Paradiesische neun Monate? Andreas Peglau im Gespräch mit dem Psychoanalytiker Ludwig Janus zu vorgeburtlichen Prägungen

Über die Realität unserer allerersten Erfahrungen und deren, nur zu Teilen vermeidbare, Konsequenzen.

 

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A.P.: Nach 100 Jahren Psychoanalyse kann man Zusammenhänge zwischen Lebensgeschichte, Charakter und Verhalten als ziemlich gesichert annehmen. Die pränatale Psychologie bleibt allerdings nicht stehen bei dem prägenden Einfluß der frühen Kindheit, sondern behauptet, die Geburt selbst und sogar die 9 Monate davor sind mindestens ebenso wichtig. Womit läßt sich das belegen?

Janus: Die pränatale Psychologie ist noch recht jung und daher auch zum Teil auf vorläufige Annahmen angewiesen. Gleichzeitig baut sie aber auf vielen wissenschaftlich gesicherten Fakten auf.Schon die wichtigsten Eckdaten der vorgeburtlichen Entwicklung machen klar, daß es berechtigt ist, von pränataler Psychologie – das heißt, von einem Seelenleben des Ungeborenen – zu sprechen: Etwa ab der 7. Woche sind die Hautsinne ausgereift, bis zur 16. Woche ist der Gleichgewichtsapparat voll entfaltet. Zur gleichen Zeit beginnen mimische Bewegungen – Lächeln zum Beispiel -, eine Woche danach die regelmäßige Atmung. Ab der 24. Woche ist das Kind in der Lage zu schreien – beispielsweise, wenn bei einer ärztlichen Untersuchung zufällig Luft in die Gebärmutter geraten ist. Wieder eine Woche später sind Gehör, Geschmack, Sehen, Druck-, Schmerz- und Kältempfinden entwickelt. Das Kind reagiert intensiv auf Musik – auf Mozart und Vivaldi in der Regel positiv, auf den dröhnenden Baß einer E-Gitarre eher mit Erschrecken. Das zeigt sich unter anderem in einer Erhöhung der Pulsfrequenz. Die Föten sind in der Lage, mit ihren Eltern zu kommunizieren – zum Beispiel an die auf den Bauch der Mutter gelegte Hand heranzupaddeln, sich dort einzuschmiegen. Eineiige Zwillinge können mit vorsichtigen Berührungen miteinander Kontakt aufnehmen. Das alles läßt sich in Ultraschallbeobachtungen und durch intrauterine Fotografie beziehungsweise Filmaufnahmen heute sehr eindrucksvoll zeigen.

Umgekehrt haben eine Reihe von Therapieformen, die sich um die Aufarbeitung dieser frühesten Lebensphase bemühen – Primärtherapie, Körpertherapie, Rebirthing zum Beispiel, aber durchaus auch die Psychoanalyse – eine Vielzahl von Fällen dokumentiert, in denen geburtliche und vorgeburtliche Traumata bearbeitet wurden. Auch in Hypnose und LSD-Selbsterfahrung gibt es entsprechende Ergebnisse. Daß wir sehr intensive Erlebnisse vor und während unserer Geburt haben, daran besteht also meiner Meinung nach kein Zweifel. Nicht nur neurotische Symptome, auch Märchen, Mythen, Religionen und vor allem die Kunst schöpfen ganz wesentlich aus dieser Quelle.

A.P.: Aus leider unverändert aktuellem Anlaß haben wir als Thema unseres Gesprächs nicht die vorgeburtliche Prägung an sich gewählt, sondern vor allem ihre negativen Erscheinungsformen. Das setzt ja voraus, daß auch unsere Zeit im Mutterleib nicht unbedingt immer von vollständiger Harmonie, Geborgenheit und Bedürfnisbefriedigung gekennzeichnet ist. Wie sollte uns dort sonst etwas negativ prägen, gewaltbereit machen zum Beispiel?

