von Andreas Peglau
Im September 1930 trafen Reich und Freud letztmalig zusammen. Reich berichtet, dass dieses Unter-vier-Augen-Gespräch die schärfste Auseinandersetzung war, die sie hatten. Ein ausgesprochen wütender Freud habe ihm vorgeworfen, dass er mit seinen politischen Aktivitäten »den mittleren Weg der Psychoanalyse« verlasse, und gemeint, es sei nicht ihrer beider Aufgabe, die Welt zu retten. Wahrscheinlich war es auch dieses Treffen, bei dem sie sich darauf einigten, dass es besser sei, wenn Reich sein Wirken für einige Zeit nach Berlin verlege.Dass Reich dennoch bei seinem politischen Engagement blieb, ist bekannt. Gänzlich unbekannt war bis vor kurzem, wie weit sein Engagement auch bezüglich der Bereitschaft zur Übernahme offizieller Ämter gegangen war.
Als ich 2011 die Ausbürgerungsakten Reichs im Auswärtigen Amt in Berlin sichtete (siehe auch Ausgebürgerte Psychoanalytiker), fiel mir die dort über Reich festgehaltene Behauptung auf, er habe sich im Herbst 1930 für die Nationalratswahl als KPÖ-Kandidat aufstellen lassen. Da in diesen Akten zahlreiche Fehlinformationen enthalten waren und auch kein anderer Reich-Forscher von einem solchen Sachverhalt wusste, war ich unsicher, wie ich das zu bewerten hätte.
Philip Bennett, dem ich davon berichtete, bat daraufhin Sanna Stegmaier, vor Ort in Wien danach zu recherchieren. Sie entdeckte schließlich im Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek den entscheidenden Beleg:
Am 19.10.1930 veröffentlichte die Wiener Rote Fahne auf Seite 1 die Namen der KPÖ-Kandidaten für die Nationalratswahl. Johann Koplenig, der spätere langjährige KPÖ-Vorsitzende, führte die Wiener Region Nummer 7 an: Rudolfsheim/Ottakring/Hernals.
Und wirklich stand dort, nur zwei Plätze hinter ihm: »Dr. Reich Wilhelm, Arzt«.
Aufgrund der geringen Mitglieder- und Wählerzahlen bestand freilich für keinen kommunistischen Kandidaten eine Chance, in den Nationalrat zu kommen. Da dies auch Reich klar gewesen sein muss, war seine Kandidatur wohl in erster Linie eine weitere Möglichkeit, seinen politischen Standpunkt zu bekunden.
Dass die Nachricht über dieses erneute Parteiengagement Reichs auch seine Wiener Fachkollegen erreicht (und zur Zuspitzung ihrer Konflikte beigetragen) hat, kann nicht nur aufgrund des exponierten Platzes der Mitteilung in der Roten Fahne als sicher gelten.
Vermutlich bezieht sich auch Ernst Federn, der Sohn des Freud-Stellvertreters Paul Federn darauf, wenn er von einem Wutausbruch Reichs berichtet, den dieser angeblich während einer Veranstaltung, in der er sich als kommunistischer Kandidat für den Wiener Stadtrat präsentierte, gehabt habe. Doch die Wahlen zum Wiener Stadtrat erfolgten alle fünf Jahre: 1927 und 1932. Beim ersten Termin war Reich noch kein KPÖ-Mitglied, beim zweiten lebte er längst in Berlin. Ernst Federn dürfte daher die Nationalratsratswahl von 1930 gemeint haben. Ich denke: Wenn der damals 16-jährige Ernst davon wusste, dann sicher ebenfalls sein Vater Paul – und spätestens dadurch auch Sigmund Freud.
Die KPÖ schnitt dann wie zu erwarten bei den Wahlen am 9.11.1930 ausgesprochen schlecht ab: Mit knapp 21.000 erhielt sie gerade einmal 0,6 Prozent der abgegebenen Stimmen und wurde erstmals sogar von den österreichischen Nationalsozialisten übertrumpft.
Im November 1930 übersiedelte Reich nach Berlin.
*
Zusätzliche Informationen und Quellenangaben in A. Peglau Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, S. 55f.
Tipps zum Weiterlesen:
„Amtliche Kommunistenförderung“: Zweimal Wilhelm Reich in der Wiener Arbeiter-Zeitung, 1930