Menschen als Marionetten? Wie Marx und Engels die reale Psyche in ihrer Lehre verdrängten. Teil 4: Die Lage der arbeitenden Klasse, leere Köpfe und menschenschaffende Arbeit

von Andreas Peglau

Die Lage der arbeitenden Klasse

Nachdem Engels 21 Monate in Großbritannien die industrielle Entwicklung und ihre Folgen erkundet hatte, veröffentlichte er 1845 das Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Es enthält erschütternde Berichte über die Lebensumstände des englischen Proletariats.

So erfährt man von Engels über die Wohnungen im Londoner Stadtteil St. Giles, dass

„der Schmutz und die Baufälligkeit alle Vorstellung übertrifft – fast keine ganze Fensterscheibe ist zu sehen, die Mauern bröcklig, die Türpfosten und Fensterrahmen zerbrochen und lose, die Türen von alten Brettern zusammengenagelt oder gar nicht vorhanden – hier in diesem Diebsviertel sogar sind keine Türen nötig, weil nichts zu stehlen ist. Haufen von Schmutz und Asche liegen überall umher, und die vor die Tür geschütteten schmutzigen Flüssigkeiten sammeln sich in stinkenden Pfützen. Hier wohnen die Ärmsten der Armen, die am schlechtesten bezahlten Arbeiter […]“.[1]

Zum Bethnal Green, einem anderen Viertel, zitiert Engels: „Nicht ein Familienvater aus zehnen in der ganzen Nachbarschaft hat andere Kleider als sein Arbeitszeug, und das ist noch so schlecht und zerlumpt wie möglich; ja viele haben außer diesen Lumpen keine andere Decke während der Nacht und als Bette nichts als einen Sack mit Stroh und Hobelspänen.“[2]

Aus der Zeitung entnahm Engels die Mitteilung, wie man die Leiche der 45jährigen Ann Galway im November 1843 vorgefunden hatte: Sie hatte

„mit ihrem Mann und ihrem 19jährigen Sohne in einem kleinen Zimmer gewohnt, worin sich weder Bettstelle oder Bettzeug noch sonstige Möbel befanden. Sie lag tot neben ihrem Sohn auf einem Haufen Federn, die über ihren fast nackten Körper gestreut waren, denn es war weder Decke noch Bettuch vorhanden. Die Federn klebten so fest an ihr über den ganzen Körper, daß der Arzt die Leiche nicht untersuchen konnte, bevor sie gereinigt war, und dann fand er sie ganz abgemagert und über und über von Ungeziefer zerbissen. Ein Teil des Fußbodens im Zimmer war aufgerissen, und das Loch wurde von der Familie als Abtritt benutzt“.[3]

Selbst dieses Elend ließ sich noch steigern. Denn in „London stehen jeden Morgen fünfzigtausend Menschen auf, ohne zu wissen, wo sie für die nächste Nacht ihr Haupt hinlegen sollen“. Hinzu kämen Hunger und Krankheit: „Während meiner Anwesenheit in England sind wenigstens zwanzig bis dreißig Menschen unter den empörendsten Umständen direkt Hungers gestorben“, noch viel mehr indirekt, „indem der anhaltende Mangel zureichender Lebensmittel tödliche Krankheiten hervorrief und so seine Opfer hinwegraffte […]“.[4]
Passagen aus dem Kapital ergänzen dieses Bild. So gibt Marx weiter, in Manchester sei „die mittlere Lebensdauer der wohlhabenden Klasse 38, die der Arbeiterklasse nur 17 Jahre […]. In Liverpool beträgt sie 35 Jahre für die erstere, 15 für die Zweite“.[5] Die Kinderarbeit „in den Glashütten“ kommentierte er mit den Worten:

