Das Prinzip Verantwortung auf indianisch. Rezensionen

Über zwei sich ergänzende Bücher und die Grenzen einer rein intellektuellen Sicht auf ökologisch sinnvolle Ethik – von Andreas Peglau.

 

Die Gesetze, die Moralvorstellungen, die Regeln, nach denen die meisten von uns leben, taugen begrenzt oder gar nicht dazu, die globalen Probleme des 21.Jahrhunderts zu bewältigen. Wir brauchen andere Regeln: allgemein akzeptierte Maßstäbe für einen sinnvollen Umgang mit uns und mit der Welt.

Einer, der nach solchen Maßstäben gesucht hat, ist der „Natur- und Technikphilosoph“ Hans Jonas. Geboren 1903 in Mönchengladbach, emigrierte er 1933 nach England, dann Palästina und schließlich, 1955, zog er in die USA, wo er 1993 starb. Vierzehn Jahre zuvor, 1979, hat er ein Buch veröffentlicht, das ihm weltweite Anerkennung einbrachte: „Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“.

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Hans Jonas „Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“, 1984 erschienen im Suhrkamp Taschenbuch Verlag.

Ethik heißt Sittenlehre. Muß ich über die richtigen Sitten im Umgang mit der Welt belehrt werden? Ich denke, leider ja – im selben Sinne, wie ich Bücher brauche, um Kinder besser zu verstehen: Zu tief sind meine eigenen Kindheitserinnerungen verdrängt. Auch mein emotionaler Kontakt zur Natur ist offenbar zu verschüttet, als daß er mich in ausreichendem Maße von Umweltsauereien abhalten würde. Ich kann in einer Therapie daran arbeiten, ihn wieder auf ein gesundes Maß zu bringen. Bis dahin brauche ich „Ethik“.

Hans Jonas konnte mir in dieser Hinsicht nur begrenzt weiterhelfen. Nach 50 Seiten (es sind insgesamt mehr als 400) habe ich aufgegeben, den Rest nur noch auszugsweise gelesen. Das liegt daran, daß mir seine Sprache intellektuell abgehoben erscheint, überfrachtet mit unnötig komplizierten Formulierungen. Zu schwer verständlich und zu anstrengend für mich. Für andere vielleicht ein großer intellektueller Genuß, es ist immerhin das Hauptwerk eines hochgebildeten, lebenserfahrenen alten Mannes.

Aber an zwei der Ausgangsthesen von Hans Jonas habe ich mich festgebissen. Zum einen, weil ich glaube, daß sie weit verbreiteten Vorurteilen entsprechen. Zum anderen: Von ihnen auszugehen, muß meiner Meinung nach sogar die notwendige Suche nach einer „Umwelt-Ethik“ behindern:

These 1) „Wirkung auf nichtmenschliche Objekte bildete (in allen bisherigen Gesellschaften , – A.P.) keinen Bereich ethischer Bedeutsamkeit“ = Menschen haben sich bisher maximal darüber den Kopf zerbrochen, was sie ihrer eigenen Gattung zufügten, nicht etwa den Pflanzen oder Tieren bzw.: „alle traditionelle Ethik ist antropozentrisch“ (Jonas).

These 2) „Das Wohl oder Übel, worum das Handeln sich zu kümmern hatte, lag nahe bei der Handlung, entweder in der Praxis selbst oder in ihrer unmittelbaren Reichweite und war keine Sache entfernter Planung … Ethik hatte demgemäß mit dem Hier und Jetzt zu tun“ = Selbst unter den Mitmenschen waren nur die von Interesse, die zur gleichen Zeit lebten und im näheren Umfeld.

Es ist nur konsequent, wenn Jonas daher schlußfolgert, daß „alle Gebote überlieferter Ethik“ nicht ausreichen, um den aktuellen Herausforderungen zu begegnen. Auf den verbleibenden Seiten entwirft er eine solche fehlende Ethik – in Auseinandersetzungen mit Aristoteles, Spinoza, Kant, Goethe, Hegel, Marx, Lenin, Ernst Bloch und vielen anderen. Diese Ethik hat – soweit ich ihn verstanden habe – endlich sowohl spätere Generationen als auch nicht-menschliches Leben und den ganzen Lebensraum Erde mit einzuschließen.

