Menschen als Marionetten? Wie Marx und Engels die reale Psyche in ihrer Lehre verdrängten. Teil 8: Von Immanuel Kant bis Kinderarbeit

von Andreas Peglau

Hergestellte Unmündigkeit

1784 veröffentlichte der 60-jährige Philosoph Immanuel Kant seinen Aufsatz Zur Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Kant beginnt mit einem Paukenschlag:

AUFKLÄRUNG ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“[1]

„Faulheit und Feigheit“ sieht Kant als tiefere Ursachen, „warum ein so großer Teil der Menschen“, darunter „das ganze schöne Geschlecht“,

„gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“[2]

Der „Schritt zur Mündigkeit“ sei „unbequem“. Dass er – zu Unrecht – gleichzeitig für gefährlich gehalten werde,

„dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht […] gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen“.[3]

Es sei daher „für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ“.[4]

Natürlich lässt sich aus heutiger Sicht manches daran kritisieren, so die Abwertung von Frauen, die Fixierung auf „Verstand“, die pauschale Beschuldigung, Unmündigkeit liege an Faulheit und Feigheit. Aber Kants Artikel enthielt etwas, was im Satz aus dem 1848er Manifest – „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse“[5] – fehlte: Aussagen über autoritäre Charakter- und Sozialstrukturen und Überlegungen, wie sich diese herstellen und abschütteln lassen. Den herbeisozialisierten inneren Widerstand gegen eigenständiges Denken und Handeln[6] einbeziehend, hätten Marx und Engels weniger optimistische, dafür realistischere Vorhersagen abgeben können.[7]
Ulrich Pagel, Mitherausgeber der rekonstruierten Deutschen Ideologie, verweist darauf, dass die „klassischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts“ – zu denen Kant zählte – die Überzeugung teilten, herrschende Machtverhältnisse seien die „Folge von unter Annahme ihrer vermeintlichen Notwendigkeit eingegangenen Beziehungen“, auf die man sich also „letztlich freiwillig“ einlasse.

Diese Sichtweise, so Pagel, sei ebenfalls kennzeichnend gewesen für Max Stirner.[8]

Anerzogene Unterwürfigkeit

Der ja als Lehrer tätige Stirner erfasste konkreter als Kant, wie schon in der Kindheit jene psychische Deformation einsetzt, die sich Erziehung nennt. 1842 hieß es in einem seiner Zeitungsartikel:[9]

„Wie in gewissen anderen Sphären, so läßt man auch in der pädagogischen die Freiheit nicht zum Durchbruch, die Kraft der Opposition nicht zu Worte kommen: man will Unterwürfigkeit. Nur ein formelles und materielles Abrichten wird bezweckt […]. Unser guter Fonds von Ungezogenheit wird gewaltsam erstickt und mit ihm die Entwicklung des Wissens zum freien Willen. […] Wie wir uns in der Kindheit in alles zu finden gewöhnten, was uns aufgegeben wurde, so finden und schicken wir uns später ins positive Leben, schicken uns in die Zeit, werden ihre Knechte und sogenannte gute Bürger. Wo wird denn an Stelle der bisher genährten Unterwürfigkeit ein Oppositionsgeist gestärkt, […] wo gilt der freie Mensch als Ziel, und nicht der bloß gebildete?“

In Der Einzige und sein Eigentum, jenem Buch Stirners, an dem sich Marx und Engels 1845/46 abarbeiten, hieß es dann zur „Wirksamkeit pfäffischer Geister“: deren „moralischer Einfluss“ beginne, „wo die Demütigung beginnt, ja er ist nichts anderes, als diese Demütigung selbst“. Der Mensch solle auf diese Weise dazu gebracht werden, sich zu

„beugen […], soll folgsam sein, […] seinen Willen aufgeben gegen einen fremden, der als Regel und Gesetz aufgestellt wird; er soll sich erniedrigen vor einem Höheren: Selbsterniedrigung. […] Ja, ja, die Kinder müssen bei Zeiten zur Frömmigkeit, Gottseligkeit und Ehrbarkeit angehalten werden; ein Mensch von guter Erziehung ist Einer, dem ‚gute Grundsätze‘ beigebracht und eingeprägt, eingetrichtert, eingebläut und eingepredigt worden sind“.[10]