„Abgesehn von der Kraftausgabe im Heben und Tragen, marschiert ein solches Kind in den Hütten, die Flaschen und Flintglas machen, […] 15 bis 20 (englische) Meilen in 6 Stunden! Und die Arbeit dauert oft 14 bis 15 Stunden! […] Herr White gibt Fälle, wo ein Junge 36 Stunden nacheinander arbeitete; andre, wo Knaben von 12 Jahren bis 2 Uhr nachts schanzen und dann in der Hütte schlafen bis 5 Uhr morgens (3 Stunden!), um das Tagwerk von neuem zu beginnen!“[6]

Und er führt einen Bericht an über das Schicksal „viele[r] Tausende[r] dieser kleinen hilflosen Kreaturen“, die ihren Eltern zuvor entrissen worden waren:

„Aufseher wurden bestellt, um ihre Arbeit zu überwachen. Es war das Interesse dieser Sklaventreiber, die Kinder aufs äußerste abzuarbeiten […]. Sie wurden zu Tod gehetzt durch Arbeitsexzesse … sie wurden gepeitscht, gekettet und gefoltert mit dem ausgesuchtesten Raffinement von Grausamkeit; sie wurden in vielen Fällen bis auf die Knochen ausgehungert, während die Peitsche sie an der Arbeit hielt … Ja, in einigen Fällen wurden sie zum Selbstmord getrieben! … Die schönen und romantischen Täler von Derbyshire, Nottinghamshire und Lancashire, abgeschlossen vom öffentlichen Auge, wurden grause Einöden von Tortur und – oft von Mord! … Die Profite der Fabrikanten waren enorm.“[7]

Was also war[8] üblicherweise die Grundlage dafür, erfolgreicher Kapitalist zu sein, sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen? Menschenverachtung, Bereitschaft zu Grausamkeit, zum massenhaften Erniedrigen, Schädigen, Verstümmeln und Töten von Individuen jeden Alters, dadurch: massive persönliche Schuld. Glaubte Marx ernsthaft, ein „naturgeschichtlicher Prozeß“ machte das unvermeidlich – und tilgte damit auch noch gleich diese Schuld?

Das Beispiel Robert Owen zeigt, dass es Menschen gab, die nicht bereit waren, in solcher Weise schuldig zu werden. (Und wer immer das gerade liest, kann sich fragen, ob er oder sie dazu bereit wären.) Owen bewies zugleich, dass sich Wirtschaftlichkeit und humanerer Umgang mit Arbeitern vereinbaren ließen, ohne Bankrott zu gehen oder sozialer Ächtung anheim zu fallen. Wenn die meisten Kapitalisten diesen Weg nicht gingen, vermutlich nicht einmal in Erwägung zogen, ließ sich das also erst recht nicht mit ökonomischer Notwendigkeit erklären.[9] Womit dann?

Ich meine: mit den typischen seelischen Verunstaltungen, die autoritäre Erziehung und Sozialisation anrichten. In unterdrückten Kindern entstehen berechtigte Wut, verständlicher Hass auf die unterdrückenden Erzieher. Da diese Gefühle nicht ausgedrückt werden dürfen, stauen sie sich an, werden dadurch destruktiv. Werden ihnen dann als Erwachsenen Möglichkeiten geboten, diese aufgestauten Gefühle, am besten gesellschaftskonform, zum Beispiel als Polizisten, Soldaten, erfolgreiche Politiker oder Unternehmer, an Schwächeren auszulassen, werden sie dieser Versuchung oftmals kaum widerstehen.

In diesem Verständnis ist Kapitalismus – wie jede unterdrückende Ordnung – ein Ausdruck massenhaft herbeisozialisierter psychischer Störungen. Zugespitzt durch gesellschaftliche Krisen können diese Störungen sich aufschaukeln zu Gewaltexzessen wie den faschistischen.[10]
Über diese Erkenntnisse, die erst Wilhelm Reich genauer herausarbeiten sollte,[11] verfügten Marx und Engels nicht. Doch vor der Frage, was Menschen motiviert, standen auch sie.

