Menschen als Marionetten? Wie Marx und Engels die reale Psyche in ihrer Lehre verdrängten. Teil 7: Fragwürdige Vor- und Rückschau, Wunschdenken

von Andreas Peglau

Fragwürdige Vorausschau

Bei Wikipedia erfahren wir, dass eine „genaue, einheitliche und abschließende Definition des Begriffs“ Naturgesetz nicht existiert und dass mit diesem Wort „in Naturwissenschaften und Wissenschaftstheorie die orts- und zeitunabhängige und auf Naturkonstanten beruhende Regelmäßigkeit von Naturerscheinungen bezeichnet“ werden. Wegen letzterer Eigenschaften erlaubten Naturgesetze, „beobachtbare Ereignisse zu erklären und vorherzusagen“.[1] Von den Vorhersagen, die Marx und Engels machten, sind jedoch viele nicht eingetroffen, insbesondere was politische Umwälzungen betraf. Im Manifest hieß es 1848, dass die „deutsche bürgerliche Revolution […] nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann“.[2] In der Neuen Rheinischen Zeitung teilte Marx im Januar 1849 als „Inhaltsanzeige des Jahres 1849“ mit: „Revolutionäre Erhebung der französischen Arbeiterklasse, Weltkrieg.“[3] Wenige Monate danach vermeldete Engels in derselben Zeitung: „Noch ein paar Tage also, und […] die magyarische [= ungarische] Revolution ist beendigt, und die zweite deutsche in großartigster Weise eröffnet.“[4] 1850 informierten beide ihre Kampfgenossen: „Die Revolution […] steht nahe bevor“,[5] kann „nicht mehr lange ausbleiben“.[6] Engels‘ Lageeinschätzung von 1854 lautete: „Von Manchester bis Rom, von Paris bis Warschau und Pest“[7] sei die Revolution „allgegenwärtig, erhebt ihr Haupt und erwacht vom Schlummer“.[8] Marx kündigte 1863 an, „Wir werden bald Revolution haben“, „gehn offenbar einer Revolution entgegen – woran ich seit 1850 nie gezweifelt habe.“[9]

Zwar formulierten sie ihre Erwartungen in späteren Jahren seltener und weniger enthusiastisch. Doch anscheinend unbeirrt von den zitierten und weiteren Fehlprognosen[10] behauptete Marx im ersten Band des Kapital, dass „[m]it der Masse der beschäftigten Arbeiter […] ihr Widerstand“ wachse und es zur „unvermeidliche[n] Eroberung der politischen Gewalt durch die Arbeiterklasse“ kommen werde.[11] „Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten“ wachse

„die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse.[12] […] Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert“.[13]

Die „kapitalistische Produktion“ erzeuge „mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation“.[14] 1880, dreizehn Jahre danach, meinte auch Engels, in den damals durch Monopolbildung entstehenden „Trusts“, werde „die Ausbeutung so handgreiflich, daß sie zusammenbrechen muß. Kein Volk würde eine durch Trusts geleitete Produktion, eine so unverhüllte Ausbeutung der Gesamtheit durch eine kleine Bande von Kuponabschneidern[15] sich gefallen lassen“.[16]

Genau das ist heute jedoch noch immer beziehungsweise wieder bei den meisten Völkern der Fall – und in viel zugespitzterer Weise. 2017 besaßen die acht reichsten Männer der Welt „mehr Kapital, als der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung zur Verfügung steht“; „99 Pro-zent“ der Menschen erlitten dadurch „massive Nachteile“.[17] In der BRD verfügte 2020 ein Prozent der Erwachsenen über 35 Prozent des Gesamtvermögens. Während der – und durch die – Corona-„Pandemie“[18] konnten zehn der weltweit reichsten Männer ihr Vermögen seit 2020 verdoppeln.[19] Zumindest im „Westen“ dürfte der als „Great Reset“ und „New Green Deal“ angepriesene Eliten-Putsch inklusive planmäßiger Entmachtung und Verarmung der Bevölkerungen sowie die seit der Ukraine-Krise anschwellende Rüstungsproduktion die Kapitalkonzentration inzwischen weiter vorangetrieben haben.

Die sozialistische Revolution ist also laut Marx und Engels seit langem überfällig, auch global. Aber sie ist nicht in Sicht.