Und dies nicht etwa nur von Lehrern und Pfaffen, sondern beginnend in der Familie. Stirner berichtet, wie aus der vom Kind gefürchteten „Strafrute“ und „strengen Miene des Vaters“ letztlich jene Gewissensinstanz wird, die den Erwachsenen ein Leben lang quält.[11] Sigmund Freud wird das später im Begriff „Über-Ich“ fassen. Was autoritäre Erziehung als Alternative übriglässt, bringt Stirner so auf den Punkt: „der Stock überwindet entweder den Menschen oder der Mensch überwindet den Stock“.[12]

Ulrich Pagel würdigt daher ganz zu Recht „das Aufdecken von Herrschaftsverhältnissen als Machtbeziehungen, die ihren Bestand und ihre Rigidität unbewussten und stets aufs Neue vollzogenen Akten der Unterwerfung“ seitens der Untertanen verdanken, als „[f]undamentale[n] Bestandteil“ von Stirners Wirken: Dieser sah „nicht nur das Ent-, sondern auch das fortwährende Bestehen der kritikwürdigenden Verhältnisse“ als „Konsequenz des Handels konkreter menschlicher Individuen“.[13]

Als Ausweg aus der Unterwerfung hatte Stirner schon 1842 das „Offenbaren“ und „Auffinden seiner selbst“, die „Entledigung von aller Autorität“ benannt.[14] Der Einzige und sein Eigentum liest sich wie ein individualistischer, sozialökonomische Fragen nur streifender Fahrplan für den Weg dorthin. Stirner bedurfte deshalb, meine ich, durchaus der Ergänzung um diesbezügliche Erkenntnisse von Marx und Engels. Aber das galt ebenso umgekehrt: Marx und Engels wären gut beraten gewesen, Stirners Ansätze für ein psychologisches Verständnis sozialer Prozesse zu nutzen.

Doch wie die psychische Struktur von Menschen außerhalb und vor der Produktionssphäre, insbesondere in der Kindheit, geprägt wurde, war ja für Marx und Engels allenfalls von marginalem Interesse. Gekoppelt an die Überbewertung von „Arbeit“ und ihren Fortschrittsglauben, führte das bei Marx zu Schlüssen, die ich als inhuman empfinde.

Kinderarbeit

1866 verfasste Marx „Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats“ der Internationalen Arbeiterassoziation. Dort hieß es:

„Wir betrachten die Tendenz der modernen Industrie, Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts zur Mitwirkung an dem großen Werk der gesellschaftlichen Produktion heranzuziehen, als eine fortschrittliche, gesunde und berechtigte Tendenz, obgleich die Art und Weise, auf welche diese Tendenz unter der Kapitalherrschaft verwirklicht wird, eine abscheuliche ist.“[15]

Also: Kinderarbeit beibehalten, weil im Prinzip fortschrittlich. Daher sei sie selbst im Sozialismus weiter vonnöten:

„In einem rationellen Zustand der Gesellschaft sollte jedes Kind vom 9. Jahr[16] an ein produktiver Arbeiter werden, ebenso wie kein arbeitsfähiger Erwachsener von dem allgemeinen Naturgesetz ausgenommen sein sollte, nämlich zu arbeiten, um essen zu können, und zu arbeiten nicht bloß mit dem Hirn, sondern auch mit den Händen.[17] […]
Aus physischen Gründen halten wir es für notwendig, dass die Kinder und jungen Personen beiderlei Geschlechts in drei Gruppen eingeteilt werden, die unterschiedlich behandelt werden müssen. Die erste Gruppe soll das Alter von 9 bis 12 Jahren umfassen, die zweite das von 13 bis 15 Jahren und die dritte das von 16 und 17 Jahren. Wir schla-gen vor, dass die Beschäftigung der ersten Gruppe in irgendeiner Werkstatt oder mit häuslicher Arbeit gesetzlich auf zwei Stunden beschränkt wird, die der zweiten auf vier und die der dritten auf sechs Stunden. Für die dritte Gruppe muss eine Unterbrechung von wenigstens einer Stunde für Mahlzeiten oder Erholung gegeben werden.“[18]

