Was ist die Rechte? Was ist Faschismus? – ein Diskussionsbeitrag

von Andreas Peglau

Zum 28.11.24 lud Platypus ein ins Rudi-Dutschke-Plenarium der TU Berlin zur Veranstaltung „Was ist die Rechte? Was ist Faschismus?“
Hier der Beitrag, den ich dort verlesen habe:

Aussagen darüber, was „die Rechte“ ist, sind untrennbar mit der Frage verbunden, was „rechts“ ist. Und das wiederum damit, was „links“ ist. Denn ohne die Annahme einer linken Position hat es keinen Sinn, von einer rechten Position zu sprechen.
Die Worte „rechts“ und „links“ beschreiben allerdings Orientierungen im Raum. Sie bilden nicht schon von sich aus einen politischen Inhalt ab. Deshalb besteht die Möglichkeit, diese Worte mit unterschiedlichem Inhalt zu verknüpfen. Genau das geschieht.
Einige Beispiele: Die Entwicklung der BRD seit 2020 wird vielfach als faschistoid, also rechtsextrem wahrgenommen. Andere behaupten, hier entstünde gerade eine „links-versiffte“ DDR 2.0. In den USA ist es – zumindest unter Republikanern – üblich geworden, die weltweit Krieg und Terror verbreitenden Demokraten als „links“ zu bezeichnen und Kamala Harris als Kommunistin. Klaus Schwab, der Chef jenes Weltwirtschaftsforums, das die Errichtung einer neoliberalen Weltregierung anstrebt, wird von manchen als technokratischer Faschist eingeordnet – von anderen jedoch als „der neue Karl Marx“. Was ebenfalls als Beschimpfung gemeint ist. Am Montag wurde in der linken Tageszeitung junge Welt die aktuelle Cancel cultur so kommentiert: „Linke Aktivisten, die nicht regelmäßig als Rechte, Schwurbler, (…), Antisemiten, Terrorunterstützer, Hassprediger oder Verschwörungsideologen tituliert werden, nehme ich persönlich schon gar nicht mehr ernst.“ Zitat Ende.

Das Problem ist: Politische Zuordnungen zu links oder rechts lassen sich weder eindeutig beweisen noch widerlegen. Zum einen, weil diese Kategorien nicht eindeutig definierbar sind. Zum anderen, weil die gesellschaftliche Realität viel zu komplex ist, um in diese Schubladen hineinzupassen.
War Josef Stalin, Führer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und Massenmörder an seinem eigenen Volk, politisch links oder rechts? War die Sowjetunion, auch zu Zeiten des Stalinschen Terrors, ein „linker“ Staat?
Oder: Ab 1933 traten zigtausende vormalige deutsche „Links“-Wähler NS-Organisationen bei. 1949 waren dann viele von ihnen vorgeblich wieder Sozialisten: als DDR-Staatsangehörige. Kraft der sogenannten Wiedervereinigung wurden Letztere 1990 mehrheitlich als gute bürgerliche Demokraten deklariert. Waren sie damit nun eher „rechts“ oder „links“?
Dass sich das kaum entscheiden lassen dürfte, zeigen auch sozialwissenschaftliche Untersuchungen. Sie weisen regelmäßig nach: Als „rechts“ geltende Positionen wie Fremdenfeindlichkeit werden hierzulande bis heute – in unterschiedlicher Intensität – von Wählern sämtlicher Parteien bejaht. Und das, während sie zumeist gleichzeitig demokratische, teils auch „linke“ Positionen vertreten. Die wichtigsten Bruchlinien verlaufen hier nicht zwischen den Parteien, sondern innerhalb der einzelnen Individuen. Die meisten Deutschen sind fremdenfeindliche Demokraten.

Nicht einmal über die Definition, geschweige denn über die Ursachen des als extrem „rechts“ geltenden Phänomens Faschismus können sich Fachleute einigen, auch nicht darüber, ob und wie der deutsche Nationalsozialismus davon abzugrenzen sei. Natürlich gibt es Antworten darauf – jedoch ganz verschiedene. Eine schon im Jahr 2000 erschienene Bibliographie zum Nationalsozialismus listet 37.000 Schriften auf.
Diese Uneinigkeit wird dadurch begünstigt, dass Faschismus sich ja von Faszie = Faser oder Rute ableitet bzw. von Fascio, was für Rutenbündel, Bund oder Bündnis steht – erneut also Worte, die a priori keinen politischen Inhalt haben.

