismus auf die Literaturliste des „Göring-Institutes“ gelangen müssen. Was jedoch nicht der Fall war.
Das lässt sich nachvollziehen. Sobald der NS-Staat, seine Vertreter oder seine Ideologie in schriftlichen Kritiken namhaft gemacht wurden, funktionierte die Abwehrstrategie „Das hat nichts mit uns zu tun“ nicht mehr. Konkrete Kritik hatte zudem eine ganz andere Signalwirkung. Sie führte daher auch gegenüber den Schriften Reichs zu ganz anderen – weit aggressiveren – Reaktionen.

Den „Korpsgeist der Luftwaffe“ stärken

In den letzten beiden Kriegsjahren wurde der Etat des Institutes, dem „der besondere Status der ‘Kriegswichtgkeit’ zuerkannt“ worden war, „immens aufgestockt“ (Lockot 2002, S. 209). Ab 1944 hatten M. H. Göring, Hattingberg und Schultz „zusammen mit den Mitarbeitern der Poliklinik […] eine Menge zu tun, um durch ‘wehrgeistige’ Schulungskurse, durch die Weitervermittlung des ‘autogenen Trainings’ und der ‘kleinen Psychotherapie’ an die Truppenärzte“ der durch die steigende Zahl von Abschüssen wachsenden „Angst entgegenzuwirken und den Korpsgeist der Luftwaffe wieder aufzubauen“ (Roth 1987, S. 45).

Wie wirksam das DIPFP war und bis Kriegsende blieb, zeigte sich auch 1944 an der von „Oberfeldarzt Prof. Dr. J. H. Schultz“ verfassten „Anweisung (!) für Truppenärzte über Erkennung und Behandlung von abnormen seelischen Reaktionen (Neurosen)“. Auf 19 Seiten fasste Schultz die von der Luftwaffe übernommene Position des Institutes zusammen und definierte:

„Eine Neurose ist eine funktionelle Störung, bei der das Gesamtverhalten des ganzen Menschen besonders hinsichtlich seiner Trieb- und Affektseite von entscheidender Bedeutung ist. Das Problem der Neurose ist also eigentlich ein seelisches, ein psychologisches“ (zitiert in Roth 1987, S. 69).

Der wütende Protest, den Max de Crinis, Chef der Psychiatrischen Klinik der Charité und SS-Standartenführer, daraufhin am 8. Februar 1945 an seinen Vorgesetzten, den „Reichsarzt SS und Polizei“, Ernst-Robert Grawitz, richtete, unterstreicht den Einfluss der DIPFP-Therapeuten:

„Die Überheblichkeit und Selbstbeweihräucherung des Tiefenpsychologischen Institutes […] wäre ja noch zu ertragen, untragbar jedoch erscheint es mir, mit diesem neuerstandenen Freudianismus die klare naturwissenschaftliche Grundeinstellung unserer Ärzte in der Waffen-SS unsicher zu machen“ (ebd., S. 8).

Als im Mai 1945 das Gebäude des „Göring“-Institutes abbrannte, endete auch die Geschichte der Psychoanalyse im Nationalsozialismus.

*

Zusätzliche Literatur:
Florian Fossels Beitrag „A professional nephew“: Edward L. Bernays und Sigmund Freud. Die Anfänge von Public Relations und ihre Verwandtschaft zur Psychoanalyse erschien 2017 in Psychoanalyse. Texte zur Sozialforschung 20 (2/2016), S. 200–218.
Hesse, Kurt (1922): Der Feldherr Psychologos: Ein Suchen nach dem Führer der deutschen Zukunft, Berlin: E. S. Mittler u. Sohn.
Hesse, Kurt (1939): Die Feldherren-Einheit Hindenburg-Ludendorff, in Heerführer des Weltkrieges, hg. von der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften, Berlin: E. S. Mittler u. Sohn, S. 255–288.