Was nach dem Tod von Marx und Engels tatsächlich folgte, waren unter anderem zwei Weltkriege, Faschismus, ein „realer Sozialismus“ mitsamt Stalinismus, ein kapitalistischer „Westen“, wo Arbeiter trotz Kapitalkonzentration mehr Wohlstand erlangten, dann der Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems zugunsten einer fast weltweiten Neoliberalisierung. Und nun, aktuell, kämpft die Mehrheit der Welt um Multipolarität und gegen den US-geführten „Westen“ – ein Kampf vor allem zwischen Staaten mit kapitalistischer Wirtschaft, der dennoch auf der nicht-westlichen Seite seine Berechtigung hat.
Nur wenig davon ließ und lässt sich mit den Vorhersagen von Marx in Übereinstimmung bringen oder „marxistisch“ erklären, die sozialökonomische Verfassung des heutigen Chinas ebenfalls nicht.[20] Der Philosoph Volker Riedel bilanziert:

„Zunächst einmal sind Marx gravierende historische Fehleinschätzungen im Hinblick auf den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus unterlaufen. Er hat ebensosehr die Lebensfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise unter- wie die Potenzen der sozialistischen überschätzt und dabei weder den Reformismus in der Arbeiterbewegung vorhergesehen noch die Eigendynamik bürokratischer Apparate in Betracht gezogen. Zudem hat er […] den Verlauf der proletarischen Revolution unrichtig prognostiziert […].“[21]

Nicht nur die Qualität der Voraussagen lässt an den von Marx und Engels angenommenen naturgesetzlichen Abläufen zweifeln.

Eingeschränkter Blick zurück

Im Kommunistischen Manifest hatten Marx und Engels verkündet: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“[22] Als Engels diese Schrift 40 Jahre später wieder herausgab, lag neues ethnologisches Wissen vor, mit dem Marx und er sich auseinandergesetzt hatten.[23] Nun versah Engels den Satz aus dem Manifest mit der lapidaren Fußnote: „Das heißt, genau gesprochen, die schriftlich überlieferte Geschichte“[24] – was vielleicht bedeuten sollte: Solange es schriftliche Überlieferungen gibt, spiegeln sich dort Klassenkämpfe wider.

In der Vorrede zu dieser Neuveröffentlichung grenzte Engels genauer ein: Seit Untergang des von ihm angenommenen Urkommunismus[25] sei „die Geschichte der Menschheit […] eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen“.[26] Damit gestand er zugleich ein, dass sich für den – auch nach damaligem Kenntnisstand – übergroßen Teil der Menschheitsgeschichte der Klassenkampf, also jene Triebkraft, der Marx und er doch so große Bedeutung beimaßen, nicht zur Begründung sozialen Wandels heranziehen ließ.

Die Abfolge von Gesellschaftsformationen, die sie aus dem vermuteten Ablauf wirtschaftlicher Höherentwicklung ableiteten, stand ebenfalls auf tönernen Füßen.
In Briefentwürfen meinte Marx 1881, einer „primitiven Gesellschaftsformation“ folgten die „auf Privateigentum“ basierenden Formationen, zunächst „Sklaverei“, dann „Leibeigenschaft“,[27] also Feudalismus. Engels schilderte seine ähnliche Auffassung in der 1884 erschienenen Schrift Der Ursprung der Familie, das Privateigentums und des Staates. Dem Ethnologen Lewis Morgan zustimmend, nahm er als früheste Epochen „Wildheit“ und „Barbarei“[28] an. Danach seien die „drei großen Formen der Knechtschaft“ entstanden, „wie sie für die drei großen Epochen der Zivilisation charakteristisch sind“: „Die Sklaverei ist die erste, der antiken Welt eigentümliche Form der Ausbeutung; ihr folgt die Leibeigenschaft im Mittelalter, die Lohnarbeit in der neueren Zeit.“[29]
Sowohl Marx als auch Engels gerieten hier nicht nur mit eigenen Aussagen in Widerspruch.[30] Sie blendeten ebenso ihnen bekannte Forschungsergebnisse aus, unter anderem über frühe ägyptische und südamerikanische Kulturen.[31]

