von Andreas Peglau
Vulgärpsychologie
In seiner 1933 erschienenen Massenpsychologie des Faschismus setzte sich Wilhelm Reich mit dem „Vulgärmarxismus“ auseinander – den er als Gegensatz zur Lehre von Marx und Engels verstand. Vulgärmarxisten trennten, so Reich, „schematisch das gesellschaftliche, meist das wirtschaftliche Sein vom Sein überhaupt ab“,[1] behaupteten, Ideologie und Bewusstsein wären „durch das wirtschaftliche Sein allein und unmittelbar bestimmt“,[2] negierten die Beschäftigung mit Trieben, Bedürfnissen, seelischen Prozessen als idealistisch. Abgeschwächt hätten sich diese Vorwürfe jedoch ebenfalls an Marx und Engels richten lassen. Einer alleinigen und unmittelbar ökonomischen Bestimmtheit ideologischer Prozesse haben sie widersprochen, wenn auch selten. Gesellschaftliches Sein betrachteten sie zwar im Zusammenhang mit dem „Sein überhaupt“, priorisierten aber das wirtschaftliche Sein in unangemessener Weise. Sie verleugneten nicht die Existenz seelischer Vorgänge, doch deren reale Bedeutung und Eigendynamik.
Reich setzte fort: Der Vulgärmarxist sei gezwungen, „unausgesetzt praktische Psychologie zu betreiben, von den Bedürfnissen der Massen, von revolutionärem Bewusstsein, vom Streikwillen etc. zu sprechen. Je mehr er nun die Psychologie leugnet, desto mehr betreibt er selbst metaphysischen Psychologismus“ oder tröste „die Massen […], sie sollten doch auf ihn vertrauen, es gehe trotz alledem vorwärts, die Revolution lasse sich nicht niederringen und so fort“.[3] In diese – selbst aufgestellte – Falle sind Marx und Engels mehrfach gelaufen.
Auch sie konnten nicht durchweg vermeiden, die seelische Verfassung jener heranzuziehen, die sie ansonsten vorwiegend als willenlose Zombies darstellten. Und plötzlich erwachten diese Zombies und taten, was Marx und Engels brauchten, um ihre Prognosen zu rechtfertigen: Widerstand leisten, trainieren für die Revolution. Die „Charaktermasken“ fallen – und niemand weiß, warum.
Vielleicht ließe sich dieses Vorgehen titulieren als „Vulgärpsychologie“: Nicht näher begründete oder gar nicht begründbare Behauptungen über psychische Zusammenhänge und Zustände werden als Erklärungen verwendet.
Ein weiteres Beispiel dafür lieferte Engels im Ursprung der Familie. Dort fasst er die Entwicklung der letzten Jahrtausende so zusammen: Die „Zivilisation“ habe „die schmutzigsten Triebe und Leidenschaften der Menschen in Bewegung“ gesetzt „und auf Kosten“ ihrer übrigen Anlagen entwickelt. „[P]latte Habgier“ sei „die treibende Seele der Zivilisation von ihrem ersten Tag bis heute“ gewesen, „Reichtum und abermals Reichtum und zum drittenmal Reichtum, Reichtum nicht der Gesellschaft, sondern dieses einzelnen lumpigen Individuums, ihr einzig entscheidendes Ziel“.[4]
Obwohl Engels natürlich keine Kunde hatte von der psychischen Verfassung der Menschheit am „ersten Tag“ der Zivilisation, meinte er, über deren Gesamt-„Seele“ urteilen, in dieser jahrtausendelange Konstanten diagnostizieren zu können. Dabei stellte er ein krudes Menschenbild zur Schau: Schmutzige Triebe als zur menschlichen Grundausstattung gehörig, Habgier als seither wichtigstes Motiv der gesamten Gesellschaft, also wohl auch über jene Klassengrenzen hinweg, die er und Marx sonst betonten.[5] Da spielten dann plötzlich ökonomische „Gesetze“ nicht mehr die Hauptrolle, sondern Zielstellungen einzelner, lumpiger Individuen – eine ebenso erstaunliche wie befremdliche Aufwertung der Rolle des Einzelnen.
Der Ursprung der Familie wurde zu einer der meistverbreiteten Schriften von Engels. 1892 konnte er sie in vierter, erweiterter und überarbeiteter Auflage herausgeben.[6] An den oben zitierten Sätzen hat er nichts geändert.
Der bekannteste Versuch von Marx, seinen Geschichtsoptimismus zu begründen, leidet ebenfalls empfindlich unter dem Ausklammern psychosozialer Realität.
