Auf Kosten der Dritten Welt?

von Andreas Peglau

Rezension von Siegfried Kohlhammer´s gleichnamigem Buch, in dem er herausarbeitet, welche eigene Verantwortung Staaten der „Dritten Welt“ für ihre soziale Misere haben (Stand 1993).

 

Wer globale Probleme verstehen will, muß ihre realen Ursachen kennen – ein Satz ohne Neuigkeitswert. Aber inwieweit sind wir uns über wirkliche Ursachen bewußt – zum Beispiel, was das „Nord-Süd“-Problem betrifft, die Konflikte zwischen reichen Industrienationen und den armen Entwicklungsländern?

Leben wir auf Kosten der Dritten Welt? Nein“ – so zieht der Politikwissenschaftler Siegfried Kohlhammer das Fazit seines erstaunlichen Buches:

Die Gründe für Stagnation und Überbevölkerung in so vielen Entwicklungsländern sind wesentlich interner Art, nicht externer. Was auch immer die Industrieländer getan oder zu tun versäumt haben, nicht sie sind in erster Linie verantwortlich für die Misere der Entwicklungsländer, sondern diese selbst – wie die Entwicklungsländer auch umgekehrt ihre Entwicklung, ihre Fortschritte und ihren beginnenden Wohlstand sich selber verdanken, nicht den Industrieländern.“

Kohlhammer

Siegfried Kohlhammer: „Auf Kosten der Dritten Welt?“, Nachwort von Rupert Neudeck. Steidl-Verlag Göttingen 1993

Papier ist geduldig, mit Zahlen läßt sich heute alles „beweisen“ – wenn man so argumentiert, kann man das Buch einfach vom Tisch wischen. Aber jedes andere auch. Auf sachlicher Ebene lassen sich seine Gedanken und Analysen schon viel schlechter widerlegen (zumal sie gründlich recherchiert und mit 25 Seiten füllenden seriösen Quellen belegt werden). Aber genau dieses Bedürfnis, ihn zu widerlegen, hat mich durch das Buch getrieben. Schließlich geht es zwar scheinbar „nur“ um Ökonomie, aber gleichzeitig auch wiedermal um eine Grundannahme in meinem Weltbild. Allerdings nicht nur in meinem.

Kohlhammer:

“Daß wir auf Kosten der Dritten Welt leben, daß unser Reichtum auf dem Elend und der Ausbeutung der Dritten Welt beruht, ist ein weitverbreitetes Vorurteil – bei Linken und Grünen aller Art, weltoffenen Christen, Friedensfreunden, Menschen guten Willens von der CDU bis zur RAF, Verfassern schöngeistigen Schrifttums und deren sensibler Leserschaft, kurzum: den Edlen Seelen …
Unterentwicklung und Armut, Epidemien, Flüchtlinge … Genozid ist derzeit das Höchstgebot im Überbietungswettbewerb der Ankläger in Sachen Dritte Welt. Daß solche Anschuldigungen nicht weiter übelgenommen und, wenngleich zerknirscht, ohne nähere Überprüfung hingenommen werden, sollte erstaunen. Offenbar wird in solchen Fällen das Gehirn derart mit Schuldgefühlen überlastet, daß sein normales Funktionieren erheblich beeinträchtigt ist.
Nun sind ja Schuldgefühle zunächst eine sozial hochwillkommene Erscheinung: Sie indizieren eine gelungene Internalisierung (
Verinnerlichung, – A.P.) moralischer Normen, sind eine adäquate Reaktion auf deren Verletzung und bilden eine Grundlage dafür, diese in Zukunft zu unterlassen. Sinnvoll aber sind Schuldgefühle offenbar nur, wenn die Untaten wirklich begangen worden sind und so, wie die Anklage behauptet – und wenn sie zu einer Verhaltensänderung führen. Beides ist aber im Fall der Selbstanklage der Ersten Welt nicht der Fall.“

Sondern?