Ihre Einteilung blieb somit „auf Gesellschaften nach westlichem Muster“ beschränkt. Die ältesten Hochkulturen „des globalen Südens und Ostens mit ihrem zum Teil deutlich schwächer ausgeprägten Privateigentum“ und der geringeren Bedeutung von Sklavenhaltung wurden „quasi per Definition von der Zugehörigkeit zur […] ‚Zivilisation‘ ausgeschlossen“.[32]
Der Wissenschaftsjournalist Martin Kuckenburg hat diesen Zusammenhängen eine vierbändige Ausarbeitung gewidmet. Er resümiert: Letztlich blieben Marx und Engels zeittypischen eurozentristischen Vorurteilen verhaftet über Gesellschaften mit teils „fortbestehenden kollektivistischen Strukturen und ihrem deutlich anders […] geartetem Entwicklungsweg“.[33]

Wunschdenken

Ein weiterer Einwand erscheint mir noch bedeutsamer: Naturgesetze werden und wurden üblicherweise als vom Menschen unabhängige Zusammenhänge begriffen. Wie könnte es aber jemals soziale, politische und wirtschaftliche Prozesse geben, die von Menschen – als deren Träger! – unabhängig sind?[34] All dies Soziale, Politische und Wirtschaftliche findet doch nur statt, weil und solange Menschen existieren.[35]

Schauen wir uns noch einmal an, wie Marx und Engels in den soeben zitierten Stellen ihre Hoffnungen auf Veränderung begründeten. Gegen den angeblich immer unaushaltbarer werdenden Kapitalismus würde die anwachsende Arbeiterschaft immer mehr Widerstand leisten, sich immer mehr empören – zumal der „Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses“ die Arbeiter schule, vereine und organisiere. Erst recht würde kein Volk eine so unverhüllte Ausbeutung durch eine derart kleine Gruppe sich gefallen lassen, wie sie die Kapitalkonzentration mit sich brächte. Hier ging es also maßgeblich um seelische Vorgänge, um Emotionen und Motivationen und daraus erwachsendes Handeln. Und nun rächte sich einmal mehr, dass Marx und Engels dieses Gebiet so oberflächlich abtaten. Denn, wie schon beschrieben, ihre diesbezüglichen Ankündigungen waren Wunschdenken.

Dem ließe sich entgegnen: Marx und Engels wollten doch vor allem ökonomische Zusammenhänge analysieren und konnten nicht alles gleichzeitig bewältigen. Richtig! Aber dass sie trotzdem unqualifizierte Aussagen über seelische Vorgänge trafen, lief ihrem Anspruch zuwider, empirische Wissenschaft zu betreiben und ließ sie an den genannten Stellen in die Irre gehen.[36]

Und, um es zu wiederholen: Sie hätten das auch nicht nötig gehabt. Denn sie konnten auf ihnen bekannte Vorleistungen zurückgreifen. Nur zwei prägnante Beispiele will ich benennen.

*

 

Weiterlesen in Teil 8: Von Immanuel Kant bis Kinderarbeit

Quellenverzeichnis.

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Anmerkungen

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Naturgesetz. Entsprechend: Sandkühler 2021, S. 1728.

[2] Marx/ Engels 1972b, S. 493. Auch in anderer Hinsicht beurteilten sie dort (ebd., S. 473f.) die Situation in teils irreal: „Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h., ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit der Gesellschaft. […] Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“ Steinfeld (2017, S. 33–47) weist darauf hin, dass das Proletariat, an das sich Marx und Engels wendeten, 1848 erst im Entstehen war: „Das ‚Manifest‘ will ein historisches Subjekt herbeirufen, das es noch kaum gibt, England und Paris vielleicht ausgenommen“ (ebd., S. 40). Als „Kommunisten“ bezeichneten sich damals „vielleicht tausend Menschen in Europa, vielleicht ein paar mehr“, zu denen einige Gelehrte wie Marx und Engels gehörten, die „von einem Exil ins nächste getrieben wurden“ (ebd., S. 36). Auch jener „Bund der Kommunisten“, für den das Manifest geschrieben worden war, löste sich nach vier Jahren wieder auf. Das in Europa umgehende „Gespenst des Kommunismus“ (Marx/ Engels 1972b, S. 461) war 1848 also noch ein weitaus schmächtigeres, als es das Manifest suggerierte. In der Deutschen Ideologie hatten sie 1845/46 bereits „Millionen Proletarier oder Kommunisten“ vorweggenommen (Marx/ Engels 2017, S. 58). Pagel (2020, S. 403) konstatiert: Zu dieser Zeit blieb das Proletariat von der „kommunistischen Agitation […] vollkommen unberührt“.

[3] Marx 1959, S. 150.

[4] Engels 1961, S. 474.