Anmerkungen
[1] Fossel (2017, S. 206) schreibt dazu: „In seiner Autobiographie beschreibt Bernays ein gemeinsames Essen 1933 mit Karl von Wiegand, Pressekorrespondent der Hearst Newspapers, der ihm von einem Besuch bei Joseph Goebbels in Deutschland berichtete. Wiegand erzählte von Goebbelsʼ Propagandaplänen und dessen ausführlicher Propaganda-Bibliothek, in der er Bernaysʼ Buch gesehen habe. Goebbels, so Wiegand, verwende das Buch bei seiner destruktiven Kampagne gegen die deutschen Juden.“
[2] Als „offizielle Delegierte“ nahmen am Kongress teil: „Oberstabsarzt Dr. Sándor Szepessy und Stabsarzt Dr. Ödön v. Németh, in Vertretung der ungarischen Regierung; Generalstabsarzt Dr. Adalbert Pausz und Oberstabsarzt Dr. Friedrich Valek, in Vertretung der österreichischen Regierung; Stabsarzt Professor Dr. Casten und Stabsarzt Dr. Holm, in Vertretung der deutschen Regierung“ (Das Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 1910–1941, hg. von Michael Giefer https://www.luzifer-amor.de/index.php?id=179, IZP / V / 1919 / 53).
[3] In Hesse 1939 – ebenso in dem gesamten Buch, in dem sein Beitrag enthalten ist – tauchen weder Freud noch Tiefenpsychologie auf.

 


 

Anhang: Der vorgefundene Forschungsstand

Zu Wilhelm Reich

Zumeist sind weder „Freudianer“ noch „Reichianer“ sonderlich interessiert an der Berliner Phase (1930-1933) seines Wirkens. Bei Ersteren häufen sich Beschweigen,[1] Abwerten (z.B. in Jones 1984) oder Diffamieren (z.B. in Hartmann/Zepf 1997) dessen, was Reich ab 1930 tat und veröffentlichte. Wird er als Pionier der Therapiemethodik noch gelegentlich gewürdigt (z.B. in Wälder 1934; Loewenberg/ Thompson 2011b), werden seine Erkenntnisse über psychosoziale Zusammenhänge jedoch fast völlig ausgeblendet.[2]
Für einen Großteil der „Reichianer“ wiederum fängt – Reichs eigenen späteren Darstellungen folgend (vgl. Reich 1995, S. 16; 1997, S. 11–35; 1967, S. XV) – dessen wirklich bedeutsamer Lebensabschnitt erst mit der zweiten Hälfte der 1930er Jahre an, als er sich von Psychoanalyse und kommunistischer Politik distanzierte und ab 1939 die Erforschung von „Orgon“ genannter Lebensenergie zunehmend zu seinem Arbeitsschwerpunkt machte. Alles andere wird in dieser Sichtweise oft zum mehr oder weniger notwendigen Vorspiel degradiert.
Reichs Tagebücher aus der Zeit zwischen 1922 und 1934 seien, schrieb seine Nachlassverwalterin Mary Boyd Higgins, „während des Durcheinanders nach Reichs Tod“ gestohlen worden und bis heute verschwunden (Reich 1997a, S. 10).
Seine wichtigsten Biografen bieten zu seinen in Deutschland verbrachten Jahren nur knappe Überblicke (Ollendorff-Reich 1975, S. 42–47; Laska 2008, S. 70ff.), konzentrieren sich auf seine psychoanalytische Tätigkeit und sein Privatleben (Boadella 1988, S. 81–112; Sharaf 1996, S. 207–245) oder geben zu anderen Aspekten vor allem Reichs eigene Darstellung wieder (Sharaf 1996, S. 190–206).[3]
Aber diese Darstellung (vor allem in Reich 1995, S. 147–229; 1934c, S. 247–252; 1934f; 1935a, b) ist sehr verkürzt, stellenweise inkorrekt. Das liegt zum einen sicherlich daran, dass Reich bei seiner Flucht einen Teil seiner Aufzeichnungen zurücklassen musste (Reich 1933b, S. 10). Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass er später selbst daran interessiert war, sein vormaliges Wirken in Deutschland nicht zu detailliert darzustellen: ein möglicher Akt des Selbstschutzes in den kommunismusfeindlichen USA (Benett 2010).

Am besten erforscht ist Reichs Konflikt mit dem psychoanalytischen Establishment zwischen 1932 und 1934 (siehe insbesondere Fallend/Nitzschke 1997; Sharaf 1996, S. 207–226).
Reichs politischen Aktivitäten in Berlin sind meines Wissens nur Peter Bahnen (1986, 1988) und Marc Rackelmann (1992, 1993) gezielt nachgegangen. Bahnens Schilderungen leiden unter seiner deutlichen Voreingenommenheit gegen Reich (siehe insbesondere Bahnen 1986, S. 56–64). Dennoch hat er, mehrfach als Erster, wichtige Details recherchiert und Fragen zu Reichs Biografie aufgeworfen, auf die ich eingehen werde. Rackelmann hat sich auf das sexualreformerische Engagement Reichs im Umfeld der KPD konzentriert, dessen Tätigkeit im „Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz“ – später von Reich unter dem Begriff „Sex-Pol“ subsumiert – einer ausführlichen kritischen Würdigung unterzogen, die allerdings einige zu korrigierende Fehldarstellungen beinhaltet und sich in vielerlei Hinsicht ergänzen lässt.[4]