Zunächst weist Kohlhammer anhand des 92’er UNICEF-Berichtes darauf hin, wie unsinnig manche auf diesem Gebiet gängigen Gegenüberstellungen sind:

„nur 25 Milliarden Dollar, würde es kosten, die Grundbedürfnisse aller Kinder (in den Entwicklungsländern, – A. P.) zu befriedigen – genau die Summe, die die Amerikaner in einem Jahr für Bier ausgeben, die Europäer in drei Monaten für Alkoholika und wiederum die Amerikaner in sechs Monaten für Zigaretten. Warum werden diese 25 Milliarden Dollar nicht mit dem Alkohol- oder Zigarettenkonsum in den Entwicklungsländern verglichen oder mit der Höhe der jährlichen Entwicklungshilfe von 55 Milliarden Dollar, die offenbar nicht zur Rettung der Kinder benutzt wird, oder mit der Kapitalflucht aus der Dritten Welt von mehreren 100 Milliarden Dollar, warum nicht mit dem Luxuskonsum der Dritte-Welt-Eliten?“

Unterstellt werde damit,

„daß nicht etwa die Regierungen der betreffenden Entwicklungsländer für den Tod der Kinder verantwortlich zu machen sind, sondern die Bevölkerung der Industrieländer: Es sollen Schuldgefühle erzeugt und dadurch Gelder locker gemacht werden …
Es ist der Grundtenor des Dritte-Welt-Diskurses: Wir sind die Opfer und Ohnmächtigen, wir sind für nichts verantwortlich, und ihr seid an allem Schuld … Das weltweite Gerangel um die obersten Plätze in der Tabelle der Opferundohnmächtigen – Dritte Welt oder Frauen, Aids-Kranke oder bedrohte Völker, Homosexuelle oder Muslime – ist auch deshalb in seiner Mischung aus Larmoyanz und Abzocken, Selbstmitleid und moralischer Erpressung so widerwärtig, weil hinter dieser Schmierentragödie die realen Probleme, das wirkliche Leid zu verschwinden drohen.“

Bevor er auf dieses Leid eingeht, hält uns Kohlhammer einen ungewohnten Spiegel vor: Wir sind nicht so desinteressiert, wie wir oft meinen. Entgegen den populären (Selbst)Anschuldigungen stellt er fest:

„Die Menschen in den Industrieländern wissen nicht nur, was in den Entwicklungsländern geschieht, sie tun auch etwas, um ihnen zu helfen. Schon 1969 hatte der Pearson-Report wahrheitsgemäß festgestellt, daß noch nie in der Geschichte so viele Menschen sich um die Armut der Menschen in anderen Ländern kümmerten – und nicht nur offizielle Hilfe wurde geleistet, die privaten Organisationen sammelten weltweit jährlich etwa 5 Milliarden Dollar; mehr als 70 Prozent der Bevölkerung in der BRD spenden regelmäßig oder gelegentlich für die Linderung fremder Not. Das ergibt ein jährliches Spendenaufkommen von schätzungsweise 2 bis 3 Milliarden DM … Rund 50 Prozent dieser Spenden kommen der Entwicklungshilfe zugute.
In Großbritannien ergab 1983 eine landesweite Umfrage, daß 71 Prozent der Bevölkerung Hilfe für ärmere Nationen befürworten; eine EG-weite Umfrage desselben Jahres fand entschiedenes Einverständnis mit dem Satz ‚ ‚Wir haben eine moralische Pflicht, den Menschen in der Dritten Welt zu helfen‘. In Japan unterstützen 45,1 Prozent der Bevölkerung die gegenwärtige Entwicklungshilfe, 35,2 Prozent sprechen sich für deren Erhöhung aus …
Die Behauptung also, die Mehrzahl der Menschen in den Industrieländern verschlössen ihre Augen vor dem Elend der Dritten Welt, ist bestenfalls eine gedankenlose Floskel, viel eher aber eine arrogante Herabsetzung anderer Menschen, denen man die eigene selbstlose Sorge um fremde Not nicht zutrauen will.“

Trotzdem kann keine Rede davon sein – und ist es auch bei Kohlhammer nicht – daß es den meisten Menschen in der Dritten Welt gut geht. Woran liegt das? Ich will wenigstens versuchen, einige von Siegfried Kohlhammers Thesen zusammenzufassen. Gelegentliche Zahlenanhäufungen sind dabei nicht zu umgehen.

