Sehr widersprüchliche Gefühle. Rezension: „Medizin im Nationalsozialismus“

Zu der ebenso informativen wie konstruktiv verunsichernden Dokumentation Walter Wuttke-Gronebergsvon Andreas Peglau.

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 Auf 400 Seiten, im A 4-Format, sind in diesem Buch – versehen mit knappen, kompetenten und provokativen Kommentaren – weite Bereiche des alltäglichen Faschismus dokumentiert: Gesundheitserziehung, Geburtshilfe, Sozialversicherung, Psychotherapie, „Neue Deutsche Heilkunde“, „Rassenlehre“, „Vernichtungslehre“, Verflechtungen von Wirtschaft und Gesundheits- bzw. Vernichtungssystem. Es ist also extrem informativ. Aber es ist viel mehr als ein Wissensspeicher. Nicht nur der Inhalt – auch die Form ist hier entscheidend: Angegilbtes Papier, altertümlich erscheinende Buchstaben, verschnörkelte Unterschriften, längst vergangene (Haar)Moden und „markige“ Gesichter auf nachgedunkelten Photographien … In (kopierter) Originalfassung präsentiert sich, woraus normalerweise bestenfalls zitiert wird: Gesetzblätter, „Aufklärungs“-Plakate, Geheimbefehle, persönliche Briefe, kitschige Gedichte, Propagandamaterialien, „Sippentafeln“, (Schul)Buchseiten, Arzneimittelwerbungen; Kosten/Nutzen-Abwägungen aus KZ’s, usw.usf. Was hier dokumentiert wird, ist (vorwiegend) die damals herrschende Meinung und die Meinung der damaligen Herrscher.

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Walter Wuttke-Groneberg: „Medizin im Nationalsozialismus. Ein Arbeitsbuch“, 1982 erschienen in der Schwäbischen Verlagsgesellschaft, Wurmlingen

Trotzdem: Diese Dokumente bringen mir nicht nur ihre Entstehungszeit näher, sondern auch einige der Menschen, die sie verfaßt haben. Das muß ich erklären.

Etliches in diesem Buch ist so eindeutig widerwärtig wie das Rezept des „Direktors des Anatomischen Instituts der Medizinischen Akademie in Danzig“, Professor Dr. R. Spanner, zur Herstellung von wohlriechender (!) Seife aus Menschenfett. (S. 27)

Aber anderes, was hier insgeheim oder höchstoffiziell von Beteiligten über „Medizin im Nationalsozialismus“ mitgeteilt wurde, weckt sehr widersprüchliche Gefühle in mir.

Um damit nicht ganz allein zu bleiben, schlage ich einen Test vor: Welche der in den folgenden beiden Beispielen getroffenen Aussagen lehnst Du/lehnen Sie ab? Welche nicht?

Beispiel 1 – Ganzheitliche Medizin:

„Einerseits habe ich selbst Erfahrungen am eigenen Körper hinter mir über die Wirkung der Naturheilkunde. Ich kenne auch viele erstaunliche Heilerfolge der Naturheilmethoden an Freunden und Bekannten. Es wäre feige von mir, wenn ich das nicht öffentlich anerkennen würde und die praktischen Folgerungen zöge. Es wäre ein Verbrechen an meinem Volke, wenn ich nicht alles tun würde, dafür zu sorgen, daß die Naturheilkunde den Rang erhält, der ihr gebührt… Die Schulmediziner mögen sich vor Augen halten, … daß die Medizin sich in einer Krise befindet – in einer Krise, wie übrigens ein Großteil der gesamten Wissenschaft. Gestern erst hat der neue Rektor der Münchener Universität in einer ausgezeichneten Rede festgestellt, daß leider die Wissenschaft auf Abwege geraten ist … Er sprach von einer Atomisierung der Wissenschaft, vom Studium im kleinsten Detail, ohne den Blick für das Ganze … Wir müssen erwarten, daß Schulmedizin und Naturheilkunde sich gegenseitig befruchten und ergänzen.“ (S. 160)

Soweit der „Stellvertreter des Führers, Reichsminister Rudolf Heß“, 1933 auf einen Kongreß der deutschen Heilpraktiker.