Soziale Umwälzung ohne Menschen
1859, im Vorwort seiner Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie schrieb Marx:
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt.“[7]
Auf diesen „Überbau“ ging er nie tiefgründig ein.[8] Er setzte fort:
„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“[9]
Materielle Produktivkräfte geraten in Widerspruch zu Produktionsverhältnissen: Hier kommen Menschen wieder einmal nicht oder höchstens indirekt vor, als eventueller[10] Bestand-teil „materieller Produktivkräfte“. Doch selbst falls Menschen hier mitgemeint sein sollten, ist ihre Rolle in diesem Vorgang offenkundig nicht extra erwähnenswert: Im Wesentlichen fechten das „die Produktivkräfte“ mit „den Produktionsverhältnissen“ allein aus.
Das wäre höchstens insofern einleuchtend, als zu „Charaktermasken“ erstarrte Halbautomaten keinen Spielraum hätten, um sich über ihre materiellen Verhältnisse zu erheben. Menschen, wie sie Marx im Kapital im Wesentlichen schildert, wären nicht fähig zur Revolution.
Psychische Gegebenheiten – Marx spricht von „ideologischen“ oder „Bewußtseinsformen“ – werden daher in seiner Sicht nur nebenbei mit „umgewälzt“:
„Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten.“[11]
Ausfechten und Bewusstwerden ist hier nicht etwa (Mit-)Ursache, sondern nur Folge, Symptom: Irgendwann merken die Leute halt, was läuft und mischen notgedrungen mit. Man könne, bekräftigte Marx, „eine solche Umwälzungsepoche“ nicht aus dem „Bewußtsein“ der Beteiligten heraus „beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären“.[12]
Das war zwar nicht mehr so holzschnittartig, wie er es 1846/47 darstellte: „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“[13] Aber es war zum wiederholten Male ein Unsichtbarmachen der psychosozialen Vorgänge und der tatsächlich Handelnden.
So vorgehend, waren Marx und Engels gar nicht in der Lage, das Heranreifen der von ihnen als „gesetzmäßig“ deklarierten sozialistischen Revolution schlüssig zu begründen oder deren Ablauf plausibel vorwegzunehmen.
Zudem: Wenn die Produktionsverhältnisse sich ja sowieso umzuwälzen hatten, weshalb sollten die Arbeiter sich noch organisieren? Warum verwendeten Marx wie auch Engels ungeheuer viel Zeit darauf, diesen Prozess voranzutreiben, sich als Berater für Arbeiterorganisationen zu betätigen[14] – hätte es nicht genügt, den objektiven Verhältnissen beim gesetzmäßigen Sich-Umwälzen entspannt zuzuschauen?[15]
Halbherzige Abschwächungen
1863 räumte Marx ein:
„Der Mensch selbst ist die Basis seiner materiellen Produktion, wie jeder andren, die er verrichtet. Alle Umstände also, die den Menschen affizieren, das Subjekt der Produktion, modifizieren [mehr oder weniger] alle seine Funktionen und Tätigkeiten, also auch seine Funktionen und Tätigkeiten als Schöpfer des materiellen Reichtums, der Waren. In dieser Hinsicht kann in der Tat nachgewiesen werden, daß alle menschlichen Verhältnisse und Funktionen, wie und worin sie sich immer darstellen, die materielle Produktion beeinflussen und mehr oder minder bestimmend auf sie eingreifen.“[16]
Wie dieser Einfluss beschaffen sei, gar ob er sich mit ökonomischen „Natur“-Gesetzen vereinbaren lasse, erhob Marx nicht zum Forschungsgegenstand. Im Kapital findet sich dann der Satz: „Die Art und Weise, wie die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion […] als treibende Motive dem individuellen Kapitalisten zum Bewußtsein kommen, ist jetzt nicht zu betrachten […].“[17] Aber diese Betrachtung fand auch später nicht statt.[18]
1884 gestand Engels im Ursprung der Familie familiären Strukturen und geschlechtlichen Beziehungen größere Bedeutung zu als zuvor. Jedoch ökonomisierte er beides erneut. Das „in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte“ sei „die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens“, also
„die Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen; andrerseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung. Die gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen die Menschen einer bestimmten Geschichtsepoche und eines bestimmten Landes leben, werden bedingt durch beide Arten der Produktion: durch die Entwicklungsstufe einerseits der Arbeit, andrerseits der Familie“.[19]
„Beide Arten der Produktion“ – mit dieser Formulierung warf Engels die Herstellung von Gegenständen und das Entstehen und Aufwachsen von Menschenkindern in denselben Topf. Das dürfte ihm erleichtert haben, sich den Glauben zu bewahren, die Lehre von ihm und Marx decke die wesentlichen Lebensbereiche ab.