Ausbeutung

Zumeist wird davon ausgegangen, daß Armut in den Entwicklungsländern darauf beruht, daß wir konsumieren, was sie zu Dumping-Preisen produzieren und exportieren: „je ärmer ein Land, desto größer seine Exporte in die Industrieländer.“

Das wäre gleichbedeutend mit gewaltigen Handelsumsätzen von Süd nach Nord. Dafür findet Kohlhammer aber keine Belege, im Gegenteil:

„Der Anteil der afrikanischen Länder (der Mehrzahl der ärmsten Entwicklungsländer) am Welthandel beträgt etwa ein Prozent – wobei ein Fünftel aus Südafrika stammt, über dessen Ausbeutung bislang noch keine Klagen laut geworden sind. Erhard Eppler dürfte ein unverdächtiger Zeuge sein: ‚Ökonomisch ist Afrika nicht mehr der Rede wert… Europa könnte ökonomisch sehr wohl ohne Afrika auskommen.‘…

Die Industrieländer bestreiten zirka 80 Prozent des Welthandels (bei Importen wie bei Exporten), daß heißt, Welthandel findet vor allem zwischen den Industrieländern, nicht zwischen Entwicklungs- und Industrieländern statt.“

Und auch das Argument, daß dieser geringe Anteil am Welthandel vor allem an den viel zu niedrigen Rohstoffpreisen läge, die ja vor allem die – in erster Linie Rohstoffe exportierenden – Entwicklungsländer benachteiliegen würden, sticht nicht: „Der Anteil der westlichen Industrieländer an den Rohstoffexporten der Welt betrug 1986   221,3 Md. Dollar, der der Entwicklungsländer 100,2. Zwei Drittel der Weltexporte an Nahrungsmitteln stammen aus den Industrieländern. Die USA sind der größte Exporteur von Rohstoffen und Nahrungsmitteln.“ Außerdem: „Bereits Ende der Siebziger exportierten die Entwicklungsländer mehr Industrieprodukte als Rohstoffe, während die Industrieländer 36 Prozent mehr Rohstoffe exportierten als die Entwicklungsländer.“

Preisverfall auf dem Rohstoffmarkt trifft also Erste wie Dritte Welt und überhaupt:

„Die Vorstellung, daß eine allgemeine Erhöhung der Rohstoffpreise (und sei es auch nur der Entwicklungsländer) allen Entwicklungsländern zugute käme, ist falsch, wie die zum Teil katastrophalen Folgen der Ölpreiserhöhungen in den siebziger Jahren für viele erdölimportierende Entwicklungsländer zeigen. Die Handelsbilanz der OPEC-Länder verbesserte sich 1974 von einer Milliarde Dollar auf 61 Milliarden Dollar – davon kamen knapp 30 Milliarden Dollar aus den erdölimportierenden Entwicklungsländern …

Der Hauptgrund dafür, daß die Rohstoffproduzenten in vielen Entwicklungsländern so niedrige Preise für ihre Produkte erhalten, sind nicht die Weltmarktpreise, sondern die den Produzenten von ihren Regierungen aufgezwungenen internen Preise, die oft zu 50 oder 60, zuweilen bis zu 80 Prozent unter den Weltmarktpreisen liegen. Das gilt übrigens auch für nicht importierte Rohstoffe und Nahrungsmittel, deren Preise niedrig gehalten werden, um die städtische Bevölkerung bei Laune zu halten: ‚Hungern die Städte, gibt es Revolutionen, hungern die Bauern, gibt es nur Tote!‘“