[5] Marx/ Engels 1960a, S. 245.

[6] Marx/ Engels 1960b, S. 312.

[7] Stadtteil des heutigen Budapest.

[8] Engels 1977a, S. 8.

[9] Marx/ Engels 1974, S. 333, 641.

[10] Siehe die Auflistungen in Löw, S. 331–336 sowie: https://marx-forum.de/marx-lexikon/lexikon_ij/irrtum.html.

[11] Marx 2021, S. 350, S. 512.

[12] Wie dieser sich doch vor allem entfremdend bis mörderisch auswirkende „Mechanismus“ plötzlich derartig konstruktive Resultate erzielen sollte, blieb das Geheimnis von Marx. Er selbst hatte zudem herausgearbeitet, dass sich „[e]rhöhte Ausbeutung […] und Erhöhung des Lebensstandards der Arbeiterklasse“ keineswegs ausschlossen (Heinrich 2021, S. 119).

[13] Marx 2021, S. 790f. Letzter Satz: Diejenigen, die bislang den Arbeitern ihre Arbeitskraft stahlen, werden nun selbst enteignet.

[14] Ebd., S. 791.

[15] Synonym für ohne eigene Leistung Profit erzielende Kapitalisten, also jene Gruppe, der Engels ab 1869 selbst angehörte.

[16] Engels 1973, S. 221. Noch 1890 schrieb Engels an Marx‘ Tochter Laura: „Der 20. Februar 1890 ist der Tag des Beginns der deutschen Revolution. Es mag noch ein paar Jahre dauern, bis wir eine entscheidende Krise erleben, und es ist nicht unmöglich, daß wir eine vorübergehende und ernsthafte Niederlage erleiden. Aber die alte Stabilität ist für immer dahin“ (Marx/ Engels 1967b, S. 359). Auch 1892 blieb er zuversichtlich: „Natürlich wird die nächste Revolution, die sich in Deutschland mit einer Beharrlichkeit und Stetigkeit ohnegleichen vorbereitet, zu ihrer Zeit kommen, sagen wir 1898–1904“ (Marx/ Engels 1979, S. 545).

[17] Siehe https://taz.de/Neue-Studie-zur-Verteilung-von-Reichtum/!5371707/.

[18] Peglau 2020a.

[19] Oxfam 2022. 2023 hatte „das reichste Prozent der Weltbevölkerung seit Beginn der Corona-Pandemie rund zwei Drittel des weltweiten Vermögenszuwachses kassiert.“ In der BRD entfielen vom „Vermögenszuwachs, der 2020 und 2021 in Deutschland erwirtschaftet wurde, […] 81 Prozent auf das reichste eine Prozent der Bevölkerung“ (https://www.berliner-zeitung.de/news/zahlen-veroeffentlicht-konzerne-und-milliardaere-bereichern-sich-an-den-krisen-li.307327).

[20] Elsner 2020; Peglau 2021.

[21] Riedel 2004, S. 108.

[22] Marx/ Engels 1959, S. 462.

[23] In seinen letzten Lebensjahren studierte Marx intensiv ethnologische Literatur, veröffentlichte aber nichts dazu. Erhalten geblieben sind Exzerpte (Marx 1976c; siehe auch Krader 1973, Conversano 2018, S. 9f.), die Engels später nutzte.

[24] Marx/ Engels 1959, S. 462.

[25] Hier spricht er von „der primitiven Gentilordnung mit ihrem Gemeinbesitz an Grund und Boden“ (Engels 1977b, S. 581). 1884 hatte er diese Ordnung beschrieben als „wunderbare Verfassung in all ihrer Kindlichkeit und Einfachheit […]. Ohne Soldaten, Gendarmen und Polizisten, ohne Adel, Könige, Statthalter, Präfekten oder Richter, ohne Gefängnisse, ohne Prozesse geht alles seinen geregelten Gang. Allen Zank und Streit entscheidet die Gesamtheit derer, die es angeht. […] die Haushal-tung ist einer Reihe von Familien gemein und kommunistisch, der Boden ist Stammesbesitz, nur die Gärtchen sind den Haushaltungen vorläufig zugewiesen […]. Arme und Bedürftige kann es nicht geben […] Alle sind gleich und frei – auch die Weiber“ (Engels 1975b, S. 95f.; vgl. Marx/ Engels 1968, S. 427; Marx 1983a, S. 911). Ob ein solches Menschheitsstadium tatsächlich allgemein existierte, wird sich mangels entsprechender archäologischer Funde nie zweifelsfrei nachweisen lassen (Röder/ Hummel/ Kunz 2001, S. 396). Offenbar funktionierten aber in den letzten 10.000 Jahren mehrere egalitäre städtische Sozialstrukturen über mehr als tausend Jahre (Graeber/ Wengrow 2022, S. 236, 245ff.).