Nicht in Veröffentlichungen, sondern nur in einigen privaten Briefen bemühte sich Engels in seinen letzten Jahren um ein wenig Differenzierung. So schrieb er 1890, das „in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte“ sei „die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase.“[20]
Dass erst nach jahrtausendelanger „Erzeugung“ von menschenähnlichen, dann menschlichen Wesen ein „ökonomisches Moment“ entstanden sein konnte – und nicht etwa umgedreht Menschen jahrtausendelang produziert hatten, bevor sie sich zur Fortpflanzung entschlossen, dass diese „Reproduktion“ gänzlich unökonomische, emotionale, sexuelle, partnerschaftliche und familiäre Beziehungen umschloss, dadurch auch Psyche und gesellschaftliches Sein vor jeder „Produktion“ prägte, das scheint Engels nicht in den Sinn gekommen zu sein.[21] So konnte er seinem Freund Karl die Treue halten, das Ökonomieprimat unangetastet lassen, Vorgänge „in den Köpfen“ weiter als bestenfalls zweitrangig abtun:
„Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe [!] aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten […] als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. […]
Wir machen unsere Geschichte selbst, aber […] unter sehr bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. Darunter sind die ökonomischen die schließlich entscheidenden. Aber auch die politischen usw., ja selbst die in den Köpfen der Menschen spukende Tradition, spielen eine Rolle, wenn auch nicht die entscheidende.“[22]
Einer anderen seiner 1890er Korrespondenzen entstammt folgende Einschätzung:[23]
„Die ganze Geschichte muß neu studiert werden, […] ehe man versucht, die politischen, privatrechtlichen, ästhetischen, philosophischen, religiösen etc. Anschauungsweisen, die ihnen entsprechen, aus ihnen abzuleiten. Darin ist bis jetzt nur wenig geschehen, weil nur wenige sich ernstlich daran gesetzt haben. […] Statt dessen aber dient die Phrase des historischen Materialismus (man kann eben alles zur Phrase machen) nur zu vielen jüngeren Deutschen nur dazu, ihre eignen relativ dürftigen historischen Kenntnisse – die ökonomische Geschichte liegt ja noch in den Windeln! – schleunigst systematisch zurechtzukonstruieren und sich dann sehr gewaltig vorzukommen.“
Ein ernüchterndes Resümee des zeitgenössischen Forschungsstandes. Wie erwähnt hatte Engels zwei Jahre zuvor den Geltungsbereich der These, Geschichte sei durch Klassenkämpfe geprägt, hochgradig eingeengt.[24] Unbeschadet von all dem teilte er 1892 in der Einleitung zur englischen Übersetzung seiner Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft mit, der „historische Materialismus“ sei die
„Auffassung des Weltgeschichtsverlaufs, die die schließliche Ursache und die entscheidende Bewegungskraft aller wichtigen geschichtlichen Ereignisse sieht in der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft, in den Veränderungen der Produktions- und Austauschweise, in der daraus entspringenden Spaltung der Gesellschaft in verschiedne Klassen und in den Kämpfen dieser Klassen unter sich“.[25]
1894, im Jahr vor seinem Tod, bekräftigte er: „Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische etc. Entwicklung beruht auf der ökonomischen“, es gehe um „Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit“.[26]
Nicht bei sich selbst und schon gar nicht bei Karl Marx, aber im Allgemeinen scheint er das, was „Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen“ noch immer für „Nebelbildungen im Gehirn“[27] gehalten zu haben.
Bilanz
Frühzeitig ins Zentrum der Anschauungen von Marx und Engels gerückt, verharrten dort lebendig anmutende, scheinbar eigenständig agierende Dinge und Prozesse sowie – als deren Anhängsel, Marionetten, Sklaven – hilflose, zombieartige Menschen. Über all dem thronten „immanente“ sozialökonomische Gesetze, welche die enormen Erklärungslücken verdeckten: Was gesetzmäßig passierte, bedurfte ja keiner weiteren Begründung. Im Kapitalismus fungierte als Vollstrecker dieser Gesetze das bluttriefende Kapital-Monster.
„Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.“[28] Mit dieser, 1843/44 formulierten These hätte Marx sein späteres Werk nicht überschreiben können. Passender wäre: „Die Wurzel für den Menschen sind ökonomische Gesetze.“ Den Platz des durch die Aufklärung vertriebenen Gottes hatten andere, ähnlich mächtige Wesenheiten übernommen. Marx, der bei bürgerlichen Ökonomen kritisierte, dass sie wirtschaftliche Zusammenhänge „mystifizierten“,[29] schuf eine neue Mystifikation. Das Ökonomieprimat zu erforschen und zu belegen, scheint zur Priorität, fast zur Obsession geworden zu sein, der er in egozentrischer Weise auch Ehe und Familie unterordnete.[30]
Die Frage, ob die Lehre von Marx und Engels statt als „Materialismus“ besser als „Ökonomismus“ bezeichnet werden müsste, halte ich für berechtigt.[31] „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel“ – für Teile ihrer Ansichten trifft dieser Spruch zu. Sie schrumpften den Menschen ihren Prämissen gemäß zusammen und konnten ihn daher simplifiziert darstellen: als Randerscheinung des Eigentlichen. Die „wirklichen Individuen“, die sie 1845, zu Beginn der Deutschen Ideologie ins Auge zu nehmen versprachen,[32] hatten sie schon wenige Zeilen später aus dem Blick verloren; die „Einrichtung“ des Kommunismus stellten sie sich schon damals als „wesentlich ökonomisch“ vor.[33]
1857/58 spitzte Marx zu, die „Gesellschaft besteht nicht aus Individuen“, in ihr würde sich nur „die Summe der Beziehungen, Verhältnisse“ ausdrücken, „worin diese Individuen zueinander stehen“[34] – zwischenmenschliche Beziehungen also ohne Menschen: ein unauflösbarer Widerspruch.[35] Wenn sich Marx dann im Kapital explizit mit kapitalistischer oder bürgerlicher „Gesellschaft“ befasste, beschränkte sich das fast durchweg auf Wirtschaftliches; [36] seine Darstellung von Menschen konzentrierte sich auf das gesichtslose Maskenträgerduo Lohnarbeiter-Kapitalist.
Doch zur kapitalistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gehörten große, heterogene Gruppen, die nicht an der industriellen Produktion teilnahmen, sei es wegen ihres Alters (Kleinkinder, alte Menschen), wegen ihrer sozialen Stellung (bürgerliche Kinder und Ehefrauen), ihres Lebensraumes (die Landbevölkerung), wegen Krankheit oder Arbeitslosigkeit, zudem die auch individuelle Interessen durchsetzende Minderheit machtvoller Politiker. Schon weil sich Marx und Engels ihnen allen höchstens nebenher widmeten,[37] erfassten sie Kapitalismus nicht als Gesellschaftsordnung.
Der marxistische Historiker Edward Thompson wies bereits in den 1970er Jahren darauf hin, dass Marx den Anspruch, mittels Analyse des Kapitals zugleich die kapitalistische Gesellschaft darzustellen, auch deshalb nie einlösen konnte, weil die Gesellschaft „aus zahlreichen Tätigkeiten und Verhältnissen (von Macht, von Bewußtsein, sexueller, kultureller, normativer Art)“ bestehe, „die nicht Gegenstand der politischen Ökonomie sind, sondern von ihr ausgegrenzt werden und für die sie keine Begriffe hat“.[38]
Schaut man genauer hin, stellt man allerdings fest, dass Marx und Engels – auch an Stellen, wie ich sie in meinem Text kritisiere – mehr von dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit erfasst hatten, als ihnen selbst bewusst war. Massenpsychologische Effekte, im Interesse der herrschenden Klassen durch Erziehung, religiöse und andere Indoktrination herbeisozialisierte, zum Gesellschaftssystem passende Persönlichkeitsstrukturen und -störungen mutierten in ihrer Darstellung zu unvermeidbaren, ökonomisch erzwungenen Handlungsmustern. Die Einsicht, die sie sich dadurch verbauten, war: Diese Handlungsmuster, die Wirkungsweise dieser Indoktrination, die dahinterliegende psychosoziale Realität kann begriffen und sinnvoll verändert werden.
Abgesehen davon, dass Marx und Engels gelegentlich auf „vulgärpsychologische“ Weise in die Proletarier hineinlegten, was sie sich von ihnen erhofften, ist der Tenor ihrer Lehre: Wir sind weder verantwortlich für unsere wesentlichen Lebensumstände noch haben wir die Möglichkeit, diese Umstände eigenständig gravierend umzugestalten.
Sie selbst haben freilich den 1845 von Marx erhobenen Anspruch erfüllt, dass es darauf ankommt, die Welt „zu verändern“.[39] Für die von ihnen als notwendig empfundenen Veränderungen haben sie sich lebenslang engagiert. Und hier, meine ich, findet sich die entscheidende Begründung für die Wirkung und Nachwirkung ihres Schaffens. Sie erkannten und bewiesen auf ökonomischem Gebiet, dass Ausbeuterordnungen – zu denen die kapitalistische zählt – menschenunwürdig sind und darum „umgewälzt“ werden müssen. Doch dabei blieben sie nicht stehen. Vor allem durch Publizistik und das Initiieren und Inspirieren sozialistischer Organisationen trugen sie dazu bei, dass sich diese Erkenntnisse verankerten und diejenigen erreichten, die es am meisten anging.
