Sinnsalabin. Gedanken zum Zusammenhang von Sinn und Erfüllung, 5.3.2024

von Andreas Peglau

(Foto A.P.)

Es ist noch nicht lange her, da hatte ich – was mir seit 2020 öfter geschieht – wieder einmal das Gefühl, dass mein Leben momentan nicht besonders sinnvoll sei. Dabei bin ich jedoch diesmal nicht stehengeblieben. Aus den weiteren Überlegungen hat sich der folgende Text entwickelt.   

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Ich glaube, dass die Frage nach dem Sinn (m)eines Lebens getrennt werden muss von der Frage nach Erfüllung, nach Erfüllt-Sein.
Die Frage nach dem Sinn genügt nicht.

Es ist oft gar nicht so schwer, Leben Sinn zu geben. Wenn ein Arbeiter etwas herstellt, was andere zu guten Zwecken benötigen, ist seine Tätigkeit sinnvoll. Ebenso, wenn ein Busfahrer Menschen zu einem Ort fährt, wo sie Wichtiges erledigen wollen. So ziemlich jede Therapiestunde, die ich mache, ist sinnvoll. Wenn ich aufhöre zu therapieren, „in Rente gehe“, gibt es diverse Möglichkeiten, ehrenamtlich sinnvoll zu wirken – und das meine ich völlig unironisch: Insekten oder Vögel zählen, im Kindergarten Märchen vorlesen, Wege im alten Dorfpark freilegen …

Doch das ist nicht gleichbedeutend damit, dass mich diese sinnvollen Betätigungen erfüllen, glücklich machen oder gar „weiterbringen“. Da geht es um etwas anderes.

Dieses Andere hat wiederum oft nur den erkennbaren Sinn, dass ich mich dabei gut fühle: was Schönes kochen, im Garten eine Kräuterspirale bauen, ein beeindruckendes Konzert hören, ein gutes Gespräch führen, schweigend mit jemandem zusammensitzen, den ich mag, wandern, radfahren, versuchen, Gitarre zu spielen oder die Welt tiefer zu begreifen.

Natürlich kann es auch etwas sein, das darüber hinaus erkennbaren Sinn für andere hat oder haben soll: Artikel, Bücher, Interviews veröffentlichen, Vorträge halten zum Beispiel. Die erhofften Diskussionen oder Rückmeldungen dazu sollen dann schon wieder auch mich erfüllen. Auch meine Therapiestunden verschaffen mir oftmals das Gefühl von Erfüllung: wenn es mir gelingt, jemandem zu helfen, auf einem guten Weg voranzukommen.

Auch wenn sich diese beiden Ebenen also überlappen können, sie sind nicht identisch.
Vieles an sich Sinnvolle verschafft mir keinerlei Befriedigung. Deshalb will ich es nicht.
Vieles Befriedigende hat – außer: mich glücklich zu machen – keinen zusätzlichen Sinn.
Trotzdem will ich es.

Ist es egoistisch, nach Erfüllung zu streben?
Sicherlich. Allerdings im Sinne eines gesunden Egoismus, der sich nicht gegen andere richtet, anderen nichts wegnimmt. Im Gegenteil: Wenn ich mir auf diese Weise Erfüllung verschaffe, habe ich auch wieder mehr Energie, um anderen zu helfen.

Und: Da niemand von uns weniger wert ist als ein anderer, ist es schon deswegen sinnvoll, auch mir selbst etwas Gutes zu tun.

Dazu fällt mir ein Zitat von Heinrich Heine ein:

„Ist das Leben des Individuums nicht vielleicht ebensoviel wert wie das des ganzen Geschlechtes? Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte.“

Es ist also offenbar falsch, zu glauben, sinnvoll wird etwas nur, wenn es in einem über mich hinaus gehenden Rahmen positive Wirkung entfaltet.

Vielleicht kann ich sogar sagen: Mir selbst in der beschriebenen gesund-egoistischen Weise Gutes zu tun, ist die einfachste und naheliegendste Möglichkeit, Sinnhaftigkeit und Erfüllung zu verbinden und zu erfahren.

Gerade um die gegenwärtige, mir in diversen Aspekten widerwärtig erscheinende gesellschaftliche Entwicklung zu ertragen, sollte ich von dieser Möglichkeit dringend Gebrauch machen.
Und zwar hoffentlich, ohne dass das auch mir anerzogene schlechte Gewissen dazwischenfunkt, welches behauptet: „Nimm dich gefälligst nicht so wichtig!“

Zudem gibt es weitere, unauflösbare Zusammenhänge zwischen Erfüllung und Sinn.