Marx scheint das Propagieren dieser Vision als Umsetzung seiner in den „Instruktionen“ erhobenen Forderung angesehen zu haben: „Das Recht der Kinder und Jugendlichen muß geschützt werden. Sie sind nicht imstande, für sich selbst zu handeln. Es ist deshalb die Pflicht der Gesellschaft, für sie einzutreten.“[19] In diesem Sinne verlangte er auch, Kinderarbeit nachts und in gesundheitsschädigenden Gewerben zu verbieten und sie mit einem „Elementarunterricht“ zu kombinieren: Es dürfe „weder Eltern noch Unternehmern gestattet werden […], die Arbeit von jungen Personen anzuwenden, es sei denn, sie ist mit Erziehung verbunden“. Darunter sei zu verstehen: „Geistige Erziehung. […] Körperliche Erziehung, wie sie in den gymnastischen Schulen und durch militärische Übungen [!] gegeben wird. […] Polytechnische Ausbildung, die die allgemeinen Prinzipien aller Produktionsprozesse vermittelt.“[20]

Ein Jahr später, 1867, ließ sich dann im Kapital nachlesen, der „Keim der Erziehung der Zukunft, welche für alle Kinder über einem gewissen Alter produktive Arbeit mit Unterricht und Gymnastik verbinden wird,“ sei „nicht nur […] eine Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern […] die einzige Methode zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen“.[21] Auch Menschen sollten also wieder einmal „produziert“ werden: Marx kam nicht los vom Ökonomisieren.

1875 hielt er noch immer ein „Allgemeines Verbot der Kinderarbeit“ für

„unverträglich mit der Existenz der großen Industrie und daher leerer frommer Wunsch. Durchführung desselben – wenn möglich – wäre reaktionär [!], da, bei strenger Regelung der Arbeitszeit nach den verschiednen Altersstufen und sonstigen Vorsichtsmaßregeln zum Schutz der Kinder, frühzeitige Verbindung produktiver Arbeit mit Unterricht eines der mächtigsten Umwandlungsmittel der heutigen Gesellschaft ist“.[22]

Wie Marx wusste und mehrfach dokumentiert hatte, kostete jeder Monat Kinderarbeit tausende Kinder Gesundheit oder Leben. Die sozialistische Umwandlung der Gesellschaft durch Kinderarbeit – vermeintlich – zu befördern, erschien ihm dennoch wichtiger. Die „große Industrie“ sollte später zeigen, dass deren von Marx behauptete Abhängigkeit nicht zutraf: Die europäische Wirtschaft kam seit dem 20. Jahrhundert zunehmend ohne Kinderarbeit aus.

Dass es Kinderarbeit gab, erleichterte Marx vermutlich, seine These durchzuhalten, Menschen würden erst durch Arbeit geformt. Doch auch Mitte des 19. Jahrhunderts verbrachten Kinder ihre früheste Lebensphase zumeist zuhause; ihr „gesellschaftliches Sein“ war zunächst ein familiäres. Kinderarbeit setzte mit späterem Alter ein, bei Bürgerkindern gar nicht.[23]

Obwohl Eltern und Erzieher üblicherweise gesellschaftliche, nicht zuletzt autoritäre Normen und Werte vermittelten, galten zudem weder in Familien noch in Schule, Studium und den im 19. Jahrhundert aufkommenden Kindergärten exakt dieselben Regeln wie in Betrieben.

Spezifisch für die Erziehung von Kindern ist darüber hinaus, dass sie auf existenziell komplett abhängige, seelisch „formbare“ Wesen einwirkt. Dadurch werden deren psychische Strukturen nachhaltig geprägt: vor jedem Direktkontakt mit der Produktion. Auch individuelle „Menschwerdung“ begann schon immer weit vor „Arbeit“.

