Verbrannte Psychoanalyse: pauschaler Bannspruch, vier direkt betroffene Autoren (Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Teil 2)

von Andreas Peglau

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10. Mai 1933, Berlin

Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten mehrten sich die Zeichen für eine zu erwartende Bedrohung der Psychoanalyse in Deutschland. Das in dieser Hinsicht dramatischte Ereignis fand Anfang Mai in Berlin statt.

Mehr oder weniger spontane Bücherverbrennungen, meist als Begleiterscheinung von SA- und SS-Terror, gab es bereits ab März 1933. Bis zum Oktober des Jahres lassen sich bislang mehr als 100 Verbrennungsakte in 85 deutschen Städten nachweisen (Treß 2011, S. 40f.). Die meisten davon wurden von der Hitlerjugend organisiert und richteten sich gegen missliebige Bestände von Schulbibliotheken (Treß 2008a, S. 14ff., 2008b, S. 52–58). Aber auch der von Alfred Rosenberg geleitete Kampfbund für deutsche Kultur, der Deutsche Handlungsgehilfenverband, die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation sowie Ortsgruppen der NSDAP traten als Träger der Vernichtungsaktionen in Erscheinung (Treß 2008a, S. 24). Ab April 1933 beteiligten sich nationalsozialistische Studenten ebenfalls mit einem Diffamierungs- und Zerstörungskonzept: der Aktion »Wider den undeutschen Geist!«. Die eng mit der SA verflochtene Deutsche Studentenschaft (DSt) wollte damit offenbar auch die eigene Bedeutsamkeit spektakulär demonstrieren (Treß 2008a, S. 53, 2003, S. 61ff.). Als Termin für Hauptakt und Höhepunkt der auf vier Wochen angelegten Kampagne benannte die DSt-Leitung den 10. Mai 1933, als Ort Berlin.

Bevor hier an jenem Abend die zentrale Aktion der Bücherverbrennung begann, hielt Alfred Baeumler in der Berliner Universität seine Antrittsvorlesung als neu berufener Ordinarius für Politische Pädagogik (Treß 2003, S. 117). Die Sätze, die er den Studenten am Ende mit auf den Weg gab, dürften sich auch auf Sigmund Freud bezogen haben:[1]

»Sie ziehen jetzt hinaus, um Bücher zu verbrennen, in denen ein uns fremder Geist sich des deutschen Wortes bedient hat, um uns zu bekämpfen […]. Was wir heute von uns abtun, sind Giftstoffe, die sich in der Zeit einer falschen Duldung angesammelt haben. Es ist unsere Aufgabe, den deutschen Geist in uns so mächtig werden zu lassen, dass sich solche Stoffe nicht mehr ansammeln können« (ebd., S. 118).

Bald darauf versammelten sich tausende Schaulustige, Professoren in Talaren, NS-Studenten sowie Abordnungen von SA, SS, Burschenschaften und Hitlerjugend auf dem durch Scheinwerfer hell erleuchteten Berliner Opernplatz, umrahmt von den Gebäuden der Berliner Universität, der Königlichen Bibliothek, der Hedwigskirche und der Berliner Oper.

Der heutige August-Bebel-, frühere Opernplatz, Ort der Berliner Bücherverbrennung. (Foto: Gudrun Peters 2007)

Der heutige (August-)Bebel-, frühere Opernplatz, Ort der Berliner Bücherverbrennung. (Foto: Gudrun Peters 2007)

Feuersprüche

Vor dieser ebenso geschichts- wie kulturträchtigen Kulisse begann gegen 23:30 Uhr der Hauptakt, und die »Feuersprüche« wurden deklamiert. Diese waren am Vortag von der DSt-Leitung per Rundschreiben vorgegeben worden.