All das heißt nicht, politische Differenzierungen seien unnötig. Im Gegenteil: Um realitätsgerechte Differenzierungen vorzunehmen, brauchen wir Begriffe, die mit möglichst klaren, objektivierbaren, wissenschaftlich erforschbaren Inhalten verbunden sind. Das ist bei „rechts“ und „links“ nicht gegeben.
Deshalb besteht auch das Risiko, sich in politischen Debatten endlos um die Ohren zu hauen „Du bist rechts!“ oder, ersatzweise, „Du bist nicht richtig links!“ – endlos deshalb, weil jeder etwas anderes damit meinen kann. Nehmen wir als Kriterium zur Abgrenzung noch hinzu, inwieweit jemand „marxistisch“ argumentiert, wird es noch unüberschaubarer. Denn dann müssten wir zunächst klären, was von all den Marxismen der angeblich Richtige sei. Und natürlich auch: was am Marxismus richtig ist.

Was wäre eine denkbare Alternative zum „links-rechts“-Schema?

Sowohl der schon erwähnte Wilhelm Reich als auch sein Berufskollege Erich Fromm schlugen zur politischen Orientierung die Einteilung vor in lebensbejahend und lebensfeindlich.
In die Kategorie lebensfeindlich fallen bei dieser Betrachtungsweise nicht nur die Faschismen des 20. Jahrhunderts, sondern zum Beispiel auch die Hexenverfolgung des 16. und 17. Jahrhunderts oder die Ausrottung amerikanischer Ureinwohner durch europäische Invasoren.
Alles, was an „linkem“ aber auch an humanistischem Denken und Handeln tatsächlich wertvoll ist, sollte sich dagegen, meine ich, in die Rubrik lebensbejahend einordnen lassen. Doch dazu zählt eben ganz sicher nicht der Stalinsche Terror.
Mit dieser Einteilung im Kopf lässt sich auch über das NS-System sagen: Egal ob es sich als „sozialistisch“ bezeichnete oder ob es anfangs antikapitalistische Aspekte hatte – es war in der Gesamtheit hochgradig lebensfeindlich.
Wenn wir die Gegenüberstellung von lebensbejahend und lebensfeindlich nutzen, fallen also verlogene, pseudo-progressive Selbstdarstellungen in sich zusammen.
Das zeigt sich ebenso, wenn ich es auf die aktuelle Situation unseres Landes anwende.
Die AfD setzt mit ihrem oftmals pauschalen Diffamieren von Flüchtlingen und Migranten lebensfeindliche Schwerpunkte. Wobei sie diese Haltung weder erfunden noch gepachtet hat – und auch nicht darauf zu reduzieren ist.
Es ist jedoch nicht die AfD – zumal sie gar nicht an den Schalthebeln der Macht sitzt –, welche momentan am lebensfeindlichsten agiert. Sondern die Regierungskoalition plus CDU/ CSU. Dabei insbesondere jene ihrer Vertreter, welche die massiven Waffenlieferungen propagieren, die den Krieg in der Ukraine anheizen und die Gefahr eines uns alle vernichtenden Atomkriegs permanent erhöhen.
Etwas Lebensfeindlicheres als die Existenz der Weltbevölkerung und des ganzen irdischen Lebenssystems aufs Spiel zu setzen, lässt sich ja kaum vorstellen.

Es wäre allerdings falsch, diese Lebensfeindlichkeit ausschließlich der Regierung anzulasten. Schon 1810 formulierte der französische Philosoph Joseph de Maistre den provokanten Satz: „Jede Nation hat die Regierung, die sie verdient.“

Wilhelm Reich, Schüler, Mitstreiter, schließlich Kontrahent von Sigmund Freud, hat sich den Zusammenhängen zwischen „oben“ und „unten“ dann ausführlich gewidmet – anhand des deutschen Faschismus. Von 1930 bis `33 lebte er in Berlin und gehörte als Jude, Kommunist und Sexualforscher zu denjenigen, welche die Nationalsozialisten als ihre Hauptfeinde ansahen.
Quintessenz seiner letztlich jahrzehntelangen Forschungen war: Kinder werden geboren mit dem Potential, in einer guten Welt gute Menschen zu sein, eine gute, menschenwürdige Gesellschaft zu gestalten. Doch die schon bei ihrer Geburt einsetzende Unterdrückung, insbesondere ausgeübt durch patriarchal-autoritäre Erziehung, entfremdet sie von sich selbst, sorgt dafür, dass sich in ihnen berechtigte Wut so lange anstaut, bis sie destruktiv wird. Verschärft durch Erniedrigungen im Produktionsprozess sowie massenmediale Verblödung werden sie allmählich zu wandelnden Zeitbomben, damit auch: zu potentiellen Faschisten.