Das zu berücksichtigen, wäre für das Abschätzen möglicher Bewusstseinsveränderungen innerhalb des Proletariats höchst bedeutsam gewesen. Denn deren anerzogene psychische Strukturen beeinflussten wiederum ihren Umgang mit „Arbeit“.

Je intensiver sie bereits in der Kindheit auf Unterordnung abgerichtet wurden, desto williger dürften sie sich künftig durch Chefs (und Politiker) drangsalieren lassen. Und: Desto schwerer musste es ihnen fallen, sich dagegen aufzulehnen.
Wer also wollte, dass sich Menschen wehren gegen unzumutbare Lebensumstände, hätte – wie es Stirner vordachte –, bereits in der Kindheit ansetzen müssen und nicht erst bei der Schulung von Proletariern.[24]

*

Weiterlesen in Teil 9: Vulgärpsychologie, halbherzige Abschwächungen und Bilanz

Quellenverzeichnis.

Download des gesamten Textes als pdf.

 

Anmerkungen

[1] Kant 2004, S. 5.

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Marx/ Engels 1972b, S. 480.

[6] Fromm (1989a) nannte es dann „Furcht vor der Freiheit“.

[7] Zu inhaltlichem Gewinn, den Marx und Engels aus der Lektüre von Kant ziehen konnten: Schmidt 1903; Vorländer 2011.

[8] Pagel 2020, S. 386.

[9] Stirner 2023, S. 45f.

[10] Stirner 2016, S. 90f.

[11] Ebd., S. 19f.

[12] Ebd., S. 19.

[13] Pagel 2020, S. 386, 388.

[14] Stirner 2023, S. 43f.

[15] Marx 1962a, S. 193.

[16] 1819 war in England für die weit verbreitete Textilindustrie das erste „Arbeiterschutzgesetz“ erlassen worden. Es enthielt ein Beschäftigungsverbot für Kinder unter 9 Jahren. Marx hielt sich also in diesem Falle an die gesetzlichen Vorgaben. Allerdings wurde die Einhaltung dieses Gesetzes zunächst kaum kontrolliert (Schultz 1948, S. 27f.). In den 1830er Jahren folgten weitere Regelungen in England und Preußen, die Kinderarbeit einschränken sollten (vgl. Bönig 2012).

[17] Auch dieses „allgemeine Naturgesetz“, von dem man erstaunlicherweise „ausgenommen sein“ konnte, existiert nicht. Wie schon zitiert, schrieb Marx (1983b, S. 384) von der „Wanderung“ als „erste Form der Existenzweise“ bei der „der Stamm […] abweidet, was er vorfindet“. Für sich selbst scheint der Kopfarbeiter Marx dieses Naturgesetz ohnehin nicht als geltend empfunden zu haben.

[18] Marx 1962a, S. 193f.

[19] Ebd., S. 194.

[20] Ebd., S. 194f.

[21] Marx 2021, S. 508.

[22] Marx 1973a, S. 32.

[23] Vgl. Budde 1994. Im Kommunistischen Manifest hieß es 1848: „Die bürgerlichen Redensarten über Familie und Erziehung, über das traute Verhältnis von Eltern und Kindern werden um so ekelhafter, je mehr infolge der großen Industrie alle Familienbande für die Proletarier zerrissen und die Kinder in einfache Handelsartikel und Arbeitsinstrumente verwandelt werden“ (Marx/ Engels 1972b, S. 478). Für Babys und Kleinkinder war diese „Verwendung“ aber unmöglich, für Bürgerkinder traf sie auch später nicht gleichermaßen zu.

[24] Inzwischen ist bekannt, dass Prägungen bereits im Mutterleib beginnen, wo Wirkungen des gesellschaftlichen Seins ja erst recht nur sehr indirekt ankommen (Janus 1993; Peglau/ Janus 1994; Hüther/ Krens 2010). Zu Prägungen während Schwangerschaft, Geburt und Kindheit: Reich 2018; Peglau 2019a; Neill 1992 sowie https://www.summerhillschool.co.uk/.