Natürlich finde ich diesen Schluß im Prinzip sehr sinnvoll. Wir brauchen ganzheitliche, ökologische „Überlebensregeln“. Aber: Hans Jonas hätte sie nicht gänzlich neu erfinden müssen.

Er hätte sehr verwandte Gedanken hören können, beispielsweise von den Ureinwohnern des Landes, in dem er seine zweite Lebenshälfte verbracht hat. Sicher wären sie ihm dort nicht begegnet als mit „Ethik“ überschriebenes Theoriengebäude. Statt dessen hätte er das Bemühen spüren können, diese Gedanken als ethische, sittliche Grundsätze zu leben.

Hans Jonas hätte sich auch schon beispielsweise bei Friedrich Engels („Der Ursprung der Familie…“) oder in Erich Fromm’s – bereits 1973 in den USA erschienener – „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ darüber informieren können, daß die Menschheit sehr wohl einen langanhaltenden Zustand durchlaufen hat – aber eben vor Aristoteles -, in dem ein gesünderes Verhältnis Mensch-Umwelt bestanden hat: das Matriarchat. In rituellen Festen, aber auch im alltäglichen Leben fand hier über Jahrtausende hinweg ein selbstverständliches „ökologisches“ Dasein seinen Ausdruck (vgl. u. a. Heide Göttner-Abendroth in diesem Buch). Jonas hätte also in Vergangenheit wie Gegenwart heiße Spuren für passendere „Umweltethiken“ aufnehmen können.

Mit anderen Worten: Seine Ausgangsthesen verstellen den Blick gerade dahin, wohin er sich besonders lohnen würde.

Eines der vielen Bücher, das diese Behauptung belegen kann, heißt „Ich höre deine Stimme im Wind. Weisheit der Indianer“.

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„Ich höre deine Stimme im Wind. Weisheit der Indianer“, ausgewählt und übertragen von Käthe Recheis und Georg Bydlinski, Fotographien von Anselm Spring, 1994 erschienen im Verlag Herder, Freiburg/Basel/Wien.

Phantastisch schöne Fotos lassen hier nicht nur den ursprünglichen Lebensraum der nordamerikanischen Indianer vorstellbarer werden. Auch die Denkweise wird nachvollziehbarer, die von einem solchen Lebensraum geprägt wurde, und die Poesie der indianischen Sprache. Zu Wort kommen Häuptlinge, Medizinmänner, indianische Schriftsteller, Lehrer, Bürgerrechtskämpfer, eine Ärztin, Lyriker und Lyrikerinnen.

Ich kann es mir nicht
vorstellen
ein Volk ohne Zuhaus
und doch sehe ich
täglich
wie sie ziellos umherirren
wie sie verzweifelt
nach Wurzeln und Dingen suchen
die ihrem Leben
einen Sinn geben sollen
Armer weißer Mann
in deiner Wut
in deinem Glanz
in all deinem Wohlstand
hast du dein Erbe
verloren
jetzt willst du meines
da
nimm es
ich habe noch mehr

John Twobirds Arbuckle

Zitate von Angehörigen vieler Stämme und aus mehreren Jahrhunderten machen klar: Hier haben sich Auffassungen über den Umgang von Menschen miteinander und mit der Welt erhalten, die „archaisch“ und „modern“ zugleich sind:

Wenn das Land krank ist, sind auch die Menschen krank, und wenn die Menschen krank sind, ist das Land krank.
Herbert Blatchford

Sicher ist mit den Jahrhunderten auch hier manches verlorengegangen – nordamerikanische Indianer leben nicht mehr in matriarchalen Verhältnissen. Aber es ist auch etwas dazugekommen mit der Zeit, es sind keine verstaubten Relikte.