Leere Köpfe

1843/44 hatte Marx noch notiert: „Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.“[12] Schon 1845, in den Manuskripten zur Deutschen Ideologie, reduzierten Marx und Engels das, was an den „wirklichen Individuen“ und deren Lebensbedingungen wichtig sei, auf „die körperliche [!] Organisation dieser Individuen & ihr dadurch gegebenes Verhältniß zur übrigen Natur“, „die physische Beschaffenheit der Menschen, […] die geologischen, oro-hydrographischen,[13] klimatischen & andern Verhältnisse“.[14] Man könne „die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Thieren unterscheiden“.[15] Bewusstsein wird hier zu einem Unterscheidungsmerkmal unter vielen degradiert, gleichzeitig auf dieselbe Stufe gestellt wie die von Marx und Engels als irrational bekämpfte Religion. In Wahrheit begännen Menschen, „sich von den Thieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produziren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist“.[16]

Was „die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen“ seien dagegen „Nebelbildungen im Gehirn […], nothwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch konstatirbaren & an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses“. Moral, Religion, Ideologie und ihnen ent-sprechende „Bewußtseinsformen“ besäßen weder „Selbständigkeit“ noch „Geschichte“ oder „Entwicklung“.[17] „Bei mir ist […] das Ideelle nichts anders als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle“, ließ Marx dann in der zweiten Kapital-Auflage seine Leser wissen.[18] Dieser Menschenkopf war für ihn anscheinend – abgesehen von tierischen Instinkten – zunächst leer, trug jedenfalls nichts Geistiges, Psychisches, „Ideelles“ in sich. Er schien anzunehmen, dass wir geboren werden ohne innere Kriterien dafür, was wir auf psychosozialer Ebene brauchen und was uns schadet, ohne Bedürfnis nach emotionaler und körperlicher Nähe, nach Kommunikation, ohne Intellekt, Neugier, Kreativität, ohne Voraussetzungen für Selbstorganisation:[19] weiße Blätter, auf die dann „das Materielle“, insbesondere die Produktionsverhältnisse, irgendwie den Text schreiben.
Träfe das zu, wären Säuglinge asoziale, roboterhafte Wesen, die ihre Mütter ausschließlich als Versorgungseinrichtungen zum Stillen körperlicher Bedürfnisse wahrnähmen.[20] Wir kämen damit armseliger auf die Welt als Pflanzen, deren innerer Bau- und Entwicklungsplan ihnen nicht nur ermöglicht, sich unter günstigen Umständen zu entfalten, sondern auch aktiv nach dem suchen, was sie zum Leben benötigen: Licht, Wasser, Nährstoffe, angemessene Nähe oder Distanz zu Artgenossen.[21]
Aber wenn Menschen so seelisch-geistig leer, antriebs- und ziellos wären, woher käme – in der Theorie von Marx und Engels – der Antrieb ihrer Entwicklung?
Kurzgefasst: von „außen“.

Menschenschaffende Arbeit

Wenngleich sie sich kaum mit individuellen Lebensläufen befassten, äußerten sich Marx und Engels doch zu Hintergründen der Menschheitsentstehung und -entwicklung.

1845 deuteten sie den Zeugungsakt als „Produktion des Lebens“ und behaupteten, dass „die Theilung der Arbeit […] ursprünglich nichts war als die Theilung der Arbeit im Geschlechtsakt“.[22] Geschlechtsverkehr als Arbeit – wohin die beiden jungen Männer blickten, sahen sie mit Vorliebe eines: Ökonomie. Im Kapital schrieb Marx:

„Der Gebrauch und die Schöpfung von Arbeitsmitteln, obgleich im Keim schon gewissen Tierarten eigen, charakterisieren den spezifisch menschlichen Arbeitsprozeß, und [Benjamin] Franklin definiert daher den Menschen als ‚a toolmaking animal‘, ein Werkzeuge fabrizierendes Tier.“[23]