Kohlhammer nennt Beispiele („von 1970 bis 1984 senkte die tansanische Regierung so die Farmpreise um 46 Prozent …“) und verallgemeinert: „ daß namentlich afrikanische Bauern noch nie so gründlich und so schamlos ausgebeutet wurden wie seit Erlangen der staatlichen Unabhängigkeit – von ihren eigenen Regierungen.“

Verschuldung

30 oder 40 Milliarden Dollar Zinsrückzahlungen fließen jährlich aus den armen in die reichen Länder. „Was könnte Ausbeutung sinnfälliger demonstrieren?“, fragt Kohlhammer und bestätigt, „daß die Schuldenkrise eines der wichtigsten Probleme vieler Entwicklungsländer und der Weltwirtschaft insgesamt ist und viele Entwicklungsländer seit etwa 1983 mehr Schuldendienstabzahlungen leisten, als sie an neuen Krediten erhalten …“ Aber er ergänzt:

– Verschuldung ist keinesfalls gleichbedeutend mit dem Ausmaß der Armut.

„Zwar befinden sich einige der ärmsten Länder … auf der Liste der hochverschuldeten Länder, aber diese haben doch nur einen Anteil von 11 Prozent an der Gesamtverschuldung der Dritten Welt“. Und: „gerade einige der reichsten Entwicklungsländer sind am höchsten verschuldet.“

Oder: 1976 – Jahre vor Ausbruch der Schuldenkrise – fielen in Argentinien die Industrielöhne „um 50 Prozent, die Nahrungsmittelpreise stiegen, Sozialhilfeleistungen wurden abgebaut und 10 Prozent der Industriearbeiter entlassen … 1983, nach dem Ausbruch der Schuldenkrise, stiegen die Reallöhne in Argentinien um fast 25 Prozent …“

– Auslandskredite können statt Geißeln Grundlagen wirtschaftlichen Aufschwungs sein :

„War Taiwan noch 1981 der neuntgrößte Dritte-Welt-Schuldner, wurde es 1987, nachdem es innerhalb weniger Jahre diese Schulden abgezahlt hatte, zum Netto-Gläubiger-Land“ – daß heißt, es gewährt mittlerweile selbst Kredite.

Oder: „Malaysia ist, in Relation zum Brutto-Inlandsprodukt, etwa ebenso hoch verschuldet wie Mexiko, ohne daß dies seine beeindruckende Entwicklung behindert hätte.“

Laut Kohlhammer sind das weder Ausnahmen noch Wunder, sondern vor allem Resultate vernünftiger Wirtschaftspolitik: „Auslandskredite dürfen nicht der Konsumtion, sondern müssen der Investition dienen … die Investitionen müssen der Verringerung der Exporte zugute kommen“ usw.

Kolonialisierung

– Die Annahme, erst „die Ausplünderung der Kolonien habe den Industrieländern die notwendigen Voraussetzungen für ihre Entwicklung verschafft,“ ist ebenfalls so nicht haltbar. „Diese These ist nicht nur außerstande, den Reichtum der Schweiz oder Finnlands (oder Singapurs, Taiwans ,…) zu erklären, sie versagt auch vor der – bis vor kurzem – ziemlich miserablen Situation Spaniens oder Portugals, die ja als zwei der Hauptplünderer und Kolonialmächte ökonomisch hervorragend dastehen müßten.“

„Die Vorstellung, daß die imperialistischen Mächte in den letzten drei Jahrhunderten enorme Reichtümer aus ihren Kolonien abzogen, ist nicht richtig. Neuere Untersuchungen … haben gezeigt, daß die Kolonien mindestens ebensoviel kosteten, wie sie einbrachten …(und) daß das Gerangel der europäischen Mächte Ende des 19.Jahrhunderts um die afrikanischen Kolonien weniger durch den Wunsch oder gar die ökonomische Notwendigkeit, diese Kolonien selber zu besitzen, verursacht war, als durch das machtpolitische Ziel, sie nicht anderen zu überlassen.“