Für mich als jemand, der die Vergangenheit seines Volkes mit sehr gemischten Gefühlen sieht, ist es schon erstaunlich, wie ungebrochen sich in diesem Buch die Beziehung von Indianern zu ihrer Geschichte darstellt, zu ihren Ahnen. Deren uralte Ideen, daß alle Lebensformen die gleiche Daseinsberechtigung haben, daß Menschen im Gleichgewicht mit der Natur leben müssen und daß sie Vorsorge für spätere Generationen zu treffen haben, werden offenbar mit größter Selbstverständlichkeit bewahrt und weitergegeben:

Als die Erde mit all ihren Lebewesen erschaffen wurde, war es nicht die Absicht des Schöpfers, daß nur Menschen auf ihr leben sollten. Wir wurden zusammen mit unseren Schwestern und Brüdern in diese Welt gesetzt, mit denen, die vier Beine haben, mit denen, die fliegen, und mit denen, die schwimmen. All diese Lebewesen, auch die kleinsten Gräser und die größten Bäume, bilden mit uns eine große Familie. Wir sind alle Geschwister und gleich an Wert auf dieser Erde.

Danksagung der Irokesen

Aber sie werden auch auf die Gegenwart angewendet. Und spätestens hier sind die Probleme, mit denen Indianer konfrontiert werden, längst nicht mehr nur spezifisch indianisch:

Unser Volk muß sich heute gegen die militärische Übermacht der amerikanischen Regierung zur Wehr setzen. Wir haben aber noch einen anderen, unsichtbaren Feind, der uns ringsum gefährdet. Wir wissen, wer dieser Feind ist, doch er ist sehr schwer zu besiegen. Unser Land wird von der Umweltzerstörung bedroht.

Ganz in der Nähe steht das Reynolds Aluminiumwerk, eine Fabrik, die – wie man sagt – täglich rund 2 500 Kilogramm Fluoride ausstößt, auf unser Gebiet und unser Volk.

Wenn aber nun diese Chemikalien unser Land verseuchen, müssen wir die Welt darauf aufmerksam machen und versuchen, das unmenschliche Zerstörungswerk zu beenden. Ich habe zwei Söhne, beide sind bereits erkrankt. Der eine hat eine Hautkrankheit, die Ärzte behaupten, sie kennen die Ursache nicht. Mein anderer Sohn leidet an einer Knochenschädigung.

Einst wurden wir angewiesen, an unsere Kinder zu denken und so zu handeln, daß unser Land auch noch in sieben Generationen ein guter Platz zum Leben sei. Was können wir aber heute tun, wie sollen wir vorsorgen für die siebente Generation? Wir möchten die Welt aufrufen, umzudenken und ihre Werte neu zu bestimmen. Wir möchten den großen multinationalen Konzernen bewußt machen, daß es Menschen sind, die auf dieser Erde leben – daß sie es nicht nur mit Dingen zu tun haben, die man nach Belieben gebrauchen und verändern kann. Menschen besitzen Gefühle und sie träumen davon, daß auch Ihre Enkelkinder einmal einen guten Platz zum Leben haben.

Jake Swamp

Das ergibt eine beeindruckende Mischung: Menschen, die sich ihre eigene Gruppen-, Stammes-, „nationale“ Identität erhalten haben und darauf stolz sind, denken gleichzeitig – nee, eben nicht nationalistisch, sondern global. Wenn das überhaupt möglich ist, ist noch nicht alles verloren.

Ich nehme nicht an, daß dieses Buch repräsentativ ist für „die Indianer“. Aber darum geht es nicht. Ein „auserwähltes (Öko-)Volk“ ist auch gar nicht vonnöten. Wir brauchen eine verbindende und verbindliche Hausordnung für unseren Planeten, eine Art globale Friedens- und Umweltethik. Je umfassender wir bei unserer Suche danach die Erfahrungen aller Völker und die gesamte menschliche Geschichte einbeziehen, desto erfolgreicher könnte Letztere in Zukunft verlaufen.

Eine ganz andere Frage ist, wodurch wir wieder fähig werden, entsprechend einer solchen Ethik zu handeln …

 

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Ergänzte Fassung 2014. Frühere Veröffentlichungen finden sich in ICH – die Psychozeitung 3/1995 sowie in „Weltall, Erde …ICH“.