Amir Mortasawi hat mir dieses Gedicht geschickt:

 

Mächtig

(21.7.2023)

Wahrhaftig mächtig sind Menschen

die innere und äußere Mittel haben

um eigenständig anständig zu handeln

 

Ich hab ihm geantwortet:

„Das Gedicht gefällt mir auch, weil es auffordert, darüber nachzudenken, was ‚anständig‘ ist – und zwar heute.
Mir ist dazu der Gedanke gekommen, dass ich mir eigentlich nur wünschen muss, glücklich zu sein. Wenn ich das tatsächlich zu 100 % wäre, wäre auch die Welt in Ordnung. Denn: Dauerhaft glücklich könnte ich nur noch sein, wenn es in der Welt (oder zumindest in dem Teil davon, über den ich mich informieren kann) hinreichend gut läuft: friedlich, solidarisch, bunt, kreativ, liebe- und sinnvoll.
Natürlich würden nicht-menschengemachte Naturkatastrophen, Krankheiten, Unglücks- und Todesfälle dieses Glücksgefühl immer wieder unterbrechen. Aber das müsste ich hinnehmen. Es wäre ja in gewisser Weise ‚in Ordnung‘, weil unvermeidbar.
Was jetzt auf der Welt an Schlimmem passiert, ist dagegen zum allergrößten Teil vermeidbar. Da kann ich mich nur halbwegs ‚anständig‘ fühlen, wenn ich mich wenigstens ein bisschen dagegenstelle. Und wenn ich mir sagen kann – und das kann ich: Wenn sich alle auf ihre Weise ähnlich verhalten würden, wäre die Welt zwar noch immer nicht ideal, aber zumindest besser als sie jetzt ist. Da ich ja trotzdem auf verschiedene Weise mitschuldig bin – schon durch Steuerzahlen, auch durch zu viel (Be)Schweigen –, hat meine Anständigkeit Grenzen.“

Darauf hat Amir mit einem Auszug aus einem anderen Gedicht reagiert, das sich für ihn mit „Anstand“ verbindet:

„…frage ich mich immer wieder

wie ich dieses unmenschliche System

grundlegend verändern kann

oder wenigstens so in ihm lebe

dass ich möglichst wenig

zu seinem Erhalt beitrage“

 

Das unterstreicht: Ich kann mich auf Dauer beziehungsweise immer wieder nur wohlfühlen, wenn ich auch Widerstand leiste gegen ungesunde Anpassung und gegen das mich umgebende Unrecht.
Ein Ausweichen in rein privaten Genuss, in ausschließlich mich bereichernde Erfüllung ist kein Ausweg.

Beim heutigen Ausmaß des hierzulande grassierenden Unrechts ist das keine bloß moralisch-philosophische, sondern eine ganz pragmatische Frage: Wenn nicht viele Menschen auf ihre Weise diesen Widerstand leisten, wenn sich nicht genügend Menschen gegen die Kriegstreiberei „unserer“ Regierung und Medien stellen, werde ich bald keine Chance mehr haben, mich individuell wohlzufühlen. Weder in einem restlos entdemokratisierten Staat noch im Krieg ist Platz für gesunde Erfüllung.

Ein über mich hinaus gehendes sinnvolles Handeln gelingt mir jedoch momentan zu wenig. Denn ob es wirklich sinnvoll ist, hängt nicht nur mit der damit verbundenen Absicht zusammen, sondern auch mit der realen Wirkung, die es erzielt.

Ich kann aber der gesellschaftlichen Misere nichts entgegensetzen, was ich als ausreichend wirksam empfinde.
In privaten Kontakten kann ich kaum jemanden, der nicht ohnehin in wesentlichen Punkten mit mir übereinstimmt, mit meinen Sichtweisen erreichen.
Meine psychotherapeutischen Behandlungen, die sowieso nur Einzelne betreffen, stoßen zunehmend an die Grenze, dass Patienten (auch) mit gänzlich un-neurotischen Problemen konfrontiert sind wie Angst vor Krieg oder Verarmung, wo ich hilflos bin als Therapeut, wo ich nur Mitbetroffener sein kann.
Meine Artikel erreichen zwar eine im Vergleich dazu größere Zahl von Menschen. Aber dass sie diese Artikel auf meiner Webseite „anklicken“, bedeutet noch nicht, dass sie sie lesen, verstehen, weitergeben oder gar in Handeln umsetzen. Vielleicht tun sie das. Doch davon erfahre ich nur in seltensten Ausnahmen.

Ich muss daher aufpassen, mich nicht als passiv, hilflos-ausgeliefert, als bloßes Opfer, als nur re-agieren könnend wahrzunehmen – und damit in die Kinderrolle und in die (vermutlich depressive, autoaggressive) Neurose abzurutschen.

In jedem Fall komme ich nicht umhin, meine aktuellen persönlichen Ziele unter Berücksichtigung der aktuellen politischen Lebensbedingungen zu formulieren.

Die Qualität meiner individuellen Zielbestimmung ist wiederum untrennbar verbunden mit dem Grad an Verständnis gesellschaftlicher, politischer, nationaler wie internationaler Prozesse.

In dieser Hinsicht bin ich freilich recht zufrieden mit mir: Ich lerne jeden Tag mehr über die Welt, glaube, grundsätzliche Zusammenhänge und Tendenzen zusehends zu begreifen.
Diese Tendenzen machen mir nicht nur Angst, sondern auch Hoffnung: Es deutet vieles darauf hin, dass es für den größten Teil der nicht-westlichen Welt, also: für den bei weitem größten Teil der Welt in absehbarer Zeit besser laufen könnte als in den Jahrzehnten der offenbar vergehenden westlichen, insbesondere US-amerikanischen Hegemonie. Und selbst in Deutschland existiert und artikuliert sich eine so starke und qualifizierte Opposition wie nie zuvor in der Geschichte dieses Landes.

Aber wie kann ich aus diesen Einschätzungen (noch) sinnvolleres, möglichst erfüllendes, nach Innen und Außen wirksameres Handeln ableiten?

Ich weiß es nicht.
Das heißt: weitersuchen.

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