– Auch „die Vorstellung, daß der europäische Kolonialismus in Asien und Afrika auf wohlhabende, wohlgeordnete und sich friedlich entwickelnde Reiche stieß, die er dann ausplünderte, verwüstete und ins Elend stieß, ist nur sehr bedingt richtig.“

Stattdessen waren diese Länder zumeist kriegerische, extrem autoritär und korrupt regierte, wirtschaftlich schwache Systeme. Ein Teil dieser Strukturen wurde durch die Kolonialisierung einfach hinweggefegt, was sich zumindest auf einen wirtschaftlichen Fortschritt westlicher Prägung in vielen Fällen positiv ausgewirkt hat (eine landestypische, weniger „fortschrittliche“ Produktionsweise ist allerdings bei dieser Gelegenheit anscheinend vielfach gleich mit hinweggefegt worden, schon um unliebsame Konkurrenz zu verhindern).

Kohlhammer zitiert jedenfalls die provozierende These,

„daß der Kolonialismus – alles in allem betrachtet – als eine Frühform von Entwicklungshilfe zu verstehen ist und wesentlich mehr zum Fortschritt armer Gesellschaften beigetragen hat, als die sich betont uneigennützig gebende Entwicklungshilfe bislang zu leisten vermochte. (F. Kromka/ W. Kreul: Unternehmen Entwicklungshilfe. Samariterdienst oder Verwaltung des Elends?. Zürich 1991)“

Dann fährt er fort:

„Das klingt nun verdächtig nach den Autobahnen, mit denen das Hitlerregime entschuldigt werden soll, aber so ist es nicht gemeint …Gerade im Fall etlicher afrikanischer Staaten ist der Kontrast von – wenngleich langsamer – wirtschaftlicher Entwicklung unter dem Kolonialismus und rapider Verschlechterung nach der Unabhängigkeit auffallend … Das muß nicht so sehr für den Kolonialismus sprechen, sondern vor allem gegen die Regime der Nkrumah und Marcos, Mobuto, Nyerere, Duvalier, Bokassa ….“

Hunger

Kohlhammer leugnet mitnichten die Unterernährung, das massenhafte Verhungern. Aber:

„Nicht nur gibt es eine Welt-Überproduktion von Nahrungsmitteln, auch jede Ländergruppe, mit Ausnahme der schwarzafrikanischen, produziert mehr Nahrungsmittel, als sie konsumiert … Die Nahrungsmittelversorgung der Entwicklungsländer hat sich – bei steigenden Agrarexporten in die Industrieländer – stetig verbessert … Der tägliche Kalorienbedarf der Bevölkerung der Dritten Welt wurde 1960 zu 90 Prozent, 1990 aber zu 109 Prozent gedeckt.“

Allerdings – und das ist entscheidend – sind das Durchschnittszahlen!

Doch zunächst weiter:

„Im Sudan hungern Zehntausende – Nahrungsmittelhilfe ist, so scheint es, also dringend geboten: 1990 erhielt das Land 335.000 Tonnen davon, exportierte aber zugleich gewinnbringend 98.000 Tonnen in die EG und weitere Nahrungsmittel in die arabischen Länder. 1992 – nach einer ‚Rekordernte‘ (so die Bonner Botschaft) – ‚liefert das Land in großem Umfang vor allem Nahrungsmittel in die arabischen Staaten und die EG‘ und wird 1992 weitere 233.000 Tonnen Nahrungsmittelhilfe aus der EG bekommen. Schon 1986 war der Welternährungs-Organisation aufgefallen, daß der Sudan sofortige Nothilfe beantragte und doch über einen exportierbaren Getreideüberschuß verfügte.“

Wie geht das zusammen: Nahrungsmittelausfuhr und verhungernde Menschen?

