Verbotene Psychoanalyse? Zwischen „soll unangetastet bleiben“ und „ist auszumerzen“ (Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Teil 4)

von Andreas Peglau

Der während der Berliner Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 ausgerufene „Feuerspruch“ Nummer vier war eindeutig auf die gesamte analytische Lehre und ihre Schriften ausgerichtet: »Gegen seelenzersetzende Überschätzung des Trieblebens. Für den Adel der menschlichen Seele. Ich übergebe dem Feuer die Schriften der Schule Sigmund Freuds!«
Doch bereits zwei Monate später, im Juli 1933, wurden für die Verbote analytischer Schiften Kriterien herangezogen, die man – für NS-Verhältnisse – nur als erstaunlich tolerant bezeichnen kann. Nach den fanatisierten NS-Studenten, die die Bücherverbrennung initiiert hatten, kamen nun Bürokraten zum Zuge – und Wissenschaftler.

Verbotene Psychoanalyse DB

Einer der im Original erhalten gebliebenen Karteikästen, anhand derer in der Deutschen Bücherei Leipzig 1933 die Psychoanalyse zensiert wurde (Foto A. Peglau 2012).

Die 1933er Kampfbundlisten

Im Auftrag des Berliner Magistrats erstellten Berliner Bibliothekare im April 1933 »Schwarze Listen« über »Schöne Literatur« und die »Belehrende Abteilung«. Sie betonten dabei mehrfach, dass darüber hinaus insbesondere eine Liste »Sexualwissenschaft« vonnöten sei (Treß 2011, S. 151f.). Damit ging es um jenes Spektrum sexueller Aufklärungsschriften, dem die reaktionäre »Schund- und Schmutz«-Gesetzgebung zuvor recht machtlos gegenübergestanden hatte.
Mitte Mai wurde unter Federführung des Kampfbundes für deutsche Kultur ein »Arbeitsausschuss« gegründet, der deutschlandweit gültige Verbotsregelungen vorbereiten sollte. Mit dem Vorsitz wurde der Geschäftsführer der Kampfbund-»Reichsleitung« und »spätere Stabschef des ›Amtes Rosenberg‹ Gotthard Urban« betraut (ebd., S. 278).
Auch der als „Feuerspruch“-Autor in Frage kommende Alfred Baeumler war wieder mit dabei. Im Auftrag des Kampfbundes hatte er die Verantwortung für die Listen wissenschaftlicher Publikationen übernommen (ebd., S. 163).

Am Freitag, dem 16.6.1933, um 11 Uhr begann die erste Sitzung im Gebäude der Deutschen Bücherei in Leipzig.

Verbotene Psychoanalyse DB Leipzig

Das Gebäude der 1916 gegründeten Deutschen Bücherei Leipzig (heute Deutsche Nationalbibliothek). Quelle: http://www.dnb.de/SharedDocs/Bilder/DE/DNB/ArchitekturLeipzig/Fototour100JahreDeutscheBuechereiGebaeude/GruendungsbauDB.jpg?__blob=zoom

Zensoren

Baeumler forderte zunächst »klare Begründungen für jedes einzelne Werk, da sie in die ganze Welt hinaus getragen werden sollen« (LA A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 16939, S. 1). Am Nachmittag wurden dann unter anderem Festlegungen zum Verzeichnis »Sexualliteratur« getroffen, aus dem man dem Leipziger Psychologie-Professor Hans Volkelt »eine Reihe von Einzelwerken« »zur nochmaligen Prüfung« übergab (ebd., S. 3). Aus dem Sitzungsprotokoll geht nun auch hervor, welche Aufgabe der von Baeumler initiierten und von Volkelt geleiteten Kommission zugedacht war: Sie sollte »die Schriften der Psychoanalyse für die Schwarzen Listen bearbeiten« (ebd., S. 5). Sicherlich war die Adlersche Individualpsychologie ebenfalls gemeint: Auch wenn im Weiteren gelegentlich von der »Psychoanalyse«-Liste gesprochen wurde, ging es offenbar immer um das Verzeichnis »Psychoanalyse und Individualpsychologie«.
Da vor Baeumlers Eingreifen psychoanalytische Schriften keinerlei Erwähnung gefunden hatten, könnte er – wie möglicherweise auch bei der Bücherverbrennung – derjenige gewesen sein, der erst das Augenmerk darauf lenkte.
Neben Hans Volkelt waren in der von ihm geleiteten Kommission »die Herren: Professor Dr. [Otto] Klemm, Dr. [Adolf ] Erhardt und Dr. Helmuth Burkhardt (sämtlich vom Psychologischen Institut der Universität Leipzig) sowie Herr Privatdozent Dr. med. Hans Bürger-Prinz von der Psychiatrischen Nervenklinik der Universität Leipzig« (ebd.) vertreten.[1]