Beispiel 2 – Psychische Grundlagen der Gesellschaft

Unter der Überschrift „Der Führer – Dein Vorbild!“ wird in der Zeitschrift „Weiße Fahne“, Heft 14/ 1933 nicht nur Hitlers Ablehnung von Tierversuchen (die er „wissenschaftliche Tierfolter“ nennt), von Alkohol- und Zigarettenmißbrauch zur Identifikation angeboten, sondern auch, daß er „erkannt hat, daß die Verhältnisse keine anderen werden, ehe nicht die Menschen andere geworden sind, und daß es darum vor allem gilt, die alten gegen neue Seelen auszutauschen, aus alten Neue Menschen zu machen“. (S. 81)

Ende des Tests.

Was habe ich gedacht, als ich das zum ersten Mal gelesen habe?

Bei Rudolf Heß‘ Rede störte mich außer dem Namen des Redners eigentlich nur das gelegentliche Pathos („meinem Volke …“). Den Inhalt hätte ich an sich sofort unterschreiben können. Unerfreulich genug.

Aber nun derjenige, den Heß nur zu stellvertreten hatte, das Abbild des Bösen: Adolf Hitler …

Abgesehen von der (naiven?, mechanischen? gefährlich-größenwahnsinnigen?) Vorstellung, Seelen ließen sich austauschen, neue Menschen ließen sich „machen“, ist mir seine Ansicht, es gebe einen Zusammenhang zwischen seelischen und gesellschaftlichen Zuständen, ausgesprochen nahe. Um Gottes Willen: An diesem Punkt bin ich also einer Meinung mit Adolf Hitler!!!

Zunächst prüfte ich das als Ausweg: Was ich an mir Symphatischem in Äußerungen von Nazis entdecke, war von denen bewusst gelogen, Dummenfang, clevere Taktik. Für einen Teil stimmt das: Fast immer, wenn Hitler von irgendeinem angestrebten Frieden spricht, lügt er nachweislich. Aber ich habe überhaupt keinen Grund, ihm die Tierversuchs-Gegnerschaft abzusprechen – obwohl ich weiß, dass Menschenversuche ihn nahezu angemacht haben müssen.

Daß Rudolf Heß einer der Hauptverantwortlichen für das faschistische System war, und als solcher offenbar keine Skrupel hatte, wesentlichere „Verbrechen an meinem Volke“ zu begehen, als sich nicht für Naturheilkunde einzusetzen, ist mir auch klar. Und natürlich sollte seine bessere Medizin nie den diversen „Ballastexistenzen“ zugutekommen. Und offenkundig hatte er auch nie tatsächlich „gesunde“ gesellschaftliche Verhältnissse im Sinn, ohne die wohl keine ganzheitliche Heilung möglich ist.
Aber mir fehlt auch hier jede Grundlage, zu behaupten, daß seine Rede vor den Heilpraktikern vollständig erstunken und erlogen war. (Eine große Zahl der Dokumente belegt, wie ernst es den Nazis mit der „Zusammenfassung der Heilmethoden Homöopathie, Biochemie, Naturheilkunde, Heilmagnetismus und der seelischen Heilweisen“ zur „Volksheilkunde“ war: S. 137-235. Heinrich Himmler wurde sogar Schirmherr von insgesamt 700 Hektar Heilkräuterplantagen, auf denen sich „etliche hundert Häftlinge“ für das „größte Heilpflanzenforschungsinstitut Europas“ zu Tode schufteten: S. 197-202).

Ich muß also befürchten, daß Heß, Hitler und viele andere oftmals an das geglaubt haben, was sie sagten – und daß sie ausgeblendet, verdrängt haben, was dazu im Widerspruch stand. Das hätten sie dann im Prinzip mit mir und vielen anderen gemeinsam.

Aber auch wenn uns einige seelische Mechanismen gemeinsam sind: Ich bin doch kein Nazi? Wenn ein Nazi nur der ist, der Hitler in jedem – oder wenigstens in den meisten Punkten – zustimmt, dann nicht. Wenn ein Nazi auch der ist, der Hitler in einigen Punkten zustimmt …

Ich glaube, an dieser Stelle muß ich eine Zweiteilung vornehmen.