Zur Psychoanalyse im Nationalsozialismus

Zum Verhältnis von Psychoanalytikern und Drittem Reich lag eine größere Zahl von Arbeiten vor, so von – um nur einige zu nennen – Karen Brecht, Geoffrey C. Cocks, Helmut Dahmer, Ludger M. Hermanns, Karl Fallend, Regine Lockot, Ulrike May, Elke Mühlleitner, Bernd Nitzschke, Johannes Reichmayr, Michael Schröter und Gudrun Zapp. Darauf konnte ich aufbauen.
Zum Umgang mit Druckschriften im Nationalsozialismus existiert ebenfalls eine umfangreiche Forschungsliteratur. Hervorheben will ich an dieser Stelle die außerordentlich gründliche Aufarbeitung des NS-Literaturbetriebes durch Jan-Pieter Barbian und die detailreichen Forschungsbeiträge von Werner Treß zu Bücherverbrennung und -verboten, an die ich des Öfteren anknüpfen konnte.
Über das Schicksal psychoanalytischer Schriften im Dritten Reich hingegen gibt es keine ausführlichen wissenschaftlichen Studien.[5] Doch gerade die Einbeziehung dieses Themenkreises ermöglichte mir, den bisherigen Wissensstand über die Rolle von Psychoanalytikern und Psychoanalyse im Nationalsozialismus zu ergänzen – und zu korrigieren.

Dass die Psychoanalyse im Nationalsozialismus – wenn auch mit Abstrichen – therapeutisch weiter angewandt und per Ausbildung weitergegeben wurde, hat der US-amerikanische Historiker Geoffrey Cocks (1983, 1997, 2010) ausführlich beschrieben. Schon 1982 hat Ludger M. Hermanns Details dazu mitgeteilt (Hermanns 1982, S. 166f.). 1985 haben dann Karen Brecht, Volker Friedrich, Ludger M. Hermanns, Isidor J. Kaminer, Dierk H. Juelich und Regine Lockot in einer noch immer einzigartig dastehenden Dokumentation über die Psychoanalyse im Dritten Reich belegt und benannt:

„Es gab keine gesetzlichen Maßnahmen, die sich direkt gegen die Psychoanalyse richteten. Weder die Lehre, noch die Berufsausübung als Psychoanalytiker waren verboten. […] Arische Psychoanalytiker arbeiteten, wenn auch unter dem Druck möglicher drohender Maßnahmen, weiter“ (Brecht et al. 1985, S. 88, 92).[6]

Das heißt, sie konnten in ihren Praxen letztlich weiterhin unbehelligt psychoanalytische Therapie anbieten und anwenden.[7]