Das Beispiel Brasilien

„Brasilien ist eines der reichsten Länder der Dritten Welt, seine wirtschaftliche Entwicklung in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ist beeindruckend …1980 wurde Brasilien die zehntgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und ist heute das achtgrößte Industrieland … Das Bruttosozialprodukt betrug 1987 2.305 Dollar pro Kopf; zum Vergleich: Indiens Bruttosozialprodukt betrug im selben Jahr 284 Dollar pro Kopf …“

Gleichzeitig ist Brasilien

„der größte Schuldner unter den Ländern der Dritten Welt, …60 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze … 5 Millionen Kinder sind mangelhaft ernährt. 5 Millionen Kinder leben auf der Straße. Die Zahl der Analphabeten beträgt 20 Millionen … Brasilianische Ärzte erklärten im März 1992, daß die Bevölkerung zu den am schlimmsten an Krankheiten leidenden der Dritten Welt gehöre … Obwohl Brasilien 1985 ein zehnmal so hohes Bruttosozialprodukt hatte wie Burma, war die Kindersterblichkeit (unter 5 Jahren ) in beiden Ländern gleich … Brasilien ist ein extremes Beispiel für Wachstum mit zunehmender Verarmung.“

(„Wachstum mit zunehmender Verarmung“ – wir sollten dieses Stichwort auch für die BRD im Auge behalten.)

Im Gegensatz zu Brasilien haben „auch sehr arme Länder erfolgreich Hunger und Kindersterblichkeit bekämpfen können“, und das „mit erstaunlich geringen Kosten“.

Wo liegt die Erklärung für diese Widersprüche? Jedenfalls nicht in Europa, Japan oder den USA, wenn man Siegfried Kohlhammer’s Auflistungen folgt:

„Brasilien wird generell als das Land mit der höchsten Einkommensungleichheit der Welt angeführt … Heute ist das Jahreseinkommen des reichsten Fünftels der Bevölkerung sechsundzwanzigmal so hoch wie das des ärmsten Fünftels (26:1); in den USA ist das Verhältnis 9:1, in der Bundesrepublik 6:1 … Die Bodenreform, deren Verschleppung einer der wesentlichsten Gründe für die Armut ist, wird weiter verschleppt, die Macht der Großgrundbesitzer ist ungebrochen, ausgedehnte Ländereien werden gar nicht bewirtschaftet … Nach einem Bericht der Brasilianischen Bischofskonferenz gibt es fast 9.000 nachgewiesene Fälle von Sklaverei“

in der Landwirtschaft. Die Regierung kümmert sich nicht um diese Probleme, schließlich sind viele Politiker selbst Großgrundbesitzer …

„Von den 60 Millionen Beschäftigten zahlen nur 3 Millionen regelmäßig Steuern, 80 Prozent aller Unternehmensabgaben stammen aus nur 7.000 der 3 Millionen registrierten Betriebe.“ Der gesamte – zu wahrscheinlich 50 Prozent überflüssige – Verwaltungs- und Regierungsapparat kostet das Land monatlich 1,1 Milliarden Dollar usw. usf.

Ist Brasilien ein Einzelfall? Keineswegs. Machtmißbrauch, Korruption und Regierungskriminalität sind auch in anderen Entwicklungsländern in Ausmaßen an der Tagesordung, von denen vermutlich selbst ein Schalk-Golodkowski nur träumen kann:

„Lopez Portillo, Präsident Mexikos bis Dezember 1982, hat sich nach getaner Arbeit mit, ‚wie aus gut unterichteten Kreisen verlautet‘, über einer Milliarde Dollar nach Rom abgesetzt. Sein Nachfolger, Miguel de la Madrid, versprach sofort nach seinem Amtsantritt ‚moralische Erneuerung‘ und forderte die Nation auf, ‚den Gürtel enger zu schnallen‘. Kaum war das gesagt, wurde in den USA enthüllt, daß er allein im Jahr 1983 mindestens 162 Millionen Dollar auf sein Schweizer Bankkonto transferiert hatte …“