[26] Engels 1977b, S. 581.

[27] Marx 1973b, S. 404.

[28] Engels 1975b, S. 30–35. „Wildheit – Zeitraum der vorwiegenden Aneignung fertiger Naturprodukte […]. Barbarei – Zeitraum der Erwerbung von Viehzucht und Ackerbau, der Erlernung von Methoden zur gesteigerten Produktion von Naturerzeugnissen durch menschliche Tätigkeit. Zivilisation – Zeitraum der Erlernung der weiteren Verarbeitung von Naturerzeugnissen, der eigentlichen Industrie und der Kunst“ (ebd. S. 35).

[29] Ebd., S. 170.

[30] Siehe Marx/ Engels 1963, S. 284; Marx 1971a, S. 9; Engels 1962a, S. 164f.; Kuckenburg 2023, S. 26–31.

[31] Ebd., S. 48–105.

[32] Ebd., S. 104.

[33] Ebd., S. 105. Tedesco (2022) verweist darauf, dass auch einige heutige Historiker „Schwächen“ der „traditionellen marxistischen“ Geschichtsbetrachtung wie deren Eurozentriertheit kritisieren und „einen neuen Bezugsrahmen zur Interpretation vorkapitalistischer Gesellschaften […] entwickeln“. Als Vertreter nennt er Perry Anderson, Jairus Banaji, John Haldon und Chris Wickham.

[34] Hiebel (2017, S. 152) sieht das offenbar genauso, versucht aber erneut, Marx in gleicher Weise wie zuvor zu „retten“: „Ich denke, man muss ‚Gesetz‘ […] als Metaphern sehen. ‚Gesetz‘ als naturwissenschaftlich begründeter Begriff für Naturgesetzlichkeiten darf nicht wirklich für historisch-gesellschaftliche Phänomene eingesetzt werden“.

[35] Schon 1890 legte der Ökonom Conrad Schmidt den Finger in diese Wunde. Er schrieb an Engels, dass die Marxsche Theorie nur zu halten wäre, wenn nachgewiesen werden könne, dass die nicht-materialistischen Vorgänge ebenfalls ökonomisch begründet werden könnten. Schmidt widerstrebte es, so der Publizist Paul Kampfmeyer 1932 (S. 902f.) in einem Nachruf, „die Marxsche Geschichtsauffassung als materialistisch zu bezeichnen. Sie ist in Wahrheit eine ökonomische Weltanschauung“. Treffend scheint mir auch, was der Journalist Klaus Weinert (2013) formulierte: „Wenn in der Wirtschaft von ‚Gesetzen‘ oder ‚natürlichen Gesetzen‘ gesprochen wird, ist immer größte Vorsicht geboten. Die Ökonomik ist keine Naturwissenschaft. Und es gibt in der Wirtschaft keine Gesetze wie in der Physik. Die Schwerkraft kann kein Parlamentsbeschluss der Welt außer Kraft setzen, die Sparauflagen für Südeuropa oder die Hartz-IV-Gesetze könnte man schon ändern.“ Letztere „Gesetze“ funktionierten „nur solange, wie sich die Menschen auf ein bestimmtes System einigen.“

[36] Lange (1955, S. 44) schreibt: „Marx behauptet nicht, dass sich die geschichtlichen Vorgänge und Institutionen, insbesondere Religion, Wissenschaft, ethische und philosophische Ideen u. dgl. auf ökonomische Motive reduzieren lassen; er versucht vielmehr, nur die ökonomischen Bedingungen für ihre Formung und ihren Wandel zu erklären.“ Während ich der ersten Aussage zustimme, kann ich die am Schluss unterstellte Selbstbescheidung nicht bestätigen. Marx streitet nicht ab, dass es noch andere Einflussfaktoren gibt als die von ihm erforschten ökonomischen, hält diese aber für vergleichsweise unwichtig, Ein-, Zu-, geschweige denn Unterordnung in ein größeres Ganzes habe ich nicht entdecken können.