DPG-Mitglied Gustav Hans Graber, bis 1943 in Stuttgart als Psychoanalytiker in einer Privatpraxis wirkend, ist einer der wenigen Zeitzeugen, die dies mit ihren Erinnerungen bestätigen. 1979 reflektierte er, dass er „als Psychoanalytiker keine nennenswerten Schwierigkeiten in der Berufsausübung erfahren mußte“[8] und dass die „verbreitete Annahme, daß die Psychoanalyse damals verboten war, […] ein Irrtum“ gewesen sei: „[v]erboten waren Behandlungen von Juden“ (Schröter 2000a, S. 18). Doch selbst wenn Graber schrieb, er könne sich für die Zeit bis 1943 dafür „verbürgen, daß die in Deutschland verbliebenen Analytiker der Lehre Freuds ‘in Wort, Schrifttum und Praxis’ treu geblieben seien“ (ebd.), war das zwar deutlich überzogen – aber auch keine bloße Schönfärberei (vgl. Baumeyer 1971, S. 205–216).
1981 wies Johannes Cremerius darauf hin, dass sogar manche außerhalb von Psychotherapie und Psychiatrie tätige deutsche Ärzte im Dritten Reich auf psychoanalytische Erkenntnisse nicht verzichten wollten. Er konkretisierte dies aber nur am Beispiel des Internisten Richard Siebeck, 1934 bis 1941 Direktor der I. Medizinischen Klinik der Charité, der 1939 im Lehrbuch der Inneren Medizin geschrieben habe: „Wir haben durch Freuds geniale Arbeit die Bedeutung der Erlebnisse aus der frühen Kindheit kennengelernt.“ „Unbeirrt“, so ergänzt Cremerius, habe Siebeck „die Freudsche Terminologie: Ödipuskomplex, Libido, Mutterbindung, Vaterhaß weiter [benutzt]“ (Cremerius 1981, S. 20).
1989 stellte Ludger M. Hermanns fest, dass es „entgegen landläufiger Meinungen“ eine erstaunliche Zahl von Veröffentlichungen deutscher Psychoanalytiker im Dritten Reich gab, und zwar „in Tageszeitungen, kulturellen und Fachzeitschriften, Büchern, Broschüren und Denkschriften“. Als Beispiele nannte er ein Zeitungsinterview Carl Müller-Braunschweigs von 1939, einen Beitrag Harald Schultz-Henckes zu einer „populären Aufklärungsschrift“ von 1937, ein Sonderheft des Zentralblattes für Psychotherapie über „Vorläufer der Psychotherapie“ sowie – ausführlicher – die Publikationen Alexander Mettes (Hermanns 1989, S. 34–47).
1991 beschrieben Ulrich Schultz-Venrath und Ludger M. Hermanns (Gleichschaltung zur Ganzheit. Gab es eine Psychosomatik im Nationalsozialismus?, in Richter, H.-E./Wirsching, M. (Hg.), Frankfurt a.M.: Fischer, S. 83–103),[9] dass psychosomatische Konzepte in der NS-Zeit weiter gepflegt wurden, während sich die psychosomatisch orientierte Community mit wenigen Ausnahmen von den theoretischen Konzepten der Psychoanalyse weitgehend distanzierte. 1992 vertiefte Ulrich Schultz-Venrath dies in seiner Habilitationsschrift (Ernst Simmels Psychoanalytische Klinik Sanatorium Schloß Tegel GmbH (1927–1931) – Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte einer psychoanalytischen Psychosomatik. Universität Witten/ Herdecke 1992. Deutsche Hochschulschriften 2081, Mikroedition. Hänsel-Hohenhausen/ Egelsbach/ Frankfurt am Main/ Washington).
1997 konstatierte Bernd Nitzschke: „Mindestens bis 1939 erschienen Bücher in Deutschland, in denen psychoanalytische Termini und Konzepte dargestellt wurden.“ Er verwies an dieser Stelle (Nitzschke 1997, S. 73f., Fn 12) aber nur auf das 1939 erschienene Buch Selbstmord und Erziehung des vielseitig interessierten Dermatologen und Schriftstellers Aloys Greither.
2007 berichtete Regine Lockot, dass der Psychoanalytiker Wilhelm Bitter 1940 in seiner vom Direktor der Psychiatrischen Klinik der Charité, Max de Crinis (vgl. Klee 2003, S. 97), betreuten Dissertation „ausführlich psychoanalytische Zusammenhänge [referierte], ohne die psychoanalytische Terminologie – Verdrängung, Unbewusstes, Ödipuskomplex, Triebregungen u.a. – auszusparen. In seinem Literaturverzeichnis sind alle damals verfügbaren zwölf Bände des Freudschen Werkes angeführt“ (Lockot 2007, S. 21).
2009 urteilte auch Lydia Marinelli, die umfangreiche Recherchen zu Aspekten der analytischen Publikationsgeschichte anstellte:

„So kann auch nicht, wie oft in historischen Darstellungen zur Psychoanalyse pauschal die Rede ist, davon gesprochen werden, dass Freuds Werk und psychoanalytische Literatur in Deutschland von den Nationalsozialisten sofort und ausnahmslos verboten wurden.“

Dies begründete sie jedoch ausschließlich mit „chaotischen Einzelmaßnahmen“ und regional unterschiedlichen Verordnungen und sie vertiefte es auch nicht (Marinelli 2009, S. 82).

Meines Wissens ist dieser Forschungsstand – abgesehen von meiner eigenen Arbeit – bis heute (Juni 2019) nicht wesentlich ergänzt worden. Für Hinweise auf von mir übersehene Publikationen wäre ich dankbar.