Es ist also nicht an sich zu wenig Geld da, heißt das wohl – oder zu wenig Essen -, es müßte nur anders verteilt werden. Der durchschnittliche Lebensstandard müßte wirklich dem „Durchschnittsbürger“ zukommen. Vorhandene Kredite müßten „vor Ort“ anders eingesetzt werden. Korrupte Regierungen müßten abgesetzt oder wenigstens besser kontrolliert werden usw. Verallgemeinert würde das tatsächlich bedeuten: Die wesentlichsten Hindernisse für eine bessere Lebenssituation der Menschen in der Dritten Welt liegen in den politischen, ökonomischen, kulturellen, sozialen Strukturen der Entwicklungsländer selbst – also nicht bei uns „im Norden“.

Oder? Ich kann nicht alles nachvollziehen, habe auch einige Einwände oder Nachfragen.

Kohlhammer gibt zwar den „dortigen“ Führungseliten die größte Schuld (wobei ich davon ausgehe, daß auch sie nicht ohne eine ihnen entsprechende Massenbasis auskommen würden), scheint aber selbst zu bezweifeln, daß sie sich überhaupt an der Macht halten könnten, ohne Rückenstärkung durch die „Erste Welt“. Ich denke dabei zuerst an Exporte von Waffen und Militär-“Beratern“, er kritisiert in dieser Hinsicht sogar eine scheinbar viel edlere Verfahrensweise:

„Der Begriff Entwicklungshilfe ist irreführend…Man sollte sie Regierungsunterstützung nennen … Die Identifizierung von Regierung und Bevölkerung ist falsch. Der Glaube, daß Entwicklungshilfe zumindest nicht schaden könnte, verkennt die politischen, sozialen und kulturellen Folgen dieser Unterstützungsgelder – sie gehen an Regierungen, die eine Politik verfolgen, die geradewegs ökonomischen Fortschritt verhindert und den Interessen ihrer ärmsten Bürger entgegensteht. Entwicklungshilfe ist kontraproduktiv, indem sie die Macht dieser Regierungen vermehrt …“

Aber wenn nachweislich zweckentfremdete Entwicklungshilfe dessen ungeachtet immer weiter gezahlt wird – und zwar in der immensen Höhe von 55 Milliarden Dollar -, ist dann die Annahme so weit hergeholt, daß es trotzdem „gute“ Gründe dafür geben muß? Wenn Milliarden-Kredite seit Jahren nachweislich nicht für die Lösung sozialer Probleme genutzt werden, und laut Kohlhammer zumeist auch keinen direkten ökonomischen Gewinn einbringen (obwohl ich das zumindest im Zusammenhang mit den gigantischen Waffen- und Müllexporten anzweifle), liegt dann nicht die Vermutung nahe, daß sie deshalb weiterhin gewährt werden, weil sie doch ihr eigentliches Ziel erreichen?

So gesehen, könnte das heißen: Die Erste Welt läßt es sich achtstellige Beträge kosten, an der Aufrechterhaltung von Staatssystemen mitzuwirken, nicht obwohl, sondern damit diese ihre Bevölkerungen unterdrücken.

Die Ausrede „Wir können das nicht besser kontrollieren, weil wir uns nun mal nicht in innere Angelegenheiten mischen“, ist jedenfalls lachhaft, wie nicht nur der Golfkrieg gezeigt hat. Aber warum könnte deren Elend für uns von Interesse sein? Weil auf diese Weise unliebsame ökonomische Konkurrenten ausgeschaltet bleiben? Weil wir fürchten, ihre Ansprüche nur erfüllen zu können, wenn wir unsere herunterschrauben?