Janus: Lassen Sie uns zunächst festhalten, daß die Plazenta kein Filter ist, der alles „Schlechte“ zurückhält und die Gebärmutter kein isolierter Raum, der den Fötus von allen äußeren Einflüssen abschirmt. Wie schon gesagt, er hört Musik, er verfolgt Gespräche, Neugeborene Babys sind in der Lage, sowohl ganz bestimmte Lieder, die ihnen vor ihrer Geburt vorgespielt wurden , als auch ihre „Muttersprache“ wiederzuerkennen. Aber auch der Lebensrhythmus der Mutter – die Abfolge von Anspannung und Entspannung zum Beispiel – teilen sich dem Fötus mit; ebenso wir ihre Gefühle.

Gefühle sind ja nichts „Unkörperliches“. Sie sind zum Beispiel verbunden mit Hormonausschüttungen. Und diese Hormone sind „plazentagängig“. Das heißt, der Fötus bekommt von alledem „seinen Anteil“: Freude, Wut, Angst der Mutter teilen sich ihm mit. Im günstigen Fall hätte er also 9 Monate Gelegenheit, Basisaffekte „einzuüben“. Ist die Mutter aber beispielsweise durch Angst körperlich und seelisch verkrampft, wird die intrauterine Umgebung auch das widerspiegeln. Statt auf einer lebendigen, “blühenden Wiese“ zu sitzen, wird er mit Starrheit, Ödnis und Eingesperrtsein konfrontiert. Und auch die Bewußte oder unbewußte Ablehnung des werdenden Lebens teilt sich ihm mit: Das intrauterine Klima von Feindseligkeit und Wut ist ein ganz anderes als das von Vorfreude und Liebe. Hier kann der Mutterleibsaufenthalt als Bedrohung, Verfolgung und versuchte Vernichtung erlebt und in späteren Träumen erinnert werden.

Es gibt auch keinen Grund, anzunehmen, daß der Fötus nicht über die selbe Fähigkeit verfügt, wie der sensible Erwachsene: Zu spüren, wo ihm Symphatie entgegengebracht wird und wo nicht, wo er gewollt, erwünscht ist – und wo nicht. Und nun muß man sicher ergänzen: Eine Frau, die in einer Gesellschaft lebt, in der sie als Frau und Mutter nicht gewollt ist, in der sie unterprivilegiert und unterdrückt ist, kann diese Erfahrung des Gewolltseins kaum weitergeben, da sie die selbst nicht machen konnte.

Es hat mich zum Beispiel sehr erschüttert, vor kurzem in einer Fernsehdiskussion eine streng katholische erzogene Frau zu sehen, die davon erzählte, daß sie erst bei ihrem 10. Kind gemerkt hat, daß sie alle diese Kinder nicht gewollt hatte. Und in den USA – in dieser Hinsicht sicher mit der BRD vergleichbar – hat eine Befragung ergeben, daß trotz Pille noch heute ein Drittel der Kinder offen ungewollt sind und ebenfalls nur ein Drittel offen gewollt.

Therapeuten-Berichte sind daher voll von ungeheuer eindrucksvollen Schilderungen, wie abgelehnte Kinder ihr Abgelehnt-Sein dann auch in den Therapien reproduzieren.

Ich möchte Ihnen dazu ein kurzes Beispiel vorlesen aus dem Protokoll einer LSD-Selbsterfahrung einer 20jährigen Frau, die sich seit ihrer Kindheit wie ein verängstigtes Tier gefühlt hat und von massiven Schulgefühlen verfolgt wurde:

„Als ich meine Mutter schwanger sah, fühlte ich, daß ich in ihrem Bauch war und sie schlug mich fürchterlich. Mir wurde klar, daß sie mich abtreiben wollte, und ich fühlte mich ängstlich, weil jeder gegen mich war, und ich fühlte mich sehr schwach … Der Mutterleib ist etwas Unreines. Er enthält Papierfetzen, Glassplitter. Wenn jemand dahin gelangt, ist er ein Nichts. Es ist wie ein Grab, wie in einer Plastiktasche… Ich kann das Meer nicht sehen, weil es mich ertränkt. Wenn ich ertrinke, werde ich ein kleines Baby, ein Fötus, und dann … dann ist da das Grab … Und wenn ich im Mutterleib nicht existiere, wie könnte ich glauben, jemals zu existieren … Ich fühle mich ständig tot und verteidige mich ständig … Wann komme ich aus dieser Situation heraus? Es ist schwarz. Ich komme nackt heraus, die Leute lieben keine Nackten. Ich fühle mich, als ob ich brenne … Ich sehe schwarze Asche … Was ist das? Der Mutterleib ist alles. Ich komme in die Welt, als ob ich verbrannt bin.“