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Anmerkungen
[1] Vgl. dazu auch Büntig (1982, S. 254–280); Sharaf (1996, S. 228f.); Freudl (2001). Die mit Abstand wichtigste, gegen dieses Beschweigen gerichtete Arbeit haben Karl Fallend und Bernd Nitzschke herausgegeben (Fallend/Nitzschke 1997, verändert neu aufgelegt 2002). Dieses Buch, an dem neben weiteren Autoren auch mehrere Psychoanalytiker mitwirkten, beinhaltet nicht nur kontroverse Sichtweisen auf Reich, es hat in der Tat auch zu Kontroversen geführt (Schröter 1998; Fallend/Nitzschke 1999; Schröter 1999; Lothane 2001; Fallend/Nitzschke 2002a; eine spätere Reaktion z.B. in Ash 2012b, S. 25, Fn 78). Bernd A. Laska zählt etwa 50 Rezensionen oder andere Veröffentlichungen auf, in denen darauf reagiert wurde (www.lsr-projekt.de/wrfall.html). Ein Umdenken im institutionalisierten Hauptstrom der Psychoanalyse bezüglich Reichs hat es offenkundig nicht eingeleitet (siehe Fallend/Nitzschke 2002a, S. 13–28).
[2] Hier einige der wenigen Beispiele für eine Erwähnung dieser Erkenntnisse durch Psychoanalytiker: Im Freud-Handbuch von 2006 würdigen Hans-Martin Lohmann und der Psychoanalytiker Lothar Bayer Aspekte Reichs massenpsychologischer Forschungen von 1933 in äußerst knapper Form (Lohmann/Pfeiffer 2006, S. 278). Positiv äußern sich auch Horst-Eberhard Richter (2003, S. 37, 40), Johannes Cremerius (1997, S. 160), Karl Landauer (in Horkheimer 1980, Bd. 3, S. 106f.), Ernst Federn (in Nitzschke 1995) und Ulrike Körbitz (1997, S. 257f.) jeweils in einem oder wenigen Sätzen. Ausführlicher werden Reichs Einsichten in psychosoziale Zusammenhänge von Bernd Nitzschke (1997a) und Emilio Modena (1997, 2001) behandelt. Größeren Platz widmen auch Grunberger und Chasseguet-Smirgel diesem Thema; allerdings in der erklärten Absicht, „die Differenz zwischen ihm [Reich] und dem Freudismus als ein Werk seiner [Reichs – A.P.] Psychose zu verstehen“ (Grunberger/Chasseguet-Smirgel 1979, S. 82). Dementsprechend dient das Eingehen auf Reichs Theorien auch in erster Linie dessen Pathologisierung. Das Niveau, auf dem hier oftmals argumentiert wird, lässt sich daran ablesen, wenn die Autoren über Reichs biologische Forschungen schlicht konstatieren: „[D]ass auch Gelehrte zu den Anhängern dieser Entdeckungen gehören, beweist einmal mehr die Schwäche des menschlichen Geistes“ (ebd., S. 75). Das Anliegen an sich, „das Phänomen des Faschismus auf psychoanalytische Weise zu deuten“, begrüßen sie jedoch immerhin (ebd., S. 134). Fritz Erik Hoevels Arbeit ist der bislang umfassendste Versuch eines Psychoanalytikers, Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse – so der Buchtitel – positiv zu würdigen. Dabei bezieht er auch dessen Engagement auf psychosozialem Gebiet ein (insbesondere Hoevels 2001, S. 265–324). Der Kommunist Hoevels steht allerdings nicht nur fernab des Psychoanalysehauptstroms, sondern wird von diesem offensichtlich auch kaum reflektiert. Juliet Mitchell stand noch vor der Analyseausbildung (Benewick/Green 1998, S. 229), als sie Reichs 1946er Massenpsychologie würdigte, ihn selbst jedoch als einen mit Intuition begabten „Soziologen“ einordnete, der als „Theoretiker […] wenig beizutragen“, teils „inadäquat[e]“ und „unsinnig[e]“ Thesen vertreten habe (Mitchell 1976, S. 237, 242–250). Wilhelm Burian hatte seine analytische Ausbildung ebenfalls noch nicht begonnen (persönliche Mitteilung 13.5.2013), als er sich, insbesondere aus marxistischer Sicht, ausführlich mit Reichs Gesamtwerk auseinandersetzte (Burian 1985). 2009 knüpfte er daran an und attestierte Reich erneut, dass sein Menschenbild und seine Gesellschaftsutopie im Gegensatz zu denen von Marx und Freud stünden und somit naiv seien (Diercks/Schlüter 2009, S. 191–203).
[3] Peter Bahnen, der weiteres biografisches Material zu Reich gelesen hat, bescheinigt auch dessen Autoren, dass sie ebenfalls „nur Reichs eigene Angaben“ übernehmen (Bahnen 1986, S. 9). Grunberger und Chasseguet-Smirgel (1979) halten sich dagegen vor allem an Ilse Ollendorff-Reich und ergänzen deren Angaben vor allem durch eigene Spekulationen und Fehldarstellungen. Peters (1992, S. 363–375) fügt ebenfalls nichts Wesentliches hinzu, berichtet oft oberflächlich und teils verfälschend.