Marx hatte 1844 geschrieben, „die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“. [40] Das erhoffte er sich vermutlich auch für seine eigenen Anschauungen. Es waren in erster Linie Schriften von Engels, welche dies wahrmachten. Letzterer gab 1886 zwar auch bekannt, das Kapital werde inzwischen „oft ‚die Bibel der Arbeiterklasse‘ genannt“.[41] Aber den nach mehrfacher Bearbeitung noch immer oft hochkomplizierten, weitschweifigen und detailversessenen Kapital-Bänden mit ihren unzähligen Schachtelsätzen und Wiederholungen lässt sich beim besten Willen keine Massentauglichkeit bescheinigen.[42]
Die Vereinseitigungen und Verabsolutierungen von Marx und Engels hatten Konsequenzen für die verschiedenen, nach Engels‘ Tod entworfenen „Marxismen“. Jene ihrer Anhänger, die auf kritisches Hinterfragen verzichteten – also die meisten – konnten sich in trügerischen „Gewissheiten“ über den Geschichtsverlauf wiegen, die wiederum irreale politische Orientierungen nach sich zogen: Unser Sieg ist unvermeidlich. Oder, in der Fassung von SED-Generalsekretär Erich Honecker vom August 1989, ein Vierteljahr vor dem Fall der Berliner „Mauer“: „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.“[43]
Darüber hinaus konnte man sich einreden, tiefgründige Nachforschungen zur tatsächlichen Bewusstseinslage der Arbeiterschaft oder gar zur gesamten psychosozialen Verfassung der Bevölkerung seien unnötig: Die „Klassiker“ hätten dies ja abschließend geklärt.
Doch entgegen aller Verlautbarungen gab es zu keinem Zeitpunkt eine seriöse sozialwissenschaftliche Grundlage für die Gestaltung des DDR-Staates, für den Aufbau von „Sozialismus“ – nun, fast am Ende meines Textes angekommen, bin ich mir sicher über diese bittere Erkenntnis. Die positive Nachricht ist: Was es nicht gab, ist auch nicht gescheitert. Es lohnt sich, einen neuen, anderen Anlauf zu nehmen.
Weder sind Marx und Engels schuld an der verzerrten Nachnutzung ihres Werkes noch haben sie die autoritären Charakterstrukturen in ihrer Anhängerschaft zu verantworten. Wer so mutig wissenschaftliches und politisches Neuland betritt wie diese beiden, kommt nicht umhin, Fehler zu machen. Genauso unvermeidlich ist es, dass sich in umfangreichen geistigen Hervorbringungen die Persönlichkeitsstruktur ihrer Schöpfer niederschlägt, unbewusste seelische Probleme inklusive. Wie ich mir Letzteres bei Marx und Engels vorstelle, habe ich eingangs unter dem Stichwort „Verdrängung“ skizziert.
Die folgenden Generationen hätten diese Unzulänglichkeiten identifizieren und korrigieren statt festschreiben und verschärfen sollen. Aber, wie gezeigt: Für die missbräuchliche Verwendung ihrer Gedanken haben Marx und Engels eine Reihe von Steilvorlagen geliefert.
Selbstverständlich haben sie auch vieles hinterlassen, was als Basis getaugt hätte, um Lücken zu verkleinern und Neues zu integrieren. Einiges davon – wie die Relativierungen des „Gesetzes“-Begriffes im Kapital oder Stellen aus Alters-Briefen von Engels – habe ich benannt.
1845 hatten sie notiert, dass „die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen“.[44] 1848, im Kommunistischen Manifest, teilten sie ihre Erwartung mit, anstelle der „bürgerlichen Gesellschaft“ werde „eine Assoziation“ treten, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.[45]
1875 prognostizierte Marx, in einer „höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft“ gelte das Motto: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“[46]
Doch Max Stirner, der versuchte, Hindernisse und Ziele freier Entwicklung zu erfassen, wurde von Marx und Engels diffamiert. Wer sich wie Wilhelm Reich später der Aufgabe stellte, Wechselwirkungen zwischen Menschen und Umständen ganzheitlicher zu erforschen, herauszufinden, was genau ein freies Individuum auszeichnet, welche Bedingungen es benötigt, um frei zu sein, welche – gesunden! – Bedürfnisse Menschen motivieren, der sah sich bald von Marxisten ausgegrenzt oder verfolgt.[47]
Und so dümpelt das, was auch heute meist unter „Marxismus“ firmiert, weiter vor sich hin als eine Lehre, die „den Menschen“ befreien soll – aber deren Vertreter zumeist gar nicht wissen wollen, was Menschen sind.