Den gleichen Sachverhalt und seine lebensgeschichtlichen Auswirkungen spiegeln unter anderem auch Untersuchungen wider, die zwanzig Jahre lang an 220 tschechoslowakischen Kindern gemacht wurden, bei denen der Antrag der Mutter auf Schwangerschaftsunterbrechung zweimal abgelehnt worden war. Diese Kinder waren in späteren Partnerschaftsbeziehungen wie auch im persönlichen Befinden deutlich unglücklicher als andere Altersgenossen.

Und schließlich: Der allgemeine Zusammenhang zwischen Streß der werdenden Mutter und verschiedensten Problemen ihrer Kinder – ob Schlaf- oder Lernstörungen, chronische Unruhe, scheinbar unmotiviertes Schreien, oder Gewichtsverluste – ist in mehreren Studien nachgewiesen worden und auch durch Tierexperimente prinzipiell bestätigt worden.

A.P.: Vorgeburtliche Erfahrungen von Abgelehnt oder Nicht-richtig-gewollt-Sein sind also nicht gerade etwas Seltenes in unserer Gesellschaft. Reicht das allein aus, um im späteren Leben destruktiv zu werden?

Janus: So einfach ist das sicherlich nicht. Frühe Belastungen können durch spätere Zuwendungen wenigstens teilweise kompensiert werden. Oft ergibt sich aber eine nahezu schicksalhafte Abfolge: Nicht-gewollt-Sein als Kind einer Mutter, die in schlechten sozialen Verhältnissen lebt und eine unglückliche Partnerschaft hat, das Neugeborene vor allem als Belastung empfindet und entsprechend behandelt. Und die Gesellschaft in Form der Schule zum Beispiel reagiert dann auf den nun vielleicht schon „verhaltensauffälligen“ jungen Menschen wiederum mit Ausgrenzung und Ablehnung.

Interviews mit Müttern jugendlicher Gewalttäter legen solche Zusammenhänge immer wieder nahe. Als Beispiel möchte ich anführen, was die Mutter eines 16jährigen jungen Mannes geäußert hat, der einen schweren Raub mit Mißhandlung seines gleichaltrigen weiblichen Opfers verübt hatte:

“Es fing eigentlich schon bei der Schwangerschaft an. Als ich merkte, daß ich mit ihm schwanger war, da bin ich zum Arzt gegangen und habe gar nicht glauben können, daß ich nochmals ein Kind bekommen sollte. Auch mein Mann war so enttäuscht, weil wir doch nur eine kleine Wohnung hatten. Sie glauben gar nicht, wie unglücklich ich über die Schwangerschaft war! Ich war so nervös und so fertig, war manchmal todtraurig und hatte eine solche Wut auf das Kind. Manchmal dachte ich sogar an Abtreibung, aber das wäre doch ein Unrecht gewesen. Ich war damals so nervös, daß sich die Nervosität bei mir auf das Gesicht gelegt hatte. Ich bekam nämlich ein Muskelzucken, das ich lange Zeit hatte. Auch heute noch, wenn ich nervös bin, wie z. B., als ich von der Tat gehört habe, kam dieses Zucken wieder. Die Aufregung muß sich auf das Kind übertragen haben. Es war sehr schwächlich, als es auf die Welt kam, und wäre fast gestorben. Da habe ich großes Mitleid bekommen und habe es mir anders überlegt. Dann hat er die Muttermilch nicht vertragen, schlecht getrunken und meist alles wieder ausgebrochen. Dadurch hat er sehr wenig zugenommen und war oft krank. Er hatte dauernd Fieber, Halsentzündungen und Ausschläge. Ich weiß auch nicht, woher das kam. Er war so nervös und zappelig, daß er in der Entwicklung weit zurückgeblieben ist … Die Unruhe und Nervosität sind auch heute bei ihm zu spüren…