Alle Sprüche waren zweigeteilt. In der ersten Zeile erfuhr man, wogegen sich der Spruch richtete: »Klassenkampf«, »Verrat«, »Gesinnungslumperei« usw. In dem der Psychoanalyse gewidmeten Spruch Nummer vier hieß es: »Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des
Trieblebens«. Schon das Wort »seelenzerfasernd« – eine in gewisser Weise treffende, wenn auch abwertende Übersetzung von »psychoanalytisch« – erforderte eine Einsicht, die bei zumal politisch »rechts«-orientierten Studenten nicht unbedingt vorausgesetzt werden konnte. Sieht man sich die Sprüche, in denen ganz verschiedene Gebiete sowie 15 teils wenig bekannte Journalisten, Wissenschaftler, Schriftsteller und Verleger aufgeführt wurden, insgesamt an, verstärkt sich der Eindruck: Für diese Formulierungen waren Kenntnisse nötig, die das normale Maß (NS‑)studentischer Allgemeinbildung überschritten haben dürften.
Die zweite Zeile ergänzte jeweils, wofür man stattdessen zu sein hatte. Das wies durchweg »nationale« Bezüge auf – »Volksgemeinschaft«, »deutscher Volksgeist« und Ähnliches wurden benannt –, mit Ausnahme von Spruch vier.
Denn hier lautete die zweite Zeile: »Für den Adel der menschlichen Seele«. Im Gegensatz zu den anderen Feinden wurde also die Psychoanalyse als ein globales Risiko bewertet: nämlich als Risiko für die menschliche Seele an sich. Ihre Erkenntnisse, so scheint man hier gewusst zu haben, machten nicht an (deutschen) Länder- oder Sprachgrenzen halt; das »Zersetzungs«-Potenzial der Analyse bedrohte grundlegende – patriarchale, autoritäre, gefühlsunterdrückende – Normen, auf denen auch der Nationalsozialismus beruhte.
Hinter der Einschätzung der Psychoanalyse als Risiko könnte sich tatsächlich eine indirekte Anerkennung ihrer aufklärerischen und therapeutischen Möglichkeiten verbergen. Denn dass ausgerechnet die für die Bücherverbrennung federführenden Nationalsozialisten menschlichen Seelenadel eingeklagten, lässt sich vielleicht so verstehen: Die destruktiven Persönlichkeitsstrukturen derer, die sich in Gestalt des Dritten Reiches, des italienischen Faschismus und ähnlicher Regimes einen für sie passenden sozialen Rahmen schufen, sollten nicht durch analytische Erkenntnisse demaskiert – oder gar geheilt – werden.

Acht der neun Sprüche bezogen sich auf bestimmte Personen, deren Werke verbrannt werden sollten: von »Marx, Kautsky« (Spruch eins) über Heinrich Mann, Erich Kästner und andere bis »Tucholsky, Ossietzky« (Spruch neun). Begleitet von Spruch vier war jedoch laut DSt-Rundschreiben ins Feuer zu werfen: »Freudsche Schule, Zeitschrift Imago«.
Das hieß: Hier wurde ausnahmsweise kein einzelner Autor zum symbolischen Feuertod verurteilt. Anvisiert war vielmehr die gesamte, von Freud geprägte Wissenschafts- und Therapierichtung einschließlich ihrer Publikationen – Bücher ebenso wie Zeitschriften. Das ist umso bemerkenswerter, als ja zumindest auch Marx und Kautsky »Schulen« und Organisationen hinter sich hatten: die marxistische bzw. sozialistische Bewegung. Doch unterblieb hier eine entsprechende Ausweitung beim Benennen zu vernichtender Schriften. Sollte etwa vermieden werden, die eher sozialistisch orientierten Anhänger in den eigenen Reihen zu frustrieren? Das könnte auf »Feuerspruch«-Autoren hindeuten, die nicht nur über ein hohes Maß an politischem Bewusstsein im Sinne des NS-Staates verfügten, sondern vielleicht auch selbst zum »linken« NSDAP-Flügel gehörten.
Dass gerade die Zeitschrift Imago ausgewählt worden war, belegt nun mit Sicherheit eine gewisse Kompetenz in Sachen Analyse: Da diese Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geistes- und Naturwissenschaften das weiteste Themenspektrum unter den analytischen Periodika hatte, ließ sich hier auch die größte öffentliche Wirkung über die Ärzteschaft hinaus vermuten.
Ich gehe davon aus, dass ein bloßes namentliches Verfluchen Sigmund Freuds auch deswegen für nicht genügend erachtet wurde, weil es Wilhelm Reich ausgeschlossen hätte – der aber unter Nationalsozialisten offenkundig verhassster war als Freud. Reich war inzwischen zum – nach Freud – erfolgreichsten analytischen Autor im deutschen Sprachraum geworden (Peglau 2017, S. 92f.). Noch 1935 sollte das Geheime Staatspolizeiamt dem Auswärtigen Amt mitteilen, Reich habe „vor der nationalsozialistischen Revolution im Kampf für den Kommunismus Deutschland mit einer Menge von Schmutzliteratur überschwemmt“ (AAA R 99578). Der DPG-Vorsitzende Felix Boehm berichtete, im Frühjahr 1933 seien „in öffentlichen Anlagen und Straßen Zehntausende von Zetteln verteilt und angeklebt worden […] mit dem Inhalt: ‚Schützt unsere Jugend vor der Reichschen Kulturschande!’“ (Schröter 2005, S. 162). Und alsbald richteten sich gegen Reichs Schriften mehr NS-Maßnahmen als gegen die seiner sämtlichen Kollegen, inklusive Sigmund Freud.