Bedenkt man, dass das Leipziger Institut im Sommer 1933 insgesamt nur neun wissenschaftliche Mitarbeiter hatte[2] und vier von diesen in der Kommission mitwirkten – Burkhardt, Erhardt, Klemm und Volkelt –, ist es nicht übertrieben zu formulieren: Das Leipziger Psychologische Institut hatte maßgeblichen Einfluss auf die Psychoanalyseverbote. Jedoch ebenso darauf, welche analytischen Schriften nicht verboten wurden. Denn es sollte keinesfalls zu einem Rundumschlag kommen – weder gegen die Analyse noch gegen die Individualpsychologie.

Kriterien

Das lässt sich anhand eines Dokumentes aus dem Archiv der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig belegen, in dem die Leipziger Kommission ihre Grundsätze erläutert:

»1. unangetastet bleiben soll dasjenige Schrifttum, in welchem die Psychoanalyse und die Individualpsychologie von ihren Begründern und denen, die sie wissenschaftlich weiterbildeten, dargestellt wird. Von dem geistigen Bilde dieser Art des Denkens und Forschens soll kein irgend wesentlicher Zug getilgt werden.

    1. auszumerzen ist dasjenige Schrifttum, das – ohne von dem Grundsatz 1 betroffen zu werden – mit Sinn und Geist der Nationalsozialistischen Bewegung in einem nicht verträglichen Widerspruche steht.«

Die Anwendung des zweiten Grundsatzes, hieß es weiter, führe zu folgenden fünf Hauptgesichtspunkten, aufgrund derer die »Tilgung« einer Schrift zu fordern sei:

»a. blosse Ausbreitung der Lehre, oft in popularisierender Weise und zu billigem Preis,
b. Ausmünzung der Lehre für marxistische, kommunistische oder pazifistische Propaganda,
c. Vorstösse in die einzelnen Gebiete geistigen Lebens, die das völkische und staatliche Wertbewusstsein erschüttern,
d. Übergriffe in das Gebiet des Erziehertums und des religiösen Lebens,
e. unnötige Häufung und Sammlung von Einzelfällen der sexualpathologischen Erfahrung, die oft das Pornographische streifen.«

(Komplettes Dokument: https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/wp-content/uploads/2014/11/Volkelt-Kommission-1933.pdf)

Psychoanalyse (und Individualpsychologie) galten somit also prinzipiell als erhaltenswert – auch für den Nationalsozialismus. Man billigte ihnen wissenschaftlichen Charakter zu und verzichtete auf Diffamierungen. Jedoch wollte man offenbar nicht leugnen, dass aus ihnen auch Schriften hervorgegangen waren, die mit dem NS-Regime nicht kompatibel waren. Entsprachen sie aber der in Punkt 1 geforderten grundlegenden Bedeutung, sollten sie dennoch erhalten bleiben. Nur was dem Nationalsozialismus zuwiderlief und keine wissenschaftliche Bedeutung hatte, sollte »ausgemerzt« werden.

Hier waren also definitiv keine Zensoren am Werk, die die Psychoanalyse so tief wie möglich treffen wollten.

Opfer

Hauptsächlich in der Rubrik »Psychoanalyse und Individualpsychologie«, in drei Fällen aber auch in »Sexualliteratur«, wurden Verbote beantragt für die folgenden 41 psychoanalytischen bzw. der Analyse nahestehenden[3] Autorinnen und Autoren:

Siegfried Bernfeld, Felix Boehm,[4] Marie Bonaparte, Claude D. Daly, Helene Deutsch, Paul Federn, Sergei Feitelberg,[5] Otto Fenichel, Sándor Ferenczi, Anna Freud, Sigmund Freud, Erich Fromm, Fritz Giese, G.H. Graber, Georg Groddeck, Imre Hermann, Eduard Hitschmann, Istvan Hollos, Hermine Hug-Hellmuth, Hellmuth Kaiser, Leo Kaplan, Melanie Klein, Aurel Kolnai, René Laforgue, Georg Langer, Ruth Mack Brunswick, Bronislaw Malinowski, Heinrich Meng, Carl Müller-Braunschweig, Oskar Pfister, Annie Reich,[6] Wilhelm Reich, Theodor Reik, Alfred Robitsek, Philipp Sarasin, Wilhelm Stekel, Adolf Storfer, Georg Wanke,[7] Fritz Wittels, Nelly Wolffheim, Hans Zulliger.

