Die Diagnose „Rechtsruck“ genügt nicht mehr

von Andreas Peglau, erschienen in amatom, IPPNW-Zeitschrift von und für kritische Medizinstudierende, 32/ 2019

Der Original-Artikel kann hier als pdf heruntergeladen werden: amatom_32_Peglau.

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Wilhelm Reich arbeitete 1933 in der „Massenpsychologie des Faschismus“(1) heraus, dass „Rechts“-Entwicklungen“ nicht möglich sind ohne massenhaft herbeisozialisierte autoritär-destruktive Charakterstrukturen. Diese Sicht teilend, plädiere ich – neben den notwendigen politischen, ökonomischen, kulturellen und ökologischen Umwälzungen – für eine psychosoziale Revolution.(2) Dafür wesentlich sind unter anderem: möglichst konflikt- und angstfreie Schwangerschaften/ natürliche statt medizinalisierter Geburten/ nichtautoritäre Erziehung und Bildung/ erfüllende Sexualität, gleichberechtigte Partnerschaft/ ein sich ausweitendes Angebot qualifizierter, insbesondere psychodynamischer Therapie und Körperpsychotherapie. Bemerkenswerterweise sind in den letzten Jahren in Deutschland Negativtrends zu verzeichnen, die all diese Punkte berühren.

Die Schwangere begleitenden, Haus- und natürliche Geburten anbietenden freiberuflichen Hebammen werden durch rapide Erhöhung der Versicherungsbeiträge systematisch in Existenznot gebracht. Viele geben auf, ebenso niedergelassene Gynäkologen. Parallel dazu nimmt die Anzahl der Krankenhausgeburten und Kaiserschnitte zu.(3)

Symptomatisch für die Renaissance „schwarzer Pädagogik“ ist, dass der Film „Elternschule“ nicht nur im Kino lief, sondern im Juli 2019 auch im deutschen Fernsehen. Dazu schreibt der Kinderarzt Herbert Renz-Polster: „Was mich an diesem Film vor allem wundert, ist die Schamlosigkeit, mit der erzieherische Gewalt dargestellt, glorifiziert und auch medikalisiert wird.“(4) Nicht nur die ZEIT und die Süddeutsche Zeitung hoben den Film lobend hervor.

Mit der AfD erstarkt die patriarchale Ideologie, inklusive der Abwertung von Frauen. Der AfD-Abgeordnete Heiner Merz verkündete 2018 zu Quotenregelungen, also zu einem der effektivsten Mittel, endlich tatsächliche Gleichberechtigung einziehen zu lassen: „Quoten nützen (…) nur unqualifizierten, dummen, faulen, hässlichen und widerwärtigen Frauen; die Guten, Bemühten und passend Qualifizierten fanden und finden ihren Weg alleine.“(5) Im Landtagswahlkampf in Brandenburg und Sachsen warb die AfD 2019 mit „Qualität statt Quote“.(6)

Was Psychotherapie betrifft, fährt „Gesundheits“-Minister Spahn einen Kurs, der offenkundig auf die Abschaffung ambulanter Psychotherapie insgesamt, zuallererst aber analytischer und tiefenpsychologischer Langzeittherapien abzielt. Ginge es nach ihm, erhielten Kassentherapeuten zudem durch Psychiater oder Hausärzte die Patienten zugeteilt(7) – was die „Passung“ zwischen Therapeut und Patient zum Glücksspiel entarten ließe. Dass Therapeuten und Ärzte zusätzlich gezwungen werden sollen, Patientendaten in ein ungesichertes Internet einzuspeisen,(8) torpediert das Vertrauensverhältnis, also die Basis jeder Behandlung und ist ein weiterer Schritt zum „gläsernen Patienten“. Dazu passt, dass das neue bayerische Psychiatriegesetz „Parallelen zum Maßregelvollzug“ enthält.(9)

Dass auf EU-Ebene durch diverse Handelsabkommen permanent Gremien geschaffen werden, „die ohne demokratische Kontrolle unsere Lebensverhältnisse bestimmen“ und deren „gemeinwohlschädigende Entscheidungen (…) nirgends korrigiert werden (können), da alle Parlamente ausgeschaltet sind“(10), verstärkt die Befürchtung: Was da läuft, umfasst mehr als den „Rechtsruck“. Uns droht die Restauration offen autoritärer, bürgerlich-reaktionärer Gesellschaftsverhältnisse, ein umfassendes psychosoziales Roll-back.

Wie kommt das?

Der „Neoliberalismus“ – zutreffender als Marktradikalismus bezeichnet – bestimmt heute „die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Medienöffentlichkeit und das Alltagsbewusstsein hierzulande so stark wie kaum eine andere Weltanschauung“, wird von Unternehmerverbänden, CDU-Wirtschaftsrat und Industrielobby vertreten, ist selbst in „Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbände“ eingesickert, hat „eine öffentliche Meinungsführerschaft errungen, die nur schwer zu durchbrechen ist“.(11) Und diese – sachlich betrachtet: haltlose –  Ideologie billigt nun einmal allen, die nicht reich und mächtig sind, ausschließlich die Rolle kleiner, brav konsumierender Rädchen zu.
Ein massenhaftes Bestreben, gesundes Selbstbewusstsein aufrecht zu erhalten (zum Beispiel durch natürliche Geburt, nichtautoritäre Erziehung, Gleichberechtigung) oder wieder zu erlangen (zum Beispiel durch tiefgründige Psychotherapie) kann hier durchaus zum Störfaktor werden.