1876 spann Engels einen verwandten Gedanken weiter, in einem posthum als Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen veröffentlichten Fragment.[24] Unter „Arbeit“ verstand er dort jene Betätigung, die „mit der Verfertigung von Werkzeugen“, genauer mit Werkzeugen „der Jagd und des Fischfangs, erstere zugleich Waffen“ einsetze. Diese Arbeit sei die

„erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen. […] Arbeit zuerst, nach und dann mit ihr die Sprache[25] – das sind die beiden wesentlichsten Antriebe, unter deren Einfluß das Gehirn eines Affen in das bei aller Ähnlichkeit weit größere und vollkommnere eines Menschen allmählich übergegangen ist“.[26]

Vielleicht überlegte Engels, warum „die Arbeit“, wenn sie denn über jene gewaltige Macht verfügte, nicht wenigstens alle Primaten in Menschen verwandelte. Jedenfalls machte er die zusätzliche Annahme, Ausgangspunkt sei eine „Affenrasse“ gewesen, „die an Intelligenz und Anpassungsfähigkeit allen andern weit voraus war“.[27] Damit mutmaßte er jedoch über geistig-seelische Voraussetzungen der Menschheitsentwicklung, die es schon vor „der Arbeit“ gab, ohne die „Arbeit“ deshalb nichts hätte bewegen können.
Im Widerspruch zur dominanten Rolle von „Arbeit“ stand ebenso Engels‘ Aussage, als „diese Affen“ anfingen, „auf ebner Erde sich der Beihülfe der Hände beim Gehen zu entwöhnen und einen mehr und mehr aufrechten Gang anzunehmen […], war der entscheidende Schritt getan für den Übergang vom Affen zum Menschen“[28] – somit gänzlich ohne Arbeit. Statt „Arbeit zuerst“ hätte er also formulieren müssen: Intelligenz, Anpassungsfähigkeit und aufrechter Gang zuerst![29]
Entsprechend damaliger Erkenntnisse ging Engels davon aus, dass nur „Hunderttausende von Jahren […] vergangen“ waren, „ehe aus dem Rudel baumkletternder Affen eine Gesellschaft von Menschen hervorgegangen war“.[30] Nach aktuellem Forschungsstand setzte die Entwicklung zum Menschen (und zu den anderen heutigen Primaten) bereits vor sechs bis sieben Millionen Jahren ein. Das momentan als frühestes bekannte Fossil der Gattung Homo, somit das erste Anzeichen einer Gesellschaft von Menschen, ist auf ein Alter von 2,8 Millionen Jahre datiert worden.[31] Die ältesten Nachweise für Werkzeugherstellung, die verlässlich der Gattung Homo zugeschrieben werden kann, stammen aus 2,6 Millionen Jahre zurückliegender Zeit.[32] Bis dahin hätten also bis zu 4,4 Millionen Jahre „Menschwerdung“ stattgefunden, für die zumindest bislang keine Beweise vorliegen für „Arbeit“ im Sinne von Engels. Waffennutzung für die Jagd ist sogar erst für die letzten 500.000 Jahren belegt.[33] Der moderne Mensch, der Homo sapiens[34] – eine 1758 von Carl von Linné eingeführte Bezeichnung – ist offenbar seit 200.000 bis 300.000 Jahren ausgereift.

Engels grenzte Menschen auch noch auf andere Weise von Tieren ab. Wenn Letztere „eine dauernde Einwirkung auf ihre Umgebung ausüben“, geschehe das unabsichtlich und sei, „für diese Tiere selbst, etwas Zufälliges“. Das Tier benutze „die äußere Natur bloß“ und bringe

„Änderungen in ihr einfach durch seine Anwesenheit zustande; der Mensch macht sie durch seine Änderungen seinen Zwecken dienstbar, beherrscht sie. Und das ist der letzte, wesentliche Unterschied des Menschen von den übrigen Tieren, und es ist wieder die Arbeit, die diesen Unterschied bewirkt“.[35]