Und genau dort, erkannte Reich, wurden sie dann von Organisationen wie der NSDAP abgeholt. Für ihre angestaute Wut wurden ihnen Sündenböcke angeboten, denen sie die Schuld am eigenen defizitären Dasein zuschieben konnten: anders sprechende, denkende, aussehende, anders liebende und lebende Menschen, Juden, Russen, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle, Menschen mit anderer Hautfarbe oder mit Behinderungen und viele andere.
Zudem suchten die seit Generationen autoritär erzogenen Massen nach einer omnipotent erscheinenden Vaterersatzfigur, einem „Führer“, der ihnen Verantwortung und Selber-Denken abnehmen, sie von Schuld freisprechen, ihnen den richtigen Weg weisen könne – und der zugleich ihre neurotisch-infantilen Rache- und Größenphantasien, ihre zerstörerischen Impulse effektiv in Handlungen umsetzten sollte. Adolf Hitler war offensichtlich die perfekte Besetzung für diese Rolle.
Seine Popularität verdankte Hitler der Tatsache, dass seine Persönlichkeitsstruktur – also auch seine psychische Gestörtheit – mit den „massenindividuellen Strukturen breiter Kreise“ übereinstimmte. „Je hilfloser das Massenindividuum aufgrund seiner Erziehung“, schrieb Reich, desto stärker präge sich in ihm „die Identifizierung mit dem Führer aus“; jeder Nationalsozialist fühle sich „in seiner psychischen Abhängigkeit als ‚kleiner Hitler‘“.
Dass die nationalsozialistische „Massenorganisierung gelang“, lag darum, „an den Massen und nicht an Hitler“. Hitler war nur eine wirkungsvolle, insbesondere von deutschen, aber auch US-amerikanischen und anderen Kapitalisten im Kampf gegen den aufstrebenden Bolschewismus hochgepuschte – austauschbare! – Gallionsfigur.

Reich schlussfolgerte: Wer Faschismus langfristig verhindern wolle, der müsse nicht nur die NSDAP und Hitler bekämpfen, sondern darüber hinaus die gesamte patriarchal-autoritäre Sozialisation, die faschistische Entgleisungen erst ermöglicht, indem sie massenhaft destruktive Charakterstrukturen produziert.

Einen dauerhaften Schutz vor solchen Entgleisungen ohne psychologisch-psychoanalytisches Verständnis gesellschaftlicher Prozesse, ohne gravierende Umwälzungen nicht nur in Wirtschaft, Politik, Kultur sondern auch in Erziehung, Bildung und Sexualität hielt er nicht mehr für denkbar.

In der 1946 erschienenen, dritten Auflage seiner „Massenpsychologie des Faschismus“ zog er – nun basierend auch auf den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs – die Bilanz:

„Der Faschismus wird (…), infolge des politischen Fehldenkens, als eine spezifische Nationaleigenschaft der Deutschen oder Japaner aufgefasst. (…) Meine charakteranalytischen Erfahrungen überzeugten mich dagegen, dass es heute keinen einzigen lebenden Menschen gibt, der nicht in seiner Struktur die Elemente des faschistischen Fühlens und Denkens trüge. Demzufolge gibt es einen deutschen, italienischen, spanischen, anglosächsischen, jüdischen und arabischen Faschismus.
Man kann den faschistischen Amokläufer nicht unschädlich machen, wenn man ihn, je nach politischer Konjunktur, nur im Deutschen oder Italiener und nicht auch im Amerikaner und Chinesen sucht; wenn man ihn nicht in sich selbst aufspürt, wenn man nicht die sozialen Institutionen kennt, die ihn täglich ausbrüten.“

Es wäre eine naive und gefährliche Illusion, zu glauben, diese sozialen Institutionen hätten aufgehört, zu existieren.


 

PS: Das Folgende habe ich bei der Veranstaltung nicht zitiert. Aber es passt zur üblichen Verwendung von „links-rechts“:

Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte läßt sich trefflich glauben,
Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.

Goethe, FAUST, Teil 1.

 

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