Wenn Uwe heute aufgeregt ist, dann zuckt er immer mit den Augenmuskeln. Er braust immer so schnell auf. Beides hat er von mir seit der Schwangerschaft. Die anderen drei Kinder sind ganz anders …“

Ich meine, diese Aussagen der Mutter machen den Zusammenhang wahrscheinlich, daß die Tat dieses Jungen eine Wiederholung oder Reinszenierung seiner eigenen vorgeburtlichen Erfahrung war: Er macht das Mädchen zu dem Opfer, das er einst selbst gewesen war. Ich kann mir auch vorstellen, daß das bei den Nationalsozialisten so verbreitete Wort von dem „unwerten Leben“ oftmals ähnliche Wurzeln in deren eigener Lebensgeschichte hatte, daß auf Juden und Kranke projeziert wurde, was man ursprünglich am eigenen Leibe erfahren hatte.

A.P.: Stimmt die Umkehrung: Wenn wir von unseren Müttern schon als Föten gewollt und geliebt werden, sind vorgeburtliche Zeit und Geburt rein paradiesische Erfahrungen und wir kommen rundum gesund und glücklich zur Welt?

Janus: Eins solche Beziehung wäre ganz sicher äußerst wichtig. Aber auch sie nimmt unserem intrauterinen Vorleben nicht jede Dramatik.

Der Zeitpunkt der Geburt ist zum Beispiel wesentlich auch dadurch bedingt, daß wegen der Größe der Frucht die Sauerstoffversorgung durch die Plazenta nicht mehr ausreicht. Offenbar kommt es also in den letzten Wochen vor und auch noch während der Geburt zu Phasen von Sauerstoffunterversorgung, die wahrscheinlich beim Kind zu Erstickungs- und Vergiftungserscheinungen führen. Auch eine Reihe anderer anatomischer Faktoren drängt zu der Annahme, daß selbst der normale Verlauf einer durchschnittlichen Geburt – wenigstens für viele Neugeborene – einen traumatischen Aspekt hat, durch überwältigende Angst und Vernichtungsgefühle bestimmt ist.

Das hat mit der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen zu tun. Einerseits erfolgte eine Vergrößerung von Gehirn- und Schädelvolumen, andererseits verlangt aber der aufrechte Gang einen engeren und festeren Beckenring und eine Einbuchtung durch die S-förmige Wirbelsäule. So entstand ein abgeknickter Geburtskanal, der im oberen Durchmesser queroval und im unteren längsoval ist. Das Kind muß sich daher während des Geburtsvorganges um 90 Grad drehen. Dabei entsteht eine Achsenverdrehung des Halses, die zu Überlastungen der Halswirbelsäule führen kann. Zusätzlich wird die Wirbelsäulenarterie abgeknickt und dadurch die Blutzufuhr zum Gehirn behindert. Die Enge des Geburtskanals bedingt weiter, daß der Mensch nicht – wie die meisten Artverwandten – in der vollen Fruchtblase geboren wird, die den Wehendruck abfängt. Stattdessen überträgt sich dieser Druck während der Austreibungsphase auf den kindlichen Kopf, der dadurch Verformungen ausgesetzt ist, die durch die beweglichen Knochenplatten des Schädels nur teilweise ausgeglichen werden können. Das wiederum führt zu sogenannten „Masseverschiebungen des Gehirns“ : Gehirnquetschungen, die nach den neuesten Erfahrungen zum Beispiel des Offenbacher Gynäkologen Hermann Kurrek bei jeder Geburt mehrfach auftreten. Da sowohl der Durchmesser des kindlichen Schädels als auch der mittleren Beckenebene der Mutter durchschnittlich 10 Zentimeter betragen. Läßt sich auch banal formulieren: Es fehlt 1 Zentimeter für die Weichteile – und dieser Zentimeter wird durch die Verformung des kindlichen Schädels gewonnen.