[4] Atina Grossmann nahm 1995 ebenfalls Bezug auf Reichs sexualreformerisches Engagement – jedoch im Wesentlichen, indem sie dieses abwertete oder negierte (Grossman 1995, insbesondere S. 124–127). Ulrike Körbitz und Anna Bergmann beschränkten sich 1997 darauf, einige Detailaspekte Reichs sexualpolitischer Betätigung und dieser zugrunde liegende Annahmen zu diskutieren bzw. zu kritisieren (siehe Körbitz 1997; Bergmann 1997). Zusatzinformationen finden sich in Elke Mühlleitners Fenichel-Biografie (Mühlleitner 2008, S. 123–219). Karl Fallends Arbeit über Wilhelm Reich in Wien endet mit Verweisen auf Reichs Berliner Zeit (Fallend 1988, S. 220–225). Auch Fritz E. Hoevels macht dazu biografische Angaben (Hoevels 2001, S. 58–81), die aber in manchen bemerkenswerten Aussagen nicht belegt sind – wie der Behauptung, Hitler habe „einen Preis“ auf Reichs Kopf ausgesetzt (ebd., S. 76). Die bislang letzte größere biografische Arbeit zu Reich, Christopher Turners Adventures in the Orgasmatron, erschienen 2011, fügt Reichs eigenen Darstellungen zu seiner Zeit in Deutschland kaum etwas tatsächlich Belegtes hinzu (siehe insbesondere Turner 2011, S. 123–144), ist außerdem oftmals ausgesprochen unklar, oberflächlich und fehlerhaft und hat zudem den Schwerpunkt in späteren Lebensphasen Reichs. Ole Thyssen veröffentlichte 1973 das Buch Wilhelm Reich 1927–1939. Between Freud and Marx. Da es nur auf Dänisch vorliegt, konnte ich es nicht lesen. Ole Thyssen teilte mir jedoch am 6.11.2011 mit, dass sein Buch keine biografische Aufarbeitung darstellt, sondern vor allem eine Auseinandersetzung mit Reichs freudo-marxistischen Gedanken, speziell während seiner Zeit in Dänemark und Schweden 1933/34. Fuechtner (2011), Makari (2001, S. 471–474), und Zaretsky (2006, S. 320f.), bieten diesbezüglich ebenfalls keine zusätzlichen Informationen, Letzterer aber eine Reihe von Ungenauigkeiten und Fehlern wie die Behauptung, Reichs Massenpsychologie des Faschismus sei bereits 1930 veröffentlicht worden. Ohne Neuigkeitswert und mit krassen Fehlern durchsetzt – so die Behauptung, Reich wäre 1933 aus der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen worden (Steiner 2011, S. 92) – sind auch die Angaben zu Reich in Steiner (2011). Dieser Beitrag ist ohnehin gekennzeichnet durch eine erstaunliche Häufung von Sachfehlern sowohl in allgemeineren historischen, als auch in speziell psychoanalysehistorischen Zusammenhängen.
[5] In dem von Karen Brecht und anderen 1985 herausgegebenen Ausstellungskatalog Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland finden sich eine unvollständige Auflistung verbotener analytischer Literatur und Auszüge aus einigen damaligen Publikationen. Benannt werden hier ohne Angabe des Verbotszeitpunktes 30 Autoren und 44 Schriften sowie „Sämtliche Schriften“ von Sigmund und Anna Freud (was aber erst 1935 zutraf), außerdem der Almanach der Psychoanalyse, die Imago-Buchreihe und die Schriften des Vereins für freie psychoanalytische Forschung (Brecht et al. 1985, S. 91). Im Jahrbuch der Psychoanalyse von 1989 schlägt Ludger M. Hermanns für die Erfassung von analytischen Publikationen dieser Zeit drei Kategorien vor und nennt einzelne Schriften (Hermanns 1989, S. 33–35). Knappe Bemerkungen zum Thema finden sich in Wolfgang Benz’ 2006 veröffentlichten Beitrag über Sigmund Freud auf dem Scheiterhaufen. Einige Anknüpfungspunkte liefern Thomas Köhlers Anti-Freud-Literatur von ihren Anfängen bis heute (1996), der von Johannes Cremerius herausgegebene Band Die Rezeption der Psychoanalyse (1981) und, bezüglich österreichischer Veröffentlichungen, Freud in der Presse von Marina Tichy und Sylvia Zwettler-Otte (1999) sowie Lydia Marinellis Psyches Kanon. Zur Publikationsgeschichte rund um den Internationalen Psychoanalytischen Verlag (2009).
[6] Dem Analytiker Carl Müller-Braunschweig wurde nicht einmal, nachdem er 1938 aus politischen Gründen Lehrverbot erhalten hatte, die weitere psychoanalytische Tätigkeit in seiner Privatpraxis verboten (H. Müller-Braunschweig 2012, S. 147). Auch Ewald Roellenbleck, der 1933 als Direktor einer Beratungsstelle für volkstümliches Buchwesen wegen seines „Engagements für die SPD […] rasch aus dem Staatsdienst entlassen“ wurde und sich danach zum Psychoanalytiker ausbilden ließ, konnte unbehelligt eine analytische Praxis führen. L. M. Hermanns schreibt daher in Bezug auf ihn von dem „Paradox, daß jemand, der in seinem Grundberuf von den Nazis als politisch unzuverlässig entlassen, gerade ab 1933 als Psychoanalytiker freiberuflich arbeiten […] konnte“ (Hermanns 1991, S. 116; vgl. auch ebd., S. 114–118). Auch Christiane Ludwig-Körner stellt etliche Beispiele dar, wie psychoanalytische Lehre und Berufsausbildung im Dritten Reich weitergeführt wurden (Ludwig-Körner 1999), spricht dann aber dessen ungeachtet von der Psychoanalyse als „verbotene Wissenschaft“ (ebd., S. 238).
[7] Die gleiche Aussage lässt sich treffen über die therapeutische Tätigkeit des einzigen in Wien nach dem „Anschluss“ an Deutschland weiter praktizierenden Analytikers August Aichhorn. Auch hier wurde – in Abstimmung mit dem Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie – in begrenztem Maße die psychoanalytische Ausbildung fortgeführt (Johler 2012, insbesondere S. 181–222; Aichhorn, A., 2012).
[8] Für ihn mag sich allerdings seine Schweizer Staatsbürgerschaft günstig ausgewirkt haben.
[9] Von diesem Beitrag und der im Folgenden genannten Habilitationsschrift von Ulrich Schultz-Venrath habe ich erst im Juni 2019 erfahren.