Wie sich heute noch anhand eines erhalten gebliebenen Tondokuments[2] nachvollziehen lässt, hieß es dann am 10.5.1933 an vierter Stelle bei den „Feuersprüchen“:

»Gegen seelenzersetzende Überschätzung des Trieblebens!
Für den Adel des menschlichen … der menschlichen Seele!
Ich übergebe dem Feuer die Schriften der Schule Sigmund Freuds!«[3]

An diesem Abend in Berlin kam es also, wie geplant, zur deutschlandweit per Rundfunk[4] ausgestrahlten Verdammung der gesamten Psychoanalyse. Ein Faktum, das in der mir bekannten Literatur in der Regel gar nicht auftaucht, da der Berliner Psychoanalysespruch – wenn er denn eigens erwähnt wird – meist so kolportiert wird: »Ich übergebe dem Feuer die Schriften des Sigmund Freud!«[5]

Verbrannte Psychoanalyse. Die 1983 auf dem Bebelplatz eingeweihte Gedenktafel (Foto A. Peglau 2016) fle

Die 1983 auf dem Bebelplatz eingeweihte Gedenktafel (Foto A. Peglau 2015)

Nicht nur verbrannte Bücher

Allein in Berlin brannten am 10. Mai 1933 ca. 20.000 Bücher.

Zeitgleich fanden mindestens 21 weitere Verbrennungen in anderen Städten statt, darunter Bonn, Dresden, Göttingen, Hannover, Frankfurt am Main und München, später unter anderem Hamburg, Heidelberg und Köln (Treß 2003, S. 116–208). Dass psychoanalytische Schriften noch nach dem Mai 1933 betroffen waren, belegt ein  Flugblatt, das im nahe Karlsruhe gelegenen Bretten verteilt wurde. Auch dort wurde im Juni 1933 durch die Hitlerjugend eine »Kampfwoche gegen Schmutz  und Schund« durchgeführt. Auf der dafür vorgegebenen Liste einzusammelnder Bücher war in der Rubrik »Politische und wissenschaftliche Werke« unter anderem Sigmund Freud aufgeführt (dokumentiert in Wild 2003, S. 185).

Die Anzahl der 1933 insgesamt vernichteten Bücher ist kaum abzuschätzen. Am 20.5.1933 informierte die Berliner Polizei die Presse darüber, dass sie »etwa 10000 Zentner Bücher und Zeitschriften« beschlagnahmt habe. Das dürfte, so der Historiker Werner Treß, »etwa einer Million Bände entsprechen« (Treß 2008b, S. 126f.).

Die Frage, welche Bücher vernichtet wurden, wird sich ebenfalls niemals exakt beantworten lassen, da die auf den »Schwarzen Listen« erfassten Titel nur den Kernbestand der verbrannten Bücher bildeten. Nicht nur wurde auf manch zusätzlichen »Index« zurückgegriffen (Treß 2003, S. 104f.). Von den Handelnden wurde auch Kreativität verlangt. Dass einzelne konkrete Bücher als besonders vernichtungswürdig vorgegeben würden, schließe nicht aus, hieß es dazu suggestiv im DSt-Rundschreiben vom 9.5.1933, »daß trotzdem ein großer Haufen Bücher verbrannt wird. Die örtlichen Veranstalter haben dabei jegliche Freiheit« (ebd.).