Insgesamt wurden 64 Schriften dieser Autorinnen und Autoren mit Titeln benannt.Verbotene Psychoanalyse 1

Verbotene Psychoanalyse, Teil 3

Index „Psychoanalyse und Individualpsychologie“ 1933.

Sowohl im Umgang mit Sigmund Freud wie auch mit Alfred Adler scheint man sich daran gehalten zu haben, »dasjenige Schrifttum« weitgehend unangetastet zu lassen, »in welchem die Psychoanalyse und die Individualpsychologie von ihren Begründern […] dargestellt wird«. Bei Adler blieb es dabei, dass man nur Individualpsychologie in der Schule für indizierungswürdig hielt. Bei Freud wurde die nur die Sonderausgabe der Traumdeutung – also nicht etwa dieses Werk an sich – für nicht erhaltenswert angesehen (BA NS 8/288, Bl. 167) sowie Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. Alle anderen Einzelausgaben seiner Schriften blieben jedoch verschont. Weder Totem und Tabu noch Das Unbehagen in der Kultur, mit denen er doch eindeutig Vorstöße in »Gebiete geistigen Lebens« wagte, »die das völkische und staatliche Wertbewusstsein erschüttern«, wurden aufgeführt. Und war nicht Freuds Schrift Die Zukunft einer Illusion, in der er Religion als kollektive Zwangsneurose beschrieb, ein erwähnenswerter »Übergriff« in das Gebiet des religiösen Lebens? Dennoch kam es auch hier nicht zum Verbotsvorschlag.

Da 1933 allein in deutscher Sprache ein Vielfaches an analytischen Publikationen vorlag – schon Freud hatte zu diesem Zeitpunkt über 130 Veröffentlichungen vorzuweisen[8] –, heißt das: Es wurde nur ein sehr kleiner Teil analytischer Publikationen verboten. Dabei hielt man sich – weitestgehend – daran, gegen Publikationen vorzugehen und nicht gegen Autoren: Viele der Aufgelisteten hatten mehr publiziert als verboten werden sollte.

Nimmt man die zitierten Grundsätze der Kommission beim Wort, wurde damit indirekt zahlreichen Publikationen zugebilligt, Psychoanalyse und Individualpsychologie »wissenschaftlich weitergebildet« zu haben.

Wilhelm Reich – als einziger komplett verboten

Nur bei einem Psychoanalytiker wurde 1933 eine Totalindizierung für nötig erachtet: Wilhelm Reich. Schon im ersten »Entwurf« für die Verbotsliste »Sexualliteratur«, der vermutlich im Mai 1933 erstellt wurde, war er enthalten – mit dem Vermerk: »Sämtliche Veröffentlichungen« (BA R 56 V/70 a, Blatt 61).

Verboteten Psychoanalyse: Wilhelm Reich

Wilhelm Reich: erstes Verbot 1933.

Dem stimmte am 16.6.1933 der Leipziger »Arbeitsausschuss« zu (LA A Pr.Br.Rep. 030 Nr. 16939, Blatt 50). Reich komplett zu verbieten, war also bereits Konsens, als jene Liste »Psychoanalyse«, auf der Freud lediglich mit zwei Schriften auftauchen sollte, erst in Auftrag gegeben wurde.

Im Leipziger Index wurde dann unter »Psychoanalyse und Individualpsychologie« Reichs Schrift Die Funktion des Orgasmus als »unrein« hervorgehoben. In »Sexualliteratur« benannte man die Titel Der Einbruch der Sexualmoral, Der sexuelle Kampf der Jugend sowie Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral und forderte erneut das Verbot sämtlicher seiner Schriften ein. Begründet wurde dies damit, dass er »die sexuellen Probleme ausschließlich vom sozialistischen und psychoanalytischen Standpunkt aus« behandle (BA NS 8/288, Bl. 143). Dieses Verbot betraf zu diesem Zeitpunkt sieben bereits veröffentlichte Bücher sowie diverse Artikel. Insgesamt waren bis zum Sommer 1933 mindestens 45 analytische Veröffentlichungen von ihm erschienen (Laska 2008, S. 142f., 145).