 

 

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Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus

 

Andreas Peglau: Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus.

Mit einem Vorwort von Helmut Dahmer und einem ausführlichen Dokumentenanhang.

3., korrigierte und erweiterte Auflage 2017, Psychosozial-Verlag Gießen. 680 Seiten, Broschur, 49,90 Euro.
ISBN 978-3-8379-2637-8

 

 

Zitate aus Rezensionen:

„Durch das Prisma Reich erhellt Peglau die Geschichte der psychoanalytischen und der sozialistischen Bewegung, indem er deren Auseinandersetzungen mit und über Reich rekonstruiert.“
Jerome Seeburger, Einsicht

„Das Verdienst der spannend zu lesenden Recherche Peglaus liegt darin, im Umgang mit Wilhelm Reich und der Anpassung der Psychoanalyse an die herrschenden Verhältnisse eine für die Psychoanalyse schicksalhafte historische Weichenstellung dokumentenreich aufgezeigt zu haben.“
Rainer Funk, Fromm-Forum

 „Der Blick in die Alltagsgeschichte von Anpassung und Widerstand am Beispiel der Psychoanalyse im Dritten Reich könnte unsere Aufmerksamkeit vor allem dafür schärfen, wie unspektakulär und unmerklich die Barbarei Einzug in den Alltag halten kann. Dazu hat Verf. wertvolles Material bereitgestellt.“
Fritz Reheis, Das Argument

„Die Verschränkung zwischen dem Schicksal der Psychoanalyse im NS-Staat und der Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Emigrantengeschichte Wilhelm Reichs, die Peglau minutiös rekonstruiert, ist Dreh- und Angelpunkt des Buches, das einen unverzichtbaren Referenzpunkt für jeden darstellt, der sich künftig ohne Scheuklappen mit der NS-Geschichte der Psychoanalytiker beschäftigen will.“
Bernd Nitzschke, PSYCHE

„Eine wirkliche Pionierleistung. Nach der Lektüre vermag man wirklich qualifizierter über den wenig freundlichen ‚Umgang‘ mit Wilhelm Reich zu sprechen.“
Roland Kaufhold, Psychoanalyse

„Die Mammutaufgabe, die gleichzeitige Diskreditierung und Dämonisierung Reichs durch die Psychoanalyse, die KPD, durch antisemitische Kräfte ›von rechts‹ vor 1933 sowie durch die NS-Machthaber nach 1933 nachzuzeichnen, hat Andreas Peglau meisterhaft in einer bewegten und bewegenden, aber dennoch wissenschaftlich bestens fundierten und systematisch aufgebauten Darstellung bewältigt.“
Galina Hristeva, literaturkritik.de