*
Weiterlesen in Teil 10: Alternative Gedankenwege – eine Diskussionsanregung
Quellenverzeichnis.
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Anmerkungen
[1] Reich 2020, S. 24.
[2] Ebd., S. 32.
[3] Ebd., S. 24f.
[4] Engels 1975b, S. 171.
[5] Vielleicht bezog er sich dabei auf Marx (1983b, S. 151), der 1857/58 geschrieben hatte: „Die Vorepoche der Entwicklung der modernen industriellen Gesellschaft wird eröffnet mit der allgemeinen Geldgier, sowohl der Individuen als der Staaten.“ Der Vergleich mit der 1844 getroffenen Aussage von Engels, „das menschliche Herz“ sei „von vorn herein, unmittelbar, in seinem Egoismus uneigennützig und aufopfernd“, belegt, wie sehr das Voranschreiten im Verstehen der Ökonomie mit zunehmenden Defiziten im Verstehen von Menschen einherging.
[6] Krader 1973, S. 136, 148.
[7] Marx 1971a, S. 8f.
[8] Entsprechend unklar blieb dieser Begriff. Vgl. Heinrich 2021, S. 202f.; Tomberg 1974, S. 9–92; Labica/ Bensussan/ Haug 1989, S. 1325–1330; Lotter/ Meiners/ Treptow 2016, S. 60–63.
[9] Marx 1971a, S. 9.
[10] In den Kapital-Bänden wird „Produktivkraft“ nirgends direkt Menschen zugeordnet, sondern meist „der Arbeit“: „Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter anderem durch den Durchschnittsgrad des Geschickes der Arbeiter“ (Marx 2021, S. 54). „Der Begriff ‘Produktivkräfte‘ ist recht dunkel“, kritisiert Lange (1955, S. 46). Da hellt sich auch nichts auf, wenn man im Kapital alle Stellen aufsucht, wo das Wort auftaucht oder im Marx-Engels-Lexikon die entsprechende Zitatensammlung nachliest (Lotter/ Meiners/ Treptow 2016, S. 299–304). Der Ausdruck „materielle Produktivkräfte“ – der wohl nur als Gegenstück zu ideellen Produktivkräften sinnvoll wäre – kommt im Kapital gar nicht vor.
[11] Marx 1971a, S. 9.
[12] Ebd.
[13] Marx 1972, S. 130. Würde man in der Logik verbleiben, dass neue, die Produktion massiv verändernde Maschinen Revolutionen verursachen, hätte wohl das Auto oder spätestens der Computer den Sozialismus bringen müssen.
[14] Siehe Schieder 2018; Krätke 2020, S. 23.
[15] Ähnlich: Steinfeld 2017, S. 48. Dass Marx (2021, S. 16) meinte, „Geburtswehen“ der neuen Gesellschaft ließen sich eventuell „abkürzen und mildern“, genügt mir nicht als Erklärung dieses massiven Engagements. Harman (1986) teilt mit, die um 1950 entstandene „Neue Linke“ berief sich u.a. darauf, dass es in den drei „historischen Schriften“ von Marx (Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Der Bürgerkrieg in Frankreich) „keinerlei Hinweis auf eine passive, fatalistische Herangehensweise bezüglich des historischen Wandels gebe“. Doch gerade diese Abgrenzung legt die Auffassung nahe, dass im sonstigen Werk von Marx solche Hinweise durchaus zu finden sind. Auch im Bürgerkrieg schrieb Marx (1962b, S. 343) zudem, die Arbeiterklasse hätte noch „eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse durchzumachen, […] durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden“.
[16] Marx 1956, S. 251.
[17] Marx 2021, S. 335.
[18] Daher halte ich auch die folgende Marx-Ausdeutung von Lawrence Krader (1973, S. 181) für falsch: „Der Kapitalist ist die Subjektifizierung des Kapitals oder das Kapital ist die Veräußerlichung der Subjektivität des Kapitalisten.“ Den zweiten Aspekt sucht man jedenfalls im Kapital vergebens. Die Passage, in der Marx (2021, S. 620) in Band 1 des Kapital am tiefsten in die Seele „des Kapitalisten“ zu blicken trachtet, lautet: „Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, der Akkumulation und des Reichtums, hört der Kapitalist auf, bloße Inkarnation des Kapitals zu sein. Er fühlt ein ‚menschliches Rühren‘ […]. In den historischen Anfängen der kapitalistischen Produktionsweise, und jeder kapitalistische Parvenü macht dies historische Stadium individuell durch – herrschen Bereicherungstrieb und Geiz als absolute Leidenschaften vor.“ Hier scheinen Kapitalisten also nur ursprünglich Kapitalpersonifizierungen zu sein. Ungeklärt bleibt, wodurch das geizige Anfangsstadium entstehen und verschwinden soll, gesellschaftlich wie individuell. Auch was eine „absolute“ Leidenschaft sei soll, erschließt sich nicht.