Heute ist erforscht, dass diverse Tierarten Werkzeuge planvoll anwenden,[36] die Natur somit nicht nur durch „Anwesenheit“ verändern. Ohne Tendenzen zur Menschwerdung aufzuweisen, scheinen Menschenaffen darüber hinaus manche ihrer Werkzeuge selbst herzustellen[37] – womit sich das Kriterium Werkzeugherstellung für die Mensch-Tier-Differenzierung ebenfalls erledigt haben dürfte. Ganz abgesehen von der Frage, weshalb planvolle Nutzung vorhandener Materialien als Werkzeuge nicht ebenfalls als „Arbeit“ eingestuft werden kann: Warum sollte jemand etwas produzieren, was ihm die Natur auch ohne Aufwand zur Verfügung stellt?[38]

Würde Arbeit so intensiven Einfluss ausüben, sollte sie das zudem permanent tun. Dementsprechend meinte Engels, die durch Arbeit verursachte „Weiterbildung“ habe sich nach Abschluss der Menschwerdung „im ganzen und großen gewaltig“ fortgesetzt.[39] Doch bis in die heutige Zeit hinein sind „Populationen, z. B. in Südamerika, Australien und Afrika, in ihrer sozialen Verfasstheit, einschließlich dem Entwicklungsstand ihrer Werkzeuge und Kommunikationsmittel, auf ‚vormodernem Niveau‘ stehen geblieben […]. Der Faktor Arbeit hat sich hier nicht fortentwickeln können“.[40] Das ist nach meinem Empfinden nicht abgedeckt durch Engels‘ Einschränkung, die „Weiterbildung“ sei „stellenweise […] unterbrochen durch örtlichen und zeitlichen Rückgang“.[41]
Ein Großteil dessen, was bei Engels wie Tatsachenfeststellung klang, waren ohnehin Vermutungen.[42] Der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow rekapitulierten 2020, dass noch heute für unsere Vorgeschichte „kaum Funde“ vorliegen:

„So gibt es […] Tausende von Jahren, in denen die einzig verfügbaren Zeugnisse hominider Aktivitäten etwa aus einem einzigen Zahn oder vielleicht ein paar Splittern behauenem Feuerstein bestehen. […] Wie sahen diese urmenschlichen Gesellschaften aus? Wir sollten wenigstens an dieser Stelle ehrlich sein und zugeben, nicht die geringste Ahnung zu haben. […] In Bezug auf die meisten Perioden wissen wir nicht einmal, wie Menschen unterhalb des Kehlkopfs gebaut waren, ganz zu schweigen von der Pigmentierung, der Ernährung und all dem anderen.“[43]

Erste „direkte Zeugnisse für das, was wir heute […] als ‚Kultur‘ bezeichnen, reichen“ wiederum „nicht mehr als 100.000 Jahre zurück“. Erst seit knapp 50.000 Jahren kommen solche Zeugnisse allmählich häufiger vor.[44] Und erst seit ca. 5.000 Jahren sind uns mittels Schriftsprachen komplexere Beschreibungen hinterlassen worden.[45] Selbst wenn wir nicht sieben sondern nur sechs Millionen Jahre seit Beginn der Menschwerdung annehmen, heißt das: Für mindestens 5,9 Millionen Jahre, also ca. 98 Prozent davon, lassen sich keinerlei überprüfbare Aussagen treffen zu sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fragen.[46]

Engels ging zwar, wie erwähnt, von einem Zeitraum von nur hunderttausenden Jahren aus. Doch auch bei dieser Rechnung läge der übergroße Anteil der Menschwerdung im Dunkeln. Und 1876 konnte die Archäologie noch weitaus weniger Funde präsentieren als heute.
Was Engels offenbar tat, war, die Vorstellungen von ihm und Marx über „Arbeit“ und Ökonomieprimat in die ferne Vergangenheit zu projizieren – mit schon zu seiner Zeit teils recht zweifelhaften Argumentationen. Dazu wurde „Arbeit“ von ihm personifiziert und mit geradezu magischer Macht versehen, welche den genaueren Blick auf menschliche Motive und psychosoziale Gegebenheiten erneut – scheinbar – unnötig machte.