Laut Kohlhammer befürchten wir das zu Unrecht. Die Annahme ist falsch: „Was der eine kriegt, muß dem anderen genommen werden.“ Eine stärkere Weltwirtschaft und ein stärkeres Einbezogenwerden in diese machen Länder reicher und nicht ärmer. Daraus schließt er: „Wer also an der Verringerung von Armut und Elend in der Dritten Welt interessiert ist, muß deshalb nicht eine Verringerung des Reichtums der Ersten Welt fordern. Eine Verringerung der Armut durch Vergrößerung unseres Reichtums mag eine moralisch mißliebige Formel sein, ökonomisch macht sie auf alle Fälle mehr Sinn, als die von der Verringerung der Armut durch eine Verringerung unseres Reichtums.“

Wenn seine Rechnung stimmen sollte, hätte er sie ohne den Wirt Erde gemacht: Jetzt schon arg lediert, dürfte eine allgemeine Wohlstandserhöhung durch Ausweitung und Perfektionierung der bestehenden Weltwirtschaft unserem Lebenssystem den Rest geben. Untersucht auch Kohlhammer Probleme des 20. Jahrhunderts nach den Maßstäben des 19.Jahrhunderts?

Auch wenn es so sein sollte, schafft er doch mit seiner Analyse notwendige Voraussetzungen für ganzheitlichere Betrachtungen. Indem er – auch für Nord/ Süd – das reine Gut/ Böse-, Täter/ Opfer-Schema ankratzt, indem er wirtschaftliche Abhängigkeiten relativiert, macht er den Blick frei auf „außerökonomische“, zum Beispiel psychosoziale Aspekte (allerdings ist doch selbst Wirtschaft etwas menschengemachtes und sind selbst Konzerne soziale Gebilde).

Und damit komme ich zu den spannendsten Überlegungen, die sich für mich aus diesem Buch ergeben:

Welche psychischen und sozialen Einflüsse bedingen und verstärken das ungesunde Miteinander von Entwicklungs- und Industrieländern? Lohnt sich auch bei Nord/ Süd der Vergleich mit „Kollusionsmustern“, mit unbewußten Zielen, die gegensätzliche Partner verbinden? (Zum Verständnis der Ost/ West-Beziehungen haben sie schon einiges beigetragen.) Was könnte Erste und Dritte Welt unbewußt verbinden?

Arbeiten wir auf verschiedenen Polen gemeinsam daran, unsere „Mutter Erde“ zu vernichten? Ist vielleicht der „nichtmaterielle Export“ der Konsum-, Leistungs- und Umweltzerstörungsnormen der wenigen Reichen zu den vielen Armen ein effektives Mittel dafür?

Baden Milliarden hungernder Menschen eine schuldbelastete „Ehe“ aus zwischen Dritte-Welt-Eliten und Industrieländern – so wie Kinder oftmals ausbaden, daß sich ein brutaler Mißhandler und eine heuchlerische Trösterin gesucht und gefunden haben? Schreien diese mißhandelten und enttäuschten „Kinder“ in ihrem anerzogenen Haß dann wieder nach starken Führern, die bereitwillig – und von uns gesponsort – ihre Doppelfunktion übernehmen: Das eigene Volk niederzuhalten und gleichzeitig mit Feindbildern aus der Ersten Welt den „völkischen“ Haß zu kanalisieren? Bietet uns im Norden der Anblick solch kampfbereiter Völker erwünschte Alibis, um uns innerlich und äußerlich weiter abzugrenzen? Macht uns die Angst vor „den Barbaren“ noch leichter regierbar? Verdienen sich Rüstungskonzerne dumm und dämlich an dem eingespielten Aufschaukeln von Haß und Angst? (Letzteres ist wohl kein Fragezeichen wert.)

Und: Welche Art von „Familientherapie“ könnte das ändern?

Wenn der Vergleich überhaupt einen Sinn hat, dann nur eine „Behandlung“, bei der alle Beteiligten mit am Tisch sitzen.

*

 

 

Frühere Veröffentlichungen finden sich in ICH – die Psychozeitung 2/95 sowie in „Weltall, Erde …ICH“ bzw. www.weltall-erde-ich.de.

 

Tipps zum Weiterlesen:

Ökonomie als Wahnsystem

Zeitbomben auf dem Finanzsektor

Globalisierung – eine Falle?