[19] Engels 1975b, S. 27.
[20] Marx/ Engels 1967b, S. 463.
[21] U.a. mit dem Hinweis darauf, dass der Lust-Aspekt von Sexualität bei der „Reproduktion“ ausgeklammert wird, belegte auch Reich (1932, S. 120–122), wie sehr die Argumentation von Engels am „wirklichen Leben“ vorbeigeht.
[22] Marx/ Engels 1967b, S. 463. Die gesetzmäßigen Zufälle waren hier ebenfalls wieder mit von der Partie: „Zweitens aber macht sich die Geschichte so, daß das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht, wovon jeder wieder durch eine Menge besonderer Lebensbedingungen zu dem gemacht wird, was er ist; es sind also unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ergebnis – hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes, bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann. Denn was jeder einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat. So verläuft die bisherige Geschichte nach Art eines Naturprozesses und ist auch wesentlich denselben Bewegungsgesetzen unterworfen“ (ebd., S. 464). Zu den hier wohl gemeinten „Bewegungsgesetzen“: https://de.wikipedia.org/wiki/Dialektische_Grundgesetze.
[23] Marx/ Engels 1967b, S. 436f.
[24] Marx/ Engels 1959, S. 462.
[25] Engels 1972, S. 298. Kursivsetzungen von mir.
[26] Marx/ Engels 1968, S. 206.
[27] Marx/ Engels 2017, S. 136.
[28] Marx 1976, S. 385.
[29] Z.B. Marx 2021, S. 649.
[30] Neffe (2017, S. 283) schildert das „alte Muster“: Marx „macht sich rar, […] geht seiner Arbeit nach“, seine Frau Jenny „schlägt sich mit Metzger und Bäcker herum, die ihre Schulden eintreiben wollen“. Jörn Schütrumpf (2008, S. 43f.) bescheinigt Marx, „zeit seines Lebens selbstfixiert“ gewesen zu sein: So „blieb Emanzipation Theorie“.
[31] Auch Marx hat die Abwertung „ökonomistisch“ verwendet: zur Kennzeichnung anderer Autoren (Marx/ Engels 2021, S. 128; Haug 1985, S. 130). Haug (ebd., S. 129) gibt zu, dass sich bei Marx „Formulierungen“ finden, die „schlicht ‚ökonomistisch‘ sind oder sich entsprechend lesen lassen“, meint aber, Marx habe es nicht besser gewusst und ja auch gegenteilige Auffassungen vertreten. Dazu verweist er auf eine kurze Passage aus einem Marx-Brief von 1877 (Marx/ Engels 1987, S. 108, 111f.) und auf Engels‘ Altersbriefe. Auf Letztere berief sich auch die „neue Linke“ (Harman 1986). Doch konsistent in Hauptwerken vertretene Sichtweisen lassen sich nicht aufrechnen gegen wenige Sätze in späterer Privatkorrespondenz.
[32] Marx/ Engels 2017, S. 8.
[33] Ebd., S. 101.
[34] Marx 1983b, S. 189.
[35] Vielleicht sollte das dem auch von Engels herangezogenen „Gesetz“ des Umschlagens einer Quantität in eine neue Qualität entsprechen: Z.B. geht Wasser bei 100 Grad Celsius in die neue Qualität Dampf über. Aber diese Analogie funktioniert bei menschlichen Wesen nicht. Individuen unterliegen in der „Masse“ diversen, u.U. auch gleichmacherischen Einflüssen, verbergen oder verdrängen vielleicht Teile ihrer Individualität. Sie können diese jedoch nie wirklich verlieren, verschmelzen niemals zu einer „Gesamtseele“ oder einem „Großindividuum“ (vgl. Peglau 2022).
[36] Siehe in Marx 2021 z.B. S. 12, 16, 28, 57ff., 104, 132, 156, 178, 206, 285, 325, 372, 431, 552, 672, 743. Das Wort „Kapitalismus“ verwendet Marx (1963, S. 123) in den Kapital-Bänden übrigens nur einmal. „Kapitalismus“ wurde spätestens seit 1839, also vor Marx, zur negativen Wertung der bürgerlichen Klassengesellschaft genutzt (Sandkühler 2021, S. 1194).