Es ist allerdings nicht nötig, eine „Zentralinstanz“ anzunehmen, die all das koordiniert. Die Neoliberalisierung öffnet nur ohnehin vorhandenen Partikularinteressen die Tür.(12) Denn in dieser Hinsicht bestehen ausreichend Übereinstimmungen zwischen Pharmakonzernen, die psychisches und somatisches Leid nicht heilen, sondern vermarkten wollen, rechtskonservativen Organisationen, Parteien und Personen sowie autoritär gestörten Pädagogen, denen wirkliche individuelle Freiheit ein Dorn im Auge ist und einem Staatsapparat, den individuelle Bürgerinteressen nur unnötig von seiner bürokratischen Selbstbefriedigung abhalten.

Was können (zukünftige) Ärzte, Ärztinnen, Therapeuten, Therapeutinnen dagegen tun?

Zum einen das, was alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes tun können und sollten: den Herrschenden auf die Finger schauen oder hauen, weitere Entdemokratisierung verhindern, sich für nichtautoritäre Bildung und Erziehung stark machen, auf Gleichberechtigung beruhende, möglichst liebevolle Partnerschafts- und Familienbeziehungen gestalten. Aber auch: erkennen, inwieweit wir durch Feigheit, Bequemlichkeit, durch Uns-raus-Halten politische Entwicklungen fördern, die uns schädigen.

Zum anderen haben im Gesundheitsbereich Tätige spezielle Möglichkeiten, somit auch eine spezielle Verantwortung: den genannten (und weiteren) antisozialen Übergriffen des „Gesundheits“-Ministers Paroli bieten, Hebammen und natürliche Geburtspraktiken unterstützen, entgegen manch tradiertem Konzept und vermeintlich objektivem ökonomischen Druck Heilung als ganzheitlichen Prozess begreifen.

Schon aus Letzterem folgt unweigerlich die gedankliche Einbeziehung psychosozialer und politischer Aspekte in die Bestrebungen, Menschen zu helfen. Und daraus sollte folgen: entsprechendes gesellschaftliches Engagement.

 

Quellen:

(1) Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Kopenhagen/Prag/Zürich 1933.

(2) Peglau: Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ als Erklärungsansatz, Berlin 2017, S. 116-120.

(3) http://www.gerechte-geburt.de/home/veranstaltungen/aktion-zappenduster/; https://www.welt.de/gesundheit/article182178010/Kaiserschnitt-Zahlen-steigen-mit-Bildung-und-Wirtschaft.html

(4) https://www.kinder-verstehen.de/aktuelles/elternschule-so-geht-erziehung/

(5) https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/afd-abgeordneter-merz-aeussert-sich-abfaellig-(4)ueber-frauenquote-15923280.html

(6) https://afdkompakt.de/2019/01/25/abgeordnete-afd-setzt-auf-qualitaet-statt-quote/ Vgl. auch https://www.tagesspiegel.de/kultur/frauenbild-von-al-qaida-bis-afd-man-tritt-in-eine-pfuetze-hasserfuellter-aeusserungen/24847014.html

(7) https://www.deutschepsychotherapeutenvereinigung.de/gesundheitspolitik/aktuelle-meldungen/news-bund/news/psychotherapeuten-petition-gegen-tsvg/

(8) https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/wp-content/uploads/2019/06/Heidelberger_Erklaerung.pdf

(9) https://www.br.de/nachrichten/bayern/bayerisches-psychiatriegesetz-ein-jahr-nach-dem-eklat,ROZvxx0;

(10) https://www.change.org/p/b%C3%BCrgerklage-gegen-ceta/u/24593028?cs_tk=AhDRAMUDtpbzBaKI6lwAAXicyyvNyQEABF8BvPCQo1jbuLGwY3wu7BZBjpU%3D&utm_campaign=2034fe0baac64ff983b9621a1a50a5ac&utm_medium=email&utm_source=petition_update&utm_term=cs

(11) Butterwege/Lösch/Ptak (2016): Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 2016, hier S. 11.

(12) Zu den hochgradigen Übereinstimmungen zwischen „rechter“ und neoliberaler Ideologie siehe Peglau: Rechtsruck (wie Anm. 2), S. 77-81 bzw. hier: https://www.rubikon.news/artikel/341-rechtsruck-in-deutschland

 

Tipp zum Weiterlesen:

Psychische Revolution und therapeutische Kultur – Vorschläge für ein alternatives Leben. Hans-Joachim Maaz, im Februar 1990 befragt von Andreas Peglau