Erstens: Es gibt Anteile in mir, die ich wohl nur beschönigen würde, wenn ich sie nicht als faschistoid bezeichnen würde. Nicht nur, daß ich vor zwanzig Jahren noch problemlos über „Judenwitze“ übelster Sorte lachen konnte, ist ein Indiz dafür. Wenn Faschismus – was ich glaube – eine zugespitzte Form menschlicher Destruktivität ist, muß ich nur nach meiner Destruktivität suchen. Wenn Faschismus auch Haß gegen alles Fremde ist, muß ich nur nach meinen haßerfüllten Feindbildern suchen. In beiden Punkten werde ich zumindest in meiner Vergangenheit fündig, das weiß ich inzwischen.

Aber „Zweitens“ macht mir noch mehr Angst: Kann es auch sein, daß ich mit ehemaligen Nazis gelegentlich einer Meinung bin – weil sie an diesem ganz konkreten Punkt Recht haben? Dieser Gedanke kommt mir geradezu entsetzlich vor. Habe ich mich jetzt endgültig selbst überführt als verkappter Neonazi?

Aber ist es denn überhaupt sinnvoll, allen führenden oder geführten Nazis zu unterstellen, daß sie in jeder Hinsicht nur das Schlechte, Böse, Zerstörerische wollten? Da war doch tatsächlich eine sich immer mehr entfremdende Medizin und Wissenschaft!

Es gibt Autoren (z. B. Jochen Kirchhoff, „Hitler, Nietzsche und die Deutschen“), die in der Machtergreifung der Nazis auch eine pervertierte Rebellion gegen zunehmende Entfremdung und Technisierung sehen, ein fehlgeleitetes „Zurück zu den Wurzeln! Zurück zur Natur!“.

Sebastian Haffner, deutscher Publizist, der 1938 emigrierte, teilt sein (unbedingt zu empfehlendes!) Buch „Anmerkungen zu Hitler“ in die Kapitel „Leistungen“, „Erfolge“, „Irrtümer“, „Fehler“, „Verbrechen“, „Verrat“ – und er findet für alle Aspekte Material.

Wilhelm Reich forderet 1933, in seiner „Massenpsycholpogie des Faschismus“, „die nationalsozialistische Bewegung“ nicht als „ein Werk von Gaunern und Volksbetrügern“ abzutun,

„auch wenn sich in ihr Gauner und Volksbetrüger befinden. Hitler ist nur objektiv ein Volksbetrüger, indem er die Herrschaft des Großkapitals verschärft; subjektiv ist er ein ehrlich überzeugter Fanatiker des deutschen Imperialismus, dem ein objektiv begründeter Riesenerfolg den Ausbruch der Geisteskrankheit erspart hat, die er in sich trägt. Es führt nicht nur in eine Sackgasse, sondern erzielt das gerade Gegenteil des Beabsichtigten, wenn man die nationalsozialistische Führung mit alten, abgeschmackten Methoden lächerlich zu machen versucht. Sie hat mit unerhörter Energie und großem Geschick Massen wirklich begeistert und dadurch die Macht erobert. Der Nationalsozialismus ist unser Todfeind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn wir seine Stärken richtig einschätzen und mutig aussprechen“.

Solange ich dagegen Hitler pauschal verdamme – statt mich mit ihm auseinanderzusetzen – bin ich von ihm weiterhin genauso autoritär abhängig, wie von jenen, die ich pauschal verehre. Auch ein ausschließlich böser Hitler verbleibt noch auf seinem Denkmalssockel – dann eben nicht als übermenschlicher Genius, sondern als übermenschlicher Bösewicht.

Solange ich da noch hochsehen muß, werde ich weder ihn noch seine Anhänger verstehen – und auch nicht die Seiten in mir, die mich mit ihnen verbinden. Ohne dieses Verständnis kann ich weniger dazu beitragen, daß faschistische Verbrechen nicht wieder offizielle Staatspolitik werden.
Das schließt ein, für jene Probleme, die auch Faschisten zu Recht aufgeworfen haben/aufwerfen, andere Lösungen zu finden, als sie diesen vorschweb(t)en.

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Frühere Veröffentlichungen finden sich in ICH – die Psychozeitung 3/1995 sowie in „Weltall, Erde …ICH“ bzw. www.weltall-erde-ich.de.
Leicht verändert: Februar 2019.

 

 

Tipps zum Weiterlesen:

Kostenloser BUCH-Download: „Rechtsruck“ (2017) als pdf

Über Freud und Marx hinaus: Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ (1933)