In der öffentlichen Wahrnehmung scheint von diesen Geschehnissen vor allem angekommen oder letztlich in Erinnerung geblieben zu sein, dass Belletristik verbrannt wurde. Aber bereits die »Feuersprüche« waren mitnichten auf schöngeistige Schriftsteller beschränkt: Publizisten sowie politische und wissenschaftliche Autoren spielten hier eine mindestens ebenso große Rolle. Insgesamt wurden namentlich benannt:

Karl Marx, Karl Kautsky, Heinrich Mann, Ernst Glaeser, Erich Kästner, Friedrich Wilhelm Foerster, Sigmund Freud, Emil Ludwig, Werner Hegemann, Theodor Wolff, Georg Bernhard, Erich Maria Remarque, Alfred Kerr, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky.

Und selbst die Bezeichnung »Bücherverbrennung« ist irreführend, weil viel zu eng. Schon im vorbereitenden Schreiben der DSt wurde von »Büchern und Schriften« gesprochen (Treß 2009, S. 43). Die Imago ist dann nur ein Beispiel dafür, dass man auch andere Druckerzeugnisse – wie »Programmschriften und Periodika« – im Auge hatte (ebd., S. 630). Auch an Schallplatten und andere Tonträger sowie Notensätze war von einigen Akteuren gedacht worden (Treß 2008b, S. 79).[6]

Bei anderen Verbrennungsaktionen landeten zusätzlich Wahltransparente und Fahnen im Feuer, auch eine »Puppe in Uniform der roten Frontkämpfer« als, wie die Weser-Zeitung schrieb, »symbolische Figur des Bolschewismus, des dem Tode geweihten Lebenszerstörers« (zitiert in Rohdenburg 2008, S. 181). In Berlin warfen zwei Turnstudenten nach einem »choreographisch einstudierten Anlauf« eine Büste von Magnus Hirschfeld in die Flammen (Treß 2008b, S. 121).

Es ging also um weit mehr als um Bücher. Das brachte Walter Schlevogt, Führer der Bonner Studentenschaft, auf den Punkt: Ziel sei »die Ausrottung aller undeutschen Geistesproduktion« (Bodsch 2008, S. 152). Auch Goebbels beschwor am Scheiterhaufen des 10. Mai die Notwendigkeit, »den Ungeist der Vergangenheit den Flammen anzuvertrauen« (Treß 2003, S. 127). In einem geradezu magischen Ritual sollten, so scheint es, mit den Materialisierungen oder Symbolen dieser Ideen auch die Ideen selbst zum Verschwinden gebracht, deren Wirken, psychoanalytisch gesprochen, »ungeschehen gemacht« werden.

Welche Psychoanalytiker waren betroffen?

Angesichts des umfassenden Vernichtungsanspruchs, den die DSt bezüglich der Psychoanalyse formuliert hatte – »Ich übergebe dem Feuer die Schriften der Schule Sigmund Freuds!« –, müssten, sollte man meinen, etliche analytische Autoren betroffen gewesen sein, als im Mai 1933 die Bücher brannten. Wenn Jack Rubins (1983, S. 178) – ohne Beleg – behauptet, dass am 10. Mai tausende Bücher, »einschließlich der meisten psychoanalytischen Werke«, verbrannt wurden, entbehrt das jedoch jeder Grundlage. Die Wahrscheinlichkeit ist zwar hoch, dass einzelne analytische Werke an mehreren Stellen, insbesondere bei der Plünderung des sexualwissenschaftlichen Instituts von Magnus Hirschfeld mit eingesammelt und verbrannt wurden.[7]

Dafür, dass tatsächlich die »meisten psychoanalytischen Werke« am 10. Mai 1933 betroffen waren, gibt es jedoch keine Hinweise – obwohl im Vorfeld durchaus die Möglichkeit bestand, dieser Schriften in größerem Umfang habhaft zu werden. Man hätte nur, analog zum sexualwissenschaftlichen Institut, das Berliner Psychoanalytische Institut plündern müssen. Offenbar hatten die Akteure daran aber kein Interesse. Das deutet neben anderem darauf hin, dass Freud nicht gleichermaßen verhasst war wie Hirschfeld.[8]

Nach den vorliegenden Angaben befanden sich unter den etwa 400 betroffenen Autoren – darunter Einstein, Fallada, Feuchtwanger, Gorki, Heinrich Heine, Hemingway, Kästner, Kafka, Jack London, Upton Sinclair, B. Traven und Tucholsky aber auch Josef Stalin – nur vier Psychoanalytiker:[9] Sigmund Freud, Anna Freud, Wilhelm Reich und Siegfried Bernfeld.