Geheime Verbote

Am 11.8.1933 konnten die Leipziger Zensoren dem Kampfbund 250 Kopien der inzwischen  vom Propagandaministerium bestätigten Liste »Psychoanalyse und Individualpsychologie« zusenden. Doch selbst nach dem Absegnen durch dieses Ministerium hatten die Kampfbundlisten nicht nur keine Gesetzeskraft: Sie blieben sogar dauerhaft geheim. Dennoch wurden sie angewendet.

Statt jedoch, wie ursprünglich beabsichtigt, die Verbotsbegründungen »in die ganze Welt hinaus zu tragen«, wurden sie nun bei Strafandrohung »streng vertraulich« weitergegeben: vermutlich eine Reaktion auf die internationale Empörung über die Bücherverbrennung und den damit einhergehenden Prestigeverlust für den NS-Staat, der sich ja als neuer deutscher Kulturträger präsentieren wollte (Barbian 1994, S. 525). Das hatte weitreichende Konsequenzen, auch für den Umgang mit analytischer Literatur.

Neben den Zensoren kannten nur die Verantwortlichen des Börsenvereins, die betroffenen Verlage und Bibliotheken die Verbotslisten, durften aber diese Kenntnis nicht weitergeben, nicht einmal an die Buchgrossisten oder die Inhaber der Buchläden. So beklagte die Zeitschrift Der Buchhändler im neuen Reich, dass Thomas Manns Bücher auch nach dessen Ausbürgerung 1936 »ungehindert feilgeboten und verkauft werden«, und leitete daraus die Forderung ab: »[D]er deutsche Buchhändler hat hier Gelegenheit zu beweisen, daß er – ohne Verbote – weiß, was zu tun ist.« »Verbotslisten […] gab es nicht«, erinnerte sich entsprechend ein damaliger Buchhändler: »Allein aus Selbsterhaltungsgründen müssten wir so etwas gekannt haben. Das ›gesunde Volksempfinden‹ des Buchhändlers hatte hier zu sprechen und zu entscheiden« (zitiert in Schäfer 1983, S. 14). So kam es, dass »im Buchhandel stets auch verbotene Literatur kursierte, die dann über aufwendige Razzien der Gestapo oder des SD beschlagnahmt werden musste« (Barbian 2008, S. 23).

Auch die betroffenen analytischen Autoren dürften in der Regel höchstens indirekt – eben durch die Beschlagnahmungen ihrer Bücher oder durch erzwungene Auflösungen von Verlagsverträgen – erfahren haben, dass sie auf den Verbotslisten standen. Offiziell mitgeteilt wurde es ihnen nie.

Dass dürfte zugleich einer der entscheidenden Gründe gewesen sein, warum während der gesamten NS-Zeit in Fachliteratur wie dem Zentralblatt für Psychotherapie unter den ohnehin oft positiv erwähnten analytischen Veröffentlichungen verbotene Publikationen auftauchten.

Die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«

Einen – weiterhin geheimen – »reichseinheitlichen« Index konnte das Propagandaministerium aufgrund diverser Kompetenzstreitigkeiten erst Ende 1935 fertigstellen. Er nannte sich »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« und wurde zum wichtigsten und umfassendsten Instrument der Verbotspolitik.
In der Ausgabe der Liste von 1935[9] war erstmals Sigmund Freud mit einem Gesamtverbot belegt – womit nun doch auf das Herz der psychoanalytischen Literatur gezielt worden war. Auch Anna Freuds »sämtliche Schriften« waren jetzt indiziert.
Jedoch hatte sich nur in Bezug auf die beiden Freuds eine härtere Gangart durchgesetzt, als sie die Volkelt-Kommission im Sinne gehabt hatte. Denn als weitere psychoanalytische Autoren waren – mit je einem Buch – nur noch Heinrich Körber und Alexander Mette hinzugekommen. Außerdem »Ernst Parell« – also der unter einem bislang unerkannten Pseudonym schreibende Wilhelm Reich.