Diese Herangehensweise war keine Spezifik von Engels.

*

Weiterlesen in Teil 5: Was ist „Kapital“? / Das beseelte Ungeheuer

Quellenverzeichnis

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Anmerkungen

[1] Engels 1962c, S. 260.

[2] Ebd., S. 262.

[3] Ebd.

[4] Ebd. S. 258.

[5] Marx 2021, S. 671.

[6] Ebd., S. 279.

[7] Ebd., S. 786. Auch Simon (1925, S. 9-12) beschreibt den „Kindermord in großem Stil“ (ebd., S. 9, Fn 2).

[8] Die Lebens- und Arbeitsumstände großer Teile des europäischen Proletariats sollten sich im 20. Jahrhundert deutlich verbessern. Doch bedeutete dies nicht das Ende von Ausbeutung und Unterdrückung und es ging es zu Lasten von Umwelt, nachfolgenden Generationen und „Dritter Welt“. Heute werden Kinder vorwiegend im „globalen Süden“ für den Profit missbraucht: 160 Millionen Mädchen und Jungen sind nach aktuellen Schätzungen von Kinderarbeit betroffen, „müssen unter Bedingungen arbeiten, die sie ihrer elementaren Rechte und Chancen berauben“ (https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/blog/-/kinderarbeit-fragen-und-antworten/275272).

[9] Auch luxuriöse Anschaffungen wie die einer dritten Segeljacht lassen sich nicht als Ausdruck ökonomischer Zwänge oder als Maßnahmen zur Profitsteigerung einordnen. Wo so viel materieller Überschuss verfügbar ist, könnte er auch immer zum Wohl der Ausgebeuteten eingesetzt werden ohne der „Strafe des Untergangs“ ausgesetzt zu sein. Wenn Kapitalisten dieses Geld lieber verprassen, ist das weder wirtschaftlich zu erklären noch durch die Lehre von Marx und Engels – aber möglicherweise durch den unbewussten Drang, anerzogene Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren.

[10] 2017 habe ich das so formuliert: „Autoritär-gefühlsunterdrückende Sozialisation ist […] zwar keine hinreichende Bedingung für faschistische Entartungen, aber eine notwendige Voraussetzung dafür. Wir haben es hier daher mit der vermutlich wichtigsten Bedingung für das Zustandekommen faschistoider, destruktiver sozialer Systeme zu tun. Könnten wir dafür sorgen, dass diese Art von Sozialisation nicht mehr stattfindet, gäbe es auch diese Systeme nicht mehr. Psychisch gesunde Menschen wollen und ertragen keine Unterdrückung, erst recht nicht, wenn sie so brutal ausgeübt wird wie im Faschismus. Kein destruktives soziales System ohne destruktiv gemachte Menschen!“ (Peglau 2017b, S. 110).

[11] Siehe Reich 2020; Peglau 2019b, 2022.

[12] Marx 1976a, S. 385.

[13] Den Verlauf von Gebirgen und Gewässern betreffend.

[14] Marx/ Engels 2017, S. 8. Die wichtigen äußeren Bedingungen fassten sie also da noch recht weit, nahezu ökologisch. Ab 1873 knüpfte Engels (1962b) dort wieder stärker an (vgl. Krätke 2020, S. 35–39).

[15] Marx/ Engels 2017, S. 8.

[16] Ebd.

[17] Ebd., S. 136.