Die Einbeziehung Sigmund Freuds in das Berliner Ritual vom 10. Mai 1933 ist durch das Tonband-Dokument belegt. Auf allen mir bekannten Listen verbrannter Autoren tauchen neben Freud auch Reich und Bernfeld auf. Meist, aber nicht immer, wird auch Anna Freud genannt.[10]

Wurden sie gezielt ausgewählt? Wenn ja – warum gerade sie? Und: Warum nur sie?

Die Antwort könnte sein: Im Ritual der Verbrennungen genügte es, die wichtigsten Repräsentanten dessen zu vernichten, was Nationalsozialisten 1933 an der Psychoanalyse am meisten fürchteten und hassten. Die beiden Freuds, Bernfeld und Reich konnten durchaus als solche Repräsentanten gelten.
Auch die vier Personen, die als maßgebliche Initiatoren für die Formulierung der „Feuersprüche“ in Frage kommen, lassen sich identifizieren.[11]

Reichs möglicherweise verbrannte Bücher

Die Deutsche Studentenschaft knüpfte bei ihrem Bücherpogrom an der deutschen „Schund- und Schmutz“-Gesetzgebung an (Barbian 1993, S. 135) – damit an einem Index, auf dem sich seit 1930 auch Wilhelm Reich mit Sexualerregung und Sexualbefriedigung befand (Peglau 2017, S. 78-84). Am 10.5.1933 kann also auch diese Schrift gebrannt haben. Zusätzlich kommen insbesondere die im Völkischen Beobachter am 2.3.1933 angeführte Schrift Reichs Der sexuelle Kampf der Jugend und das 1932 von Richard Ungewitter im Handbuch der Judenfrage (ebd., S. 178f.) geschmähte Buch Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral infrage.
Die anderen Bücher, die Reich bis zu diesem Zeitpunkt verfasst hatte – Der triebhafte Charakter, Die Funktion des Orgasmus und Der Einbruch der Sexualmoral – zielten eher auf ein Fachpublikum. Aber auch der Buchbestand von Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft wurde ja der Verbrennung zugeführt. Und ich halte es für wahrscheinlich, dass sich hier schon aufgrund seiner Kooperation mit dem Arzt und Sexualreformer Max Hodann auch Bücher von Reich befunden hatten. Es ist zudem möglich, dass die Charakteranalyse verbrannt wurde. Das Buch wurde bald nach Reichs Ankunft in Kopenhagen am 1.5.1933 in Wien veröffentlicht (Reich 1995, S. 206) und dürfte zeitnah in Deutschland ausgeliefert worden sein.
Da die Bücherverbrennungen zumindest noch bis zum Oktober 1933 anhielten, ist auch nicht auszuschließen, dass jenes Buch Reichs auf einen NS-Scheiterhaufen gelangte, das ohnehin den deutschen Machthabern am meisten verhasst gewesen sein dürfte: die Massenpsychologie des Faschismus. Die Schrift erschien im August oder September 1933 im skandinavischen Exil und wurde nach Deutschland geschmuggelt (Reich 1986, S. 17).