Ab 1936 folgten zur Aktualisierung der Liste Verbotskonferenzen mit Vertretern unter anderem aus dem Propaganda- und Erziehungsministerium, der Gestapo, dem Sicherheitsdienst und der Parteiamtlichen Prüfungskommission (Barbian 1993, S. 526). Ende 1938 enthielt dieser Index 4.175 verbotene Einzeltitel und 565 weitere Eintragungen mit dem Vermerk »Sämtliche Schriften« (ebd., S. 528).
Die Zahl betroffener Schriften dürfte damit im Vergleich zu den 1933er Kampfbundlisten mindestens auf das Drei- bis Vierfache angewachsen sein. Nun war auch eine weit größere Zahl sowohl ausländischer Verlage (zum Beispiel aus Warschau, Oslo, London, New York, Toronto, Moskau, Paris) einbezogen als auch fremdsprachige Schriften, zum Beispiel in sorbischer, polnischer, tschechischer, französischer, norwegischer, niederländischer, englischer und russischer Sprache. Darüber hinaus gab es eine eigene Rubrik verbotener »Serien und Zeitschriften« sowie eine von Verlagen, »deren Gesamtproduktion verboten ist« (Reprint der »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums«).
Dementsprechend hätten sowohl in Deutschland als auch weltweit erschienene, sowohl deutsch- als auch fremdsprachige, sowohl in Buch- als auch in Zeitschriften- bzw. Artikelform publizierte psychoanalytische Schriften verboten werden können, dazu natürlich auch das vollständige Repertoire des Internationalen Psychoanalytischen Verlages: insgesamt mehrere tausend Publikationen.[10]

Bezüglich der Psychoanalyse war jedoch, nachdem den beiden Freuds ein Totalverbot erteilt wurde, von den erweiterten Indizierungsmöglichkeiten kaum Gebrauch gemacht worden. Vergleicht man die 1935er und 1938er Liste, tauchen aus dem Kreis analytischer bzw. analysenaher Autoren nur zwei weitere Namen auf, deren indizierte Bücher aber nichts mit Psychoanalyse zu tun hatten: Eckard von Sydow und Kristian Schjelderup. Von anderen, schon zuvor berücksichtigten Autoren (Malinowski, Annie Reich, Reik, Stekel, Wittels) waren Bücher hinzugekommen (bei Stekel »Sämtliche Werke«). Als Mitautor der von Max Horkheimer herausgegebenen Studien über Autorität und Familie war auch Erich Fromm betroffen.

Die weitaus größte Zahl an psychoanalytischen und psychoanalysenahen Autoren und Autorinnen blieb weiterhin unbehelligt von Indizierungen. Wer auch immer jetzt dafür verantwortlich war, scheint sich – abgesehen vom Umgang mit Sigmund Freud und seiner Tochter – noch immer an die von der Volkelt-Kommission vorgeschlagenen Kriterien gehalten zu haben.

1940: Pauschalverbot und zwei Ergänzungen

Am 15.4.1940 stellte eine Anordnung alle »voll- und halbjüdischen« Autoren pauschal unter Totalverbot – also auch viele Analytiker. Wohl nicht zuletzt, weil damit für den Buchhandel ja vielfach weiter nicht klar war, wen das betraf, wurden weiter einzelne Autoren und Werke auf die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« gesetzt.

Was Publikationen analytischen Inhalts betrifft, gab es nur zwei Ergänzungen. Zum einen wurde das Verbot für Annie Reich auf »sämtliche Schriften« ausgedehnt – was sich auf die zwischen 1930 und 1932 erschienenen Aufklärungsschriften Ist Abtreibung schädlich?, Das Kreidedreieck und Wenn dein Kind dich fragt gerichtet haben dürfte, mit denen sie zu Wilhelm Reichs sexualpolitischen Aktivitäten beigetragen hatte. Zum anderen kam Karl Motesiczky hinzu, der bei Reich eine Ausbildung zum Psychoanalytiker begonnen hatte. Unter dem Namen »Karl Teschitz« hatte er sich von 1934 bis 1937 intensiv an Reichs faschismuskritischen Exilpublikationen in der Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie beteiligt, was 1941 mit dem Verbot seiner sämtlichen unter diesem Pseudonym verfassten Publikationen geahndet wurde.
Beide zusätzlichen Verbote waren also eng mit dem politischen Engagement Wilhelm Reichs verknüpft.

Reichs publizistische Tätigkeit sollte auch in den Jahren nach seiner Emigration von Deutschland aus weiter beobachtet, und die Liste seiner staatsgefährdenden Schriften mehrfach vervollständigt werden. Verschiedene Behörden verboten teilweise ein- und dieselben Bücher.
Da Verbote von Reichs Schriften im Reichsanzeiger veröffentlicht wurden, war er der einzige Psychoanalytiker, bei dem Indizierungen öffentlich gemacht wurden.
Auch das unterstreicht seine aus der Gruppe der Analytiker herausragende Bedeutung – als Feind des Hitler-Staates.