Zudem vollzieht sich das fötale Wachstum beim Menschen wesentlich rascher als beim Affen, so daß das Neugeborene vergleichsweise größer ist. Obwohl die Evolution diese Probleme zu mildern suchte, indem sie die Schwangerschaft des Menschen um die Hälfte verkürzte – wir bräuchten weitere 8 Monate, um bei unserer Geburt so selbständig lebensfähig zu sein, wie neugeborene Affen – ist also die menschliche Geburt sowohl schwerer als auch langwieriger als bei den anderen Primaten.

A.P.: Heißt das, alle Bemühungen von Frederick Leboyer und anderen um eine „sanfte Geburt“ sind sinnlos?

Janus: Im Gegenteil. Gerade wegen der objektiven Belastungen sollte alles vermieden werden, was dem Kind noch zusätzliche – zumal vermeidbare – Traumatisierungen zufügt. Alle Befunde sprechen jedenfalls dafür, daß entscheidend für die Verarbeitungsmöglichkeit eines Geburtstraumas die Art und Weise ist, wie das Kind in der Welt empfangen und aufgefangen wird. „Sanft“ wird die Geburt für das Kind allerdings nie sein – bestenfalls ein äußerst anstrengendes Abenteuer. Und für die meisten von uns war beziehungsweise ist sie ein Überlebenskampf, das Überwinden einer existenziellen Bedrohung; mit anderen Worten: eine Art Nah-Tod-Erlebnis oder eine „Grenzerfahrung“.

A.P.: Wenn das so ist, was bedeutet es für unser weiteres Leben?

Janus: Lassen Sie mich zunächst noch anfügen, daß die große Bedeutung der Geburt keine ganz neue Entdeckung ist. Bereits Freud hat hier das ursprüngliche Angsterlebnis jedes Menschen vermutet – Angst kommt ja auch von angustiae = Enge – das dann in entsprechend als Bedrohung empfundenen Lebenssituationen im Prinzip wiederholt wird. Und der Analytiker Otto Rank hat bereits 1924 sein Buch „Das Trauma der Geburt“ veröffentlicht – ein Meilenstein in der Entwicklung der pränatalen Psychologie.

Was die Weiterwirkung des Geburtserlebnisses betrifft, können wir auf die von der Psychoanalyse gewonnene Erkenntnis zurückgreifen, daß ein Mensch in einer Konfliktlage spontan auf traumatische Fixierungen zurückfallen kann. Das bedeutet in unserem Fall: Jeder wesentliche Einschnitt im Leben, jede wegweisende Entscheidung, jeder bedeutende Verlust kann Geburtsängste in uns hervorrufen.

Anders formuliert: Wenn sich etwas Grundlegendes in unserem Leben ändert – wie wir es zum ersten Mal gegen Ende unseres fötalen Daseins erlebt haben – können wir das als Zeichen auffassen, daß gleich wieder dieser aufreibende und gefährliche Kampf einsetzten wird; daß wir jetzt wieder geboren werden. Und es gibt natürlich verschiedenen Möglichkeiten, mit diesen Ängsten umzugehen. Zum Beispiel schreckstarr zu werden und damit scheinbar die anstehende Veränderung zu vermeiden. Oder panikartig um sich zu schlagen. Eine andere – sehr verbreitete – Variante ist etwas, das ich „Opferung“ nennen möchte. In einer traumatischen Geburt erlebte sich der Fötus als passives Opfer, das fremden Gewalten hilflos ausgeliefert ist. In diesem Fall ist Geburt gleichbedeutend mit: Es muß etwas Lebendiges geopfert, zerstört werden. Oder auch: Jeder Schritt in größere Selbständigkeit – die Loslösung von der Mutter – jede Veränderung wird bestraft, muß bestraft werden. Das ist die ursprüngliche Erfahrung. Im späteren Leben kann unser Unbewußtes aber bei ähnlichen Situationen einen „Trick“ zu Hilfe nehmen – den seelischen Mechanismus der Verschiebung: Nicht ich bin es, der geopfert werden muß, sondern jemand anderes. Nicht ich habe eine bestrafungswürdige Verfehlung begangen, sondern er. Daher ist die menschliche Geschichte voll von – zumeist ritualisierten – stellvertretenden Opferungen in Entscheidungssituationen. So werden bei Hungersnöten und Naturkatastrophen „die Götter“ mit Opferungen beschwichtigt, nach einer erfolgreichen Jagd die Götter des Waldes mit einer Opferung um Verzeihung gebeten oder vor geplanten Kriegszügen die Götter mittels eines Opfers günstig gestimmt. Der griechische Feldherr Agamemnon tötet seine Tochter Iphigenie, um damit göttliche Erlaubnis für den erfolgreichen Feldzug nach Troja zu erlangen.

