Im Dezember 1929 kam es zu einem Schlagabtausch zwischen Reich und Freud auf einer der von Letzterem veranstalteten Diskussionsabende in Wien. Kernpunkt war Reichs Überzeugung, dass eine Prophylaxe sexueller und neurotischer Störungen ebenso nötig wie möglich sei – eine Sicht, die auch Freud früher vertreten hatte. Nun jedoch wandte sich Freud heftig gegen Reichs Thesen, qualifizierte diese als angeblich „völlig unpsychologisch“ ab.
Kinder der Zukunft lässt sich lesen als Bilanz dessen, was Reich dem in der ihm verbliebenen Lebensspanne in Forschung und praktischer Tätigkeit entgegensetzte.
Denn dieses Buch ist nicht etwa in Gänze ein Spätwerk Reichs, sondern eine posthume, erstmals 1983 auf Englisch erschienene Zusammenstellung. Sie umfasst – jeweils unter abgewandeltem Titel, teils mit Änderungen im Text – den 1928 in der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik erschienenen Aufsatz „Über die Onanie im Kindesalter“ (S. 131-135), das 1932 publizierte Buch Der sexuelle Kampf der Jugend (S. 149-194) sowie ein 1936 veröffentlichtes „Gespräch mit einer vernünftigen Mutter“ (S. 137-147) und einen Auszug aus dem Interview, das Reich 1952 K.R. Eissler über Freud gab (S. 13ff.).
Den Hauptteil bilden allerdings in der Tat Ausführungen Reichs, die er ursprünglich in Buchform vorlegen wollte. 1949 hatte er das Orgonomische Kinderforschungszentrum (OIRC) gegründet. Inspirierender Hintergrund dafür war zum einen seine anhaltende Kritik gängiger Erziehungsmethoden: Bereits 1926 findet sich in der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik sein Beitrag Der Erziehungszwang und seine Ursachen. Zum anderen war er 1944 noch einmal Vater geworden und konnte nun zu seinem Sohn Peter ein liebevolleres Verhältnis aufbauen, als ihm dies bei seinen in den 1920er Jahren geborenen Töchtern möglich war. Hinzu kam der intensive Gedankenaustausch mit seinem Freund, dem schottischen Pädagogen A.S. Neill.
Für das OIRC sah Reich folgende Forschungsschwerpunkte: Vorgeburtliche Betreuung von Müttern/ Beobachtung und fachgerechte Begleitung während Geburt und erster Lebenstage/ Vorbeugung von psychischen und psychosomatischen Störungen bis ins sechste Lebensjahr/ Aufzeichnung der Lebensgeschichte über die Pubertät hinaus. Auf einzelne Fälle konnte er bereits verweisen, am genauesten stellte er hier – anonymisiert – seinen Sohn Peter dar, was Einblicke gestattet in Reichs ganz persönliches Verständnis von Erziehung. Zugleich befasste er sich mit einer noch heute vielfach ignorierten Frage: Woran lassen sich psychisch und psychosomatisch gesunde Babys und Kleinkinder erkennen? Hier nahm er vieles vorweg, was inzwischen im Rahmen von pränataler und perinataler Psychologie oder unter dem Stichwort „natürliche Geburt“ diskutiert wird.
Einmal mehr zeigte Reich dabei den untrennbaren kausalen Zusammenhang auf zwischen frühen Lebensphasen, späteren individuellen und gesellschaftlichen (Fehl-)Entwicklungen. William Steig, Schöpfer der „Shrek“-Figur, der auch für Reich Illustrationen schuf, schreibt dazu im Vorwort:
„In dieser Welt, in der Nationen ständig Vorbereitungen treffen, um sich gegenseitig und vielleicht sogar den ganzen Planeten auszulöschen, (…) sollte alles voller Enthusiasmus untersucht werden, was uns helfen kann zu verstehen, wie wir in diese entsetzliche Lage geraten konnten.“
Kinder der Zukunft sollten deshalb alle lesen, die sich für Schwangerschaft, Geburt, psychische und psychosomatische Gesundheit und Störung, für Kinder, Erziehung, Neurosenentstehung und -prophylaxe interessieren – oder einfach dafür, wie sie selbst und unsere Gesellschaft so wurden, wie sie heute sind.
Ende 2017 – im Jahr von Wilhelm Reichs 120. Geburts- und 60. Todestag – ist dieses Buch im Psychosozial-Verlag Gießen erstmals auf Deutsch erschienen.
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Wilhelm Reich: Kinder der Zukunft. Zur Prävention sexueller Pathologien. Gießen (Psychosozial) 2017, 197 Seiten, 29,90 Euro.
Leicht veränderte Fassung einer zuerst in Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, Heft 61 (2018) veröffentlichten Rezension.
Eine weitere Buchsprechung, verfasst von Hans-Peter Heekerens, findet sich auf socialnet.de.
Tipps zum Weiterlesen:
„Antiautoritäre“ Erziehung. Was wollte A. S. Neill wirklich?