Keine "Liqidierung" Reichsanzeiger

Eine der gegen Reichs Publikationen gerichteten NS-Maßnahmen: Verbote im Reichsanzeiger.

 

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Stark gekürzter sowie veränderter Auszug aus Andreas Peglau: „Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“, 3. und erweiterte Auflage 2017, Gießen: Psychosozial. Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus

Dessen KOMPLETTES Quellen- und Literaturverzeichnis findet sich hier: Quellen und Literatur Peglau Unpolitische Wissenschaft, Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Psychosozial-Verlag-Gießen 2017

 

Anmerkungen

[1] Biographische Informationen zu diesen Männern: Peglau 2017, S. 207-210.
[2] In Loosch (2008, S. 50) sind sie für 1934 aufgelistet. Für den Sommer 1933 bestätigte mir Anneros Meischner-Metge – von ihr bekam ich auch Literatur und Literaturhinweise zur Geschichte des Leipziger Psychologischen Instituts –, dass dieselben Personen als Mitarbeiter aufgeführt waren.
[3] Der Begriff »nahestehend« ist nicht eindeutig zu fassen und führt bei anderer Auslegung zu einer anderen Zahl betroffener Autoren. Ich habe hier zum Beispiel Bronislaw Malinowski eingeordnet, weil er – obwohl kein Analytiker – im Internationalen Psychoanalytischen
Verlag veröffentlichte. Ebenso habe ich Wilhelm Stekel und Fritz Giese hinzugezählt, obwohl sich bei beiden darüber streiten lässt, ob sie 1933 (noch) als Analytiker gelten sollten.
[4] Boehm dürfte es, ebenso wie Otto Fenichel, deshalb getroffen haben, weil sie Koautoren Wilhelm Reichs für den Band Über den Ödipuskomplex waren. Beide tauchen jedenfalls im Gegensatz zu Reich kein weiteres Mal auf. Allerdings wurde das Thema frühkindliche Sexualität – für das ja der Ödipuskomplex stand – oft als besonders anstoßerregend angesehen. Auch das könnte zum Verbot geführt haben.
[5] Der Ingenieur und Arzt Sergei Feitelberg tauchte nur als Koautor einer indizierten Schrift Bernfelds auf. Zu seiner Biografie siehe Fallend/Reichmayr (1992, S. 183). Ob er 1933 sein Medizinstudium schon abgeschlossen hatte, ist dort nicht vermerkt. Psychoanalytikerwurde er nie.
[6] Sie wird hier namentlich nicht erwähnt, war aber (zusammen mit W. Reich und anderen) Mitautorin der unter »Sexualliteratur« zur Indizierung vorgeschlagenen Schrift Das Kreidedreieck (Mühlleitner 1992, S. 255f.).
[7] Die Tatsache, dass der im thüringischen Friedrichroda wirkende Georg Wanke bereits 1928 verstorben war, belegt, dass auch bei der Psychoanalyse der Zugriff nicht auf noch lebende Autoren eingeschränkt wurde.
[8] Dabei sind Freuds zahlreiche Vor- und Gedenkworte nicht mitgerechnet.
[9] Diese stellte mir Werner Treß am 24.11.2010 zur Verfügung. Lydia Marinelli verweist darauf, dass laut Dietrich Strothmanns Buch Nationalsozialistische Literaturpolitik (1963) die bayerische Politische Polizei bereits 1934 ein regionales Gesamtverbot für Freuds Werke erlassen habe (Marinelli 2009, S. 82). Das konnte ich nicht überprüfen.
[10] In Fallend et al. (1985, S. 125) werden für die gesamte Zeit des Bestehens des Internationalen Psychoanalytischen Verlages – zusätzlich zu Freuds Veröffentlichungen – »etwa 250 bis 300 Einzelpublikationen« erwähnt. Grinstein 1956–1960 belegt, dass die Zahl internationaler analytischer Buch- und Artikelveröffentlichungen bis 1938 um ein Vielfaches darüber hinausging.

 

Tipp zum Weiterlesen:

„Vergeßt das Unbewußte nicht!“ Die Neue deutsche Seelenheilkunde (Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Teil 5)