An diesen Beispielen wird auch deutlich, welche grundlegende Bedeutung pränatale Erlebnisse für die Entstehung der Religion haben: Vorgeburtliche Allmacht und Bedrohlichkeit des mütterlichen Leibes wird höheren Wesen zugeschrieben, die durch Opfer – Tier- oder Menschenopfer, bis hin zu „Jesus am Kreuz“ – milde gestimmt werden müssen. Umgekehrt läßt sich aus der Grausamkeit der meisten Gottesbilder ableiten, wie stark die vorgeburtliche und geburtliche Traumatisierung gewesen sein muß, die ihnen ihre Basis gab.

A.P.: Vor 4 Jahren ist die DDR zusammengebrochen. Ein heftiger Einschnitt für mindestens 16, wahrscheinlich eher 80 Millionen Deutsche. Nach allem, was Sie sagen, müßte man vermuten, daß dieser Vorgang heftige Geburtsängste in uns entfacht haben dürfte.

Janus: Sie sprechen damit ein weiteres Feld an, auf dem die pränatale Psychologie Erklärungsansätze liefern kann. In der Tat sind Staaten und deren Führer Repräsentanten vorgeburtlicher Zustände. Man kann sogar sagen: Erst die Verwendung gemeinsamer vorgeburtlicher Erfahrungen – beziehungsweise von deren Symbolen – hat es ermöglicht, Menschen in so großen Gruppen zusammenzufassen, wie sie sich heute in Nationen darstellen.

Die ursprüngliche Existenzform des Menschen waren ja kleinere Gruppen. Schon deren Zusammenschluß – beispielsweise zu Stämmen – hatte offenbar „pränatale Unterstützung“: Das alle Mitglieder des Stammes nährende und schützende, gleichzeitig gefürchtete und religiös verehrte Totemtier, das dem Stamm seinen Namen gab, hatte eindeutig plazentara Züge. Das spiegelt sich noch heute wieder in einigen Indianersprachen, in denen das Wort „nagual“ sowohl „Totem“ , als auch „Plazenta“ und „Frau“ bedeutet.

In späteren Hochkulturen übernahm dann der Führer des Staates diese symbolische Bedeutung des Totem. Der Begriff „Pharao“ bedeutet zum Beispiel wörtlich übersetzt: Großer Raum. Und genau mit dieser Symbolik – der Pharao ist der große Raum, der euch alle birgt, beschützt und ernährt – wurden die Ägypter zu treuen Untertanen erzogen und zu Großprojekten wie dem Bau der Pyramiden zusammengefaßt. Eines der angesehensten Ämter im damaligen Ägypten, das sozusagen der „Ministerpräsident“ innehatte, war übrigens „Wächter der Plazenta des Pharaos“. In einem kostbar verzierten Kasten aufbewahrt und bei Prozessionen vorangetragen, wurde sie zum Urbild heutiger Standarten und Wappen. Sehr verknappt zusammengefaßt: Alle späteren Könige, Führer und Staaten bedienten sich im Prinzip derselben Mechanismen.