[37] Arbeitslose beschrieb Marx (2021, S. 502, S. 660–674) als „disponible industrielle Reservearmee“, grenzte davon als „eigentliches Lumpenproletariat“ ab: „Vagabunden, Verbrecher, Prostituierte“ (ebd., S. 673). 1852 war seine Beschreibung des „Lumpenproletariats“ sowohl umfangreicher als auch noch unempathischer (Marx 1960a, S. 160f.). Teils entsteht beim Lesen der Eindruck, diese Menschen seien für ihn selbst schuld an ihrer Misere – eine ganz andere Sicht als die von Owen.
[38] Thompson 1980, S. 109, siehe auch Solty 2024. Der Historiker Paolo Tedesco (2023) konstatiert: „Wir können die Geschichte des Kapitalismus nicht schreiben, ohne […] die Überschneidung verschiedener Mechanismen rassistischer, sexistischer und nationalistischer Unterdrückung zu berücksichtigen.“
[39] Marx/ Engels 1978, S. 7.
[40] Marx 1976a, S. 385.
[41] Marx 2021, S. 39. Trotz seiner Ablehnung von Religion teilte Engels das gänzlich unironisch mit. Das Interesse am Kapital entwickelte sich zunächst recht schleppend. Barbara Sichtermann (1995, S. 10f.) schätzt ein, Marx‘ „Arbeiten dienten bis zum Schluß der ‚Selbstverständigung‘ unter einer schmalen Schicht intellektueller Kommentatoren und Programmatiker der Arbeiterbewegung,“ sein Werk habe „weder in seiner ursprünglich komplexen und anspruchsvollen Form den Arbeiterführern Europas als Handlungsmaxime gedient […], noch jemals die Massen“ ergriffen. Allerdings konnte der Dietz-Verlag dann zwischen 1946 und 1990 vom – bearbeiteten – Band 1 mehr als eine Million Exemplare verkaufen. Dafür, dass dieser hohe Umsatz eng mit der Existenz des „realen Sozialismus“ verbunden war, spricht, dass zwischen 1990 und 2007 nur noch „zwischen 500 und 750“ Exemplare (gemeint ist wohl: jährlich) verkauft wurden (Meisner 2013): „Nach der Wende lag die Ware Marx praktisch unverkäuflich im Regal“ (Supp 2009). Danach wurden es wieder mehr: bis zu 2.000 Stück jährlich (Meisner 2013). Dennoch dürfte zutreffen, was Thomas Steinfeld (2017, S. 10) schreibt: „Es gibt keinen Grund zu der Annahme, es gäbe viele Menschen, jüngere gar, die das Kapital tatsächlich gelesen haben.“ Wer die wichtigsten Inhalte kennenlernen will, dem ist eine gute Einführung wie die von Michael Heinrich (2021) zu empfehlen.
[42] Sichtermann (1995, S. 15f.) bewertet die Verständlichkeit des Kapital auf eine Weise positiv, die ich nur bedingt als Widerspruch zu meiner Einschätzung empfinde. Es sei „wegen seiner tüftelnd-schrittweisen Entwicklung des Arguments nach Art eines gelungenen Mathematik-Lehrbuchs idiotensicher“, müsse eben „Wort für Wort“ gelesen werden. Umgekehrt wäre es ein „Kunststück, Marx, diesen Genauigkeitsfetischisten, der alles – in wechselnden Formulierungen, versteht sich – dreimal sagt und dann noch mit einer epischen Miniatur illustriert, nicht zu verstehen“. Zur Arbeitsweise von Marx: Kuckenburg 2023, S. 12–17. Zur Leistung von Engels beim schwierigen Entstehen der Kapital-Bände: Plumpe 2017. Über die Erstauflage schrieb Engels an Marx: „wie hast Du die äußere Einteilung des Buchs so lassen können, wie sie ist!“ Manche Abschnitte seien „scheußlich ermüdend und […] verwirrend“, andere offenbar „in der schrecklichsten Eile gemacht und das Material viel zuwenig verarbeitet“ (Marx/ Engels 1965, S. 324, 334).
[43] https://www.mdr.de/geschichte/ddr/deutsche-einheit/mauerfall/erich-honecker-sozialismus-ochs-esel-100.html
[44] Marx/ Engels 2017, S. 46.
[45] Marx/Engels 1972b, S. 482.
[46] Marx 1973a, S. 21.
[47] 1933 wurde Reich wegen angeblich konterrevolutionärer Anschauungen aus den kommunistischen Organisationen ausgeschlossen und zur Unperson erklärt. Später fand er sich als vermeintlicher Trotzkist auf einer der stalinistischen Listen wieder, die vielfach zur Ermordung der dort Vermerkten führten (Peglau 2017a, S. 311–322).