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Stark gekürzter sowie veränderter Auszug aus Andreas Peglau: „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“, 3. und erweiterte Auflage 2017, Gießen: Psychosozial. Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus

Dessen KOMPLETTES Quellen- und Literaturverzeichnis findet sich hier: Quellen und Literatur Peglau Unpolitische Wissenschaft, Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Psychosozial-Verlag-Gießen 2017

 

Anmerkungen

[1] 1927/28 hatte sich Baeumler, nach persönlicher Auskunft seiner Witwe, Marianne Baeumler,  in seinen Ethikvorlesungen an der TH Dresden mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt und dabei durchaus Positives vermerkt. Das könnte in der folgenden Zeit gerade deshalb in generelle Ablehnung umgeschlagen sein, weil Thomas Mann sich überaus deutlich zu Freud bekannte. Zwischen Baeumler und Mann hatte Anfang der 1920er Jahre eine gewisse geistige Nähe und wohl auch Sympathie bestanden, die aber seit 1926 durch philosophische und politische Differenzen in Ablehnung umgeschlagen waren. Baeumler, der über sich schreibt: »Von früh an hatte ich eine Abneigung gegen psychologische Erklärungen«, sah vor allem in Manns Annäherung an Freud bzw. seinen daraus abgeleiteten »Psychologismus« die Ursache für ihr Zerwürfnis (Baeumler et al. 1989, S. 65f., 236, 241, 250).
[2] https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/holocaust/audios/r2/11.mp3.
[3] Dass die Formulierung »seelenzersetzend« das vorgegebene, sprachlich ungewöhnlichere »seelenzerfasernd« ersetzte, halte ich für eine spontane Fehlleistung des Ausrufenden. Interessant wäre auch zu wissen, welche Freudsche Fehlleistung hinter dem Versprecher in der zweiten Zeile steckte. Welche Bücher tatsächlich nach diesem Spruch ins Feuer geworfen wurden, ist nicht bekannt.
[4] In dem später in der »Wochenschau« in den deutschen Kinos gezeigten Ausschnitt war der Spruch nicht enthalten (persönliche Information von Werner Treß).
[5] Mit der zusätzlichen Abweichung »der Flamme« statt »dem Feuer« zitiert es so zum Beispiel Mark Edmundson in seinem 2009 erschienenen Buch Sigmund Freud. Das Vermächtnis der letzten Jahre. Er behauptet zudem, »der vorsitzende Parteifunktionär« habe »mit lauter Stimme« diese »Anklage erhoben« (Edmundson 2009, S. 18). Vermutlich weiß Edmundson selbst nicht, wen er damit meint. Tatsächlich fungierten als Ausrufer offensichtlich mehrere NS-Studenten (Treß 2009, S. 46). Zu denen, die den Spruch in den entscheidenden Punkten korrekt wiedergeben, gehören Elisabeth Brainin und Isidor J. Kaminer (Brainin/Kaminer 1982, S. 991).
[6] Zumindest in der Stadt Bretten wurde das teilweise auch umgesetzt: Auf der dort verwendeten Sammelliste waren »Musikwerke« wie Kurt Weills Dreigroschenoper oder Komponisten wie Hanns Eisler und Arnold Schönberg aufgeführt (Wild 2003, S. 185).
[7] Herbert Will schreibt, dass auch Georg Groddecks Bücher »vor der Stadtbücherei in Baden-Baden« verbrannt wurden (Will 1987, S. 7, 1995, S. 20). Obwohl dafür bislang keine Nachweise vorliegen – diese waren auch weder durch ein Telefonat mit Herbert Will noch durch Nachfragen bei der Groddeck-Gesellschaft zu beschaffen –, scheint das plausibel: Groddeck stand bereits 1933 auf den ersten Indizierungslisten.
[8] Dem entspricht auch, dass in diversen NS-Artikeln Hirschfeld deutlicher und aggressiver geschmäht wurde als Freud. Wie zitiert, schrieb beispielsweise Martin Staemmler, »die Psychoanalytiker sind noch nicht die schlimmsten. Weit übler ist, was sich um Magnus Hirschfeld schart« (Staemmler 1933, S. 401).
[9] Ebenfalls betroffen waren Schriften der Individualpsychologen Alfred Adler, Alice Rühle-Gerstel, Otto Rühle und Gina Kaus.
[10] Es ist mir bisher nicht gelungen, die ursprüngliche Quelle zu finden, in der Anna Freud, Bernfeld und Reich als Betroffene der Bücherverbrennung benannt wurden.
[11] Dazu siehe Peglau 2017, S. 193-196.

 

Tipp zum Weiterlesen:

»Die Psychoanalyse bemüht sich, (…) unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen (…) umzuformen“. Das 1933er »Memorandum« (Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Teil 3)