A.P.: Das dürfte dann für die DDR auch sehr stark zugetroffen haben. Weniger vielleicht in den konkreten Personen Walter Ulbrichts oder Erich Honeckers, aber der allgemeine Anspruch, uns von der Wiege bis zur Bahre zu versorgen und damit entsprechend umfassend über unser Leben zu bestimmen, hätte dann auch ausgesprochen „plazentare Züge“ gehabt.

Seit 1990 müssen ehemalige DDR-Bürger nun raus aus dem schützenden Mutterleib. Vermeiden viele von uns die dabei auftretenden Ängste durch „Opferung“ von Ausländern? Stecken vorgeburtliche Ängste hinter dem Neofaschismus?

Janus: Aus Sicht der pränatalen Psychologie lassen sich Gewalttaten von Gruppen, also auch Kriege und Progrome, auch verstehen als Opfer beziehungsweise Geburtswiederholungen, die ausgelöst werden, wenn die angebliche pränatale Sicherheit einer sozialen Ordnung, eines Staates unglaubwürdig wird oder zusammenbricht. Aber die Betrachtung solcher Phänomene wie den gegenwärtigen Rechtsradikalismus darauf zu reduzieren, hieße, eine ganze Reihe anderer Faktoren – wie unaufgearbeitete Traditionen, autoritäre Unterdrückung oder ökonomische Umwälzungen und deren Folgen – außer Acht zu lassen. Und das wäre natürlich falsch.

Aber ich möchte hier noch eine Überlegung des amerikanischen Psychohistorikers Lloyd de Mause anführen, die für das Verständnis der „Wende“ in der DDR vielleicht von Interesse ist. De Mause nimmt die Höhe der Säuglingssterblichkeit als Indikator dafür, wir weit eine Gesellschaft sich für das Wohlergehen der Babys engagiert, wenigsten ihr Überleben organisiert. Dabei ergaben sich folgende Zahlenverhältnisse: In der DDR starben von 1.000 Kindern bis zum ersten Lebensjahr 9,6; in der Tschechoslowakei 15,3; in Bulgarien 15,4; in Ungarn 17; und in Polen 18,5. Deutlich höher liegen die Zahlen in Rumänien mit 23,4; und in der UdSSR mit 26,0 Todesfällen. De Mause hat auf Grund dieser Zahlen schon 1990 gewalttätige Auseinandersetzungen für Rumänien und die UdSSR vorhergesagt. In den Staaten mit noch höheren Sterblichkeitsraten wie Jugoslawien mit 28,8 und Albanien mit 44,8 Todesfällen im ersten Jahr haben sich keine eigentlichen Demokratiebewegungen entwickelt, oder im Falle Jugoslawiens hat sogar ein mörderischer Bürgerkrieg seinen Einzug gehalten.

Zurück zur DDR: Hier hatte sich die Säuglichssterblichkeit seit 1945 dramatisch gesenkt. Frühsozialisation und totalitärer Charakter des Systems scheinen gleichermaßen in immer stärkeren Widerspruch geraten zu sein. In diesem Sinne könnte man sagen, daß sich das autoritäre DDR-Regime selbst seine eigenen „Totengräber“ herangezogen hat. Nur ein relativ depriviertes Kind neigt zu den starken Anhängigkeitsprojektionen, die Voraussetzung für ein solches System sind. Anders gesagt: Je weniger lebensfeindlich, unterdrückend die Geburt erfahren wird, desto weniger werde ich in meinem späteren Leben bereit sein, unterdrückende gesellschaftliche Zustände hinzunehmen. Und je weniger gewaltsam mit mir schon zu dieser frühen Zeit umgegangen wurde, desto weniger werde ich später gewaltsame Mittel bevorzugen, um Unterdrückung abzubauen.

A.P.: Was kann man mit all den Erkenntnissen pränataler Psychologie anfangen? Welche Schlußfolgerungen sollten von wem daraus gezogen werden?

Janus: für wesentlich halte ich, daß sich hier eine neue, zusätzliche Ebene des Verstehens vieler individueller und gesellschaftlicher Prozesse ergibt. Das sollte von einer viel breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen werden.