„Andreas Peglau dürfte für lange Zeit die gründlichste und umfassendste wissenschaftliche Aufarbeitung eines schwierigen Kapitels aus der Geschichte der Psychoanalyse gelungen sein. Seine Verdienste um die Aufklärung einer immer noch von Legenden, Mythenbildungen oder schlichtem Unwissen umhüllten Katastrophe sind immens und kaum zu überschätzen. Viele Leser sollten es ihm danken.“
Hans-Martin Lohmann, LUZIFER-AMOR

„Beides, die allgemeine Geschichte der Psychoanalyse in dieser Zeit und der Fall Reich, wird hier materialreich dargestellt, vertieft, über das verfügbare Wissen hinaus auf den neuesten Stand erweitert. Peglau gibt zusätzlich Einblick in den Autor und politischen Aktivisten Reich, womit wir sowohl den Autor Reich kennen lernen als auch die Auseinandersetzungen mit ihm durch die Psychoanalyse besser verstehen können.“
Almuth Bruder-Bezzel, Zeitschrift für Individualpsychologie

„Gerade in einer Zeit der zunehmenden Bedeutungslosigkeit der Psychoanalyse (und Peglau benennt zahlreiche Gründe dafür) wünscht man dem Buch viele Leser aus der praktizierenden und heranwachsenden Psychoanalytiker- und Psychotherapeutenzunft. Historiker/innen werden die Studie ebenso mit Gewinn lesen.“
Elke Mühlleitner, hsozkult.de

„Peglau’s remarkable study of Wilhelm Reich and of the fate of psychoanalysis under Nazism is a major and outstanding contribution to its subject. Painstakingly researched and lucidly argued, it radically overhauls the prevalent picture of Reich as some ‘halfcrazed genius’ or ‘mildly paranoid’ Freudian renegade and reinstates the best period of his work (the late twenties to the end of the thirties) in the context it belongs to.“
Jairus Banaji, academia.edu

„[S]ollten auch der Sozialen Arbeit […] Zugehörige das Buch lesen? Ja, zunächst einmal diejenigen, die sich hierzulande einer psychoanalytischen Sozialpädagogik […] oder einer psychoanalytischen Sozialarbeit […] verpflichtet fühlen; sie könnten prüfen, ob und inwieweit sie der im vorliegenden Buch kritisierten idealisierenden psychoanalytischen Geschichtsschreibung aufsitzen. Ferner könnten an der Geschichte der Sozialen Arbeit Interessierte […] herausarbeiten, wie groß […] die Gemeinsamkeit zwischen Psychoanalyse und Sozialer Arbeit im Dritten Reich war.“
Hans-Peter Heekerens, socialnet.de

„Man sollte sich nicht vom beachtlichen Umfang dieses Buches abschrecken lassen. Es sei hier versichert, dass es erstens prägnant und flüssig geschrieben ist. Zweitens handelt es sich um eines der wichtigsten Bücher zur Geschichte der Psychoanalyse, das deren Niedergang von einer sozialkritischen Theorie und Praxis zur medizinalisierten, angeblich ‚unpolitischen‘ Wissenschaft erstmals detailliert nachvollziehbar macht. Und drittens bietet es die Wiederentdeckung eines herausragenden linken Sozialwissenschaftlers, dessen Werk von aktueller Brisanz ist: Reichs 1933 zu Papier gebrachte Erkenntnisse werden dringend benötigt, um den europäischen ‚Rechtsruck‘ nicht nur zu verstehen, sondern ihm auch angemessen entgegen zu treten.“
Werner Abel, Neues Deutschland

„Dieses Buch ist einmalig in der deutschen Bücherlandschaft, ich vermute sogar weltweit.
Warum? Es hat drei Vorzüge, die einzeln vielleicht auch bei anderen Büchern zu finden sind, aber nie in dieser Kombination.
Zunächst – und weitab jeder Selbstverständlichkeit: Der Autor kann schreiben. (…)
Dann – sind die hier dargebotenen historischen und aktuellen Fakten selbst hoch interessant. Viele neu und einzigartig, die meisten neu bewertet und in neue Zusammenhänge gestellt. (…)
Schließlich – und damit zeigt das Buch seine aktuelle Sprengkraft, ist es eine ungeheuer detailreiche, sozusagen feinkörnige Darstellung realer historischer Entwicklungsprozesse und ihrer Akteure, ohne grobskizzierte Vereinfachungen, ohne immer nur teilweise zutreffende Einordnungen, ohne ideologische Leit- und Scheuklappen.“
John Erpenbeck, amazon.de