[18] Marx 2021, S. 27. Allerdings sind ja Menschenköpfe selbst materiell, so dass außer- und innerhalb des Individuums materielle Einflüsse wirken. Und was war gemeint mit „dem Ideellen“: Geist, Psyche, Charakter, Persönlichkeit, Gedanken, Gefühle? Brodbeck (2018, S. 10) ordnet den zitierten Satz von Marx als „plumpen Materialismus“ ein und fragt: „Welches ‚Material‘ setzt ‚sich‘ hier denn in Sprache, schließlich in ‚Ideen‘ um […]? Die Materie hat Marx zufolge ‚Eigenschaften‘, und eben diese ‚Eigenschaften der Dinge‘ […] sollen sich dem Hirn ‚einprägen‘. Sind Eigenschaften also selbst ‚Materie‘?“

[19] Bei Selbstorganisation wird ein System durch einen eigenen, inneren Antrieb gestaltet. Darüber dachten bereits antike Philosophen nach, im 18. und 19. Jahrhundert vertieften es Kant und Schelling (https://de.wikipedia.org/wiki/Selbstorganisation, vgl. Sandkühler 2021, S. 2428–2433).

[20] Wie falsch diese Annahme wäre, belegt z.B. Dornes 2018. Auch wenn Kindheit 1844 noch nicht intensiv erforscht war, konnte Marx anhand seiner eigenen Kindheit und seiner 1844 geborenen Tochter seine Sichtweisen überprüfen.

[21] Siehe Wohlleben 2015.

[22] Marx/ Engels 2017, S. 28, 31. Ähnlich großzügig sollte Engels (1975b, S. 68) später den Klassenbegriff ausweiten und behaupten, Mann und Frau hätten sich seit Einführung der Monogamie als „Klassen“ gegenübergestanden.

[23] Marx 2021, S. 194.

[24] Engels 1962b. Er schrieb über das gesamte Manuskriptkonvolut, es sei noch „stark zu revidieren“. 1925 erschien es in der UdSSR als Dialektik der Natur: ein Buch, „das Engels nie geschrieben hat“ (Krätke 2020, S. 35, siehe auch Kangal 2022).

[25] Dazu heißt es bei Engels (1962b, S. 447) auch, „die werdenden Menschen kamen dahin, daß sie einander etwas zu sagen hatten. Das Bedürfnis schuf sich sein Organ: Der unentwickelte Kehlkopf des Affen bildete sich langsam aber sicher um“. Obwohl Engels hier ein kommunikatives Bedürfnis, also etwas Psychisches, als Ursache benannte, behauptete er anschließend weiter, diese Entwicklung sei nur der Arbeit geschuldet – als ob Menschen nicht schon immer vielfältige weitere Gründe gehabt hätten, sich zu verständigen. Neuere Forschungen legen nahe, dass der Kehlkopf erst vor etwa 250.00 Jahren Lautsprache ermöglichte, damit mehr als zwei Millionen Jahre nach dem ersten nachgewiesenen Werkzeuggebrauch – und dass die Mutter-Kind-Beziehung große Bedeutung für die Sprachentwicklung hatte. Dass manche Tiere über Sprachfähigkeiten verfügen, dass insbesondere Menschenaffen – ohne „Arbeit“, nur mit Training – lernen können, sich per Zeichensprache mit Menschen zu verständigen, ist mittlerweile ebenfalls erwiesen (Zimmer 2003, S. 110–116, 176ff.).

[26] Engels 1962b, S. 447.

[27] Ebd., S. 449.

[28] Ebd., S. 444.

[29] Hunt (2021, S. 384) weist daraufhin, dass Engels Priorisierung der Arbeit „im Widerspruch zu Darwins eher zerebraler Vorstellung“ stand, wonach das Wachstum von Gehirn und Intelligenz vor dem Erlernen des aufrechten Ganges stattfand“.

[30] Engels 1962b, S. 448.

[31] Villmoare et a. 2015.

[32] https://www.archaeologie.bl.ch/entdecken/fundstelle/55/die-aeltesten-werkzeuge-der-menschheit/ Inzwischen gibt es entsprechende Artefakte, die sogar 3,3 Millionen Jahre alt sind. Da sie sich nicht mit Fossilien zusammenbringen lassen, ist unklar, ob sie den Australopithecinen oder der Gattung Homo zuzurechnen sind (Harmand et. al. 2015).