Schon das ist allerdings nicht leicht zu erreichen. Wenn wir daran denken, wie groß in der Regel die verdrängungsbedingten Lücken sind, wenn wir versuchen, uns an die Zeit vor unserem 10. Geburtstag zu erinnern, wird, glaube ich, klar, welche intensiven Widerstände dem Rückblick in eine Zeit noch viel grundsätzlicherer Abhängigkeit und Hilflosigkeit entgegenstehen. Zumal das ein Lebensabschnitt ist, der sprachlich kaum zu fassen ist. Nehmen Sie nur das schon besprochene Problem des Nicht-gewollt-Seins. Die Frage danach wird in vielleicht 10 % der Psychotherapien gestellt, aber sie spielt sicher in 70-80 % der Therapien die entscheidende Rolle. Prägt sich doch bereits hier das Urvertrauen oder eben Urmißtrauen aus, das unsere Haltung zur Welt und zu anderen Menschen ganz nachhaltig bestimmt. Doch wie sollen Therapeuten, die ihre eigenen Geburtsängste nicht aufgearbeitet haben, anderen Menschen dabei helfen, das zu tun? Aber sich damit zu befassen, ist eben ausgesprochen belastend oder beängstigend.

Statt dessen wird ein gesellschaftliches Tabu aus dieser Zeit gemacht. Das führt zu Idealisierungen. So wie man sich lieber vormacht, man habe „nur-gute“ Eltern gehabt – um der schmerzlichen Erkenntnis aus dem Weg zu gehen, daß man weniger Liebe bekommen hat, als man gebraucht hätte – so idealisiert man lieber diesen ersten Lebensabschnitt (oder glaubt fest daran, daß Föten überhaupt nichts merken), als sich auch nur die Möglichkeit einzugestehen, so umfassende Qualen und Nöte durchlitten zu haben.

Und auch diese unbewußte Idealisierung hat wieder tückische Folgen – zum Beispiel für die Ökologie. Das hat der englische Psychotherapeut David Wasdell sehr deutlich herausgearbeitet: Wir neigen dazu, unsere „Mutter Erde“ so verantwortunglos und passiv zu benutzen, wie der Fötus einer – idealisierten – Gebärmutter. Nahrung kommt von alleine, Ausscheidungs- und Giftstoffe können in unbegrenzten Mengen an sie abgegeben werden, ihre Ressoucen sind unendlich. Sie ist nur für uns da.

Aber zum Schluß möchte ich auf den zur Zeit schon sehr praktisch anwendbaren Aspekt pränataler Psychologie hinweisen – die Beziehung zwischen Eltern und Ungeborenem. In einem Satz: Elternschaft beginnt nicht erst mit der Geburt, sondern mit der Zeugung. Was in diesen 9 Monaten passiert, wie der Fötus seine Umgebung erlebt, das läßt sich positiv beeinflussen. Mutter und Kind können bereits in dieser Zeit eine emotionale Beziehung zueinander aufbauen. Das bisher umfassendste Konzept einer solchen „Tiefenkommunikation“ haben Thomas Verny und Pamela Weintraub in ihrem Buch „Das Leben vor der Geburt“ vorgelegt. Musik, Berührung, Sprechen, Tagebuchschreiben und vieles andere wird hier kombiniert. Durch die hierbei ebenfalls mögliche Tiefenentspannung und die Lockerung von Schambeinknorpel und Kreuzbein-Beckenknochengelenken können zwei entscheidende Zentimeter gewonnen werden – also wesentliche Wurzeln körperlicher Traumatisierung während der Geburt umgangen werden.

 

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Frühere Veröffentlichungen finden sich in ICH – die Psychozeitung 2/1994 sowie in „Weltall, Erde …ICH“ bzw. www.weltall-erde-ich.de.

Mehr zu und von Ludwig Janus: http://www.ludwig-janus.de/

Am 30. Mai 2019 hat Ludwig Janus in Heidelberg das Institut für Pränatale Psychologie und Medizin gegründet.

Tipps zum Weiterlesen:

https://weltall-erde-ich.de/category/natuerliche-geburt/