[33] https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/fruehmenschen-jagten-schon-vor-500000-jahren-mit-stein-speerspitzen-a-867412.html. Das bedeutet aber auch wieder nur, es gibt bisher keinen Nachweis, dass nicht schon zuvor mit Werkzeugen gejagt wurde.

[34] Engels benutzt diese Bezeichnung nicht in seinem Fragment.

[35] Engels 1962b, S. 451f. „Zweifelsfrei gesichert“ sind 300.000 Jahre alte Jagdwaffenfunde (Kuckenburg 2022, S. 80).

[36] https://de.wikipedia.org/wiki/Werkzeuggebrauch_bei_Tieren#N%C3%BCsseknacken_mit_Hammer_und_Amboss. Engels gesteht auch Tieren grundsätzlich absichtsvolles Verhalten zu, aber keinen absichtsvollen Werkzeuggebrauch.

[37] Die bislang frühesten Funde dazu sind 4.300 Jahre alt (https://de.wikipedia.org/wiki/Primatenarch%C3%A4ologie, https://www.sueddeutsche.de/wissen/evolution-die-affen-archaeologen-1.164575). Sollten Menschenaffen schon vor sieben Millionen Jahren Werkzeuge hergestellt haben, hätten möglicherweise auch die werdenden Menschen von Anfang an über diese Fähigkeit verfügt und sich diese nicht erst „erarbeiten“ müssen.

[38] Die Sichtweise von Engels legt zudem nahe: Solange Menschen, zum Beispiel nomadisierend, von dem lebten, was ihnen die Natur im Überfluss zur Verfügung stellte, waren sie noch keine Menschen. Denn sie konsumierten ja nur – aber produzierten nicht. Siehe dagegen Scott 2019, S. 22; Graeber/ Wengrow 2021, S. 473–476; Ryan/ Jethá 2016, S. 201–204, 236–239. Marx (1983b, S. 384) anerkannte 1857/58, „Wanderung“ sei „die erste Form der Existenzweise, nicht daß der Stamm sich niederläßt auf einem bestimmten Sitz, sondern daß er abweidet, was er vorfindet [!]“: Später (Marx 1983a, S. 856) hieß es, am „Anfang der Gesellschaft […] existieren noch keine produzierten Produktionsmittel“.

[39] Engels 1962b, S. 448.

[40] Witzgall 2021, S. 7. Da insbesondere Jäger- und Sammlerordnungen auch als Erfolgsmodell verstanden werden können (Scott 2019; Ryan/ Jetha 2016, S. 177–244; Graeber/ Wengrow 2022, S. 473–476), sollte das Beibehalten einer Art des Wirtschaftens nicht schlichtweg als Sich-nicht-Fortentwickeln-Können oder Stehen-Bleiben abgewertet werden – ebenso wenig, wie wirtschaftliche Fortschritte automatisch als etwas Gutes für die Menschheit einzustufen sind.

[41] Engels 1962b, S. 448.

[42] Bzw. die Übernahme von Vermutungen anderer Autoren. Zu bleibenden Erkenntnissen in Engels‘ Fragment: Kuckenburg 2022, S. 138–159. Auch Marx (2021, S. 534f.) stellte Annahmen über „Kulturanfänge“ wie erwiesene Tatsachen dar.

[43] Graeber/ Wengrow 2022, S. 96, 98.

[44] Ebd., S. 100f. Die momentan älteste bekannte Höhlenmalerei ist 45.000 Jahre alt (https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6hlenmalerei).

[45] Scott 2019, S. 20.

[46] Dennoch werden solche Aussagen vielfach getroffen, meist auf Basis so anfechtbarer Hypothesen, wie der, dass Menschen vor 100.000en von Jahren so gelebt hätten wie heute beobachtbare „Naturvölker“.