Menschen als Marionetten? Wie Marx und Engels die reale Psyche in ihrer Lehre verdrängten. Teil 5: Was ist „Kapital“? / Das beseelte Ungeheuer

von Andreas Peglau

Was ist Kapital?

In Marx‘ gleichnamigen dreibändigen Werk findet sich keine Definition des titelgebenden Gegenstandes, sondern eine Vielzahl teils widersprüchlicher Aussagen dazu.[1] 
Eine kleine Auswahl: Kapital ist das, was aus einem Wert wird, der sich „verwertet“, zu „Mehrwert“ wird.[2] „Jedes neue Kapital betritt zum erstenmal die Bühne […] immer noch als Geld, […] das sich durch bestimmte Prozesse in Kapital verwandeln soll.“[3] „Kapital ist Geld, Kapital ist Ware.“[4] Im dritten Kapital-Band heißt es dann:

„Aber das Kapital ist kein Ding, sondern ein bestimmtes, gesellschaftliches, einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation angehöriges Produktionsverhältnis, das sich an einem Ding darstellt. Das Kapital ist nicht die Summe der materiellen und produzierten Produktionsmittel. Das Kapital, das sind die in Kapital verwandelten Produktionsmittel, die an sich so wenig Kapital sind, wie Gold und Silber an sich Geld ist. Es sind die von einem bestimmten Teil der Gesellschaft monopolisierten Produktionsmittel, die der lebendigen Arbeit gegenüber verselbstständigten Produkte und Betätigungsbedingungen eben dieser Arbeitskraft.“[5]

Kapital ist also laut Marx gleichzeitig Mehrwert, Geld, Ware, Produkte, Produktionsmittel. Aber es ist, meint er, trotzdem „kein Ding“ – sondern ein Produktionsverhältnis, damit eine in seinem Verständnis ausgesprochen umfassende Kategorie, zu der Rohstoffe, Produktionsmittel und menschliche Arbeitskräfte ebenso gehören wie die zwischen ihnen ablaufenden Prozesse und vorhandene „Betätigungsbedingungen“.[6]

Diese irritierende Vielfalt illustriert Marx mit unterschiedlichsten Beispielen, Zuordnungen, ökonomischen Analysen, mathematischen Nachweisen oder Statistiken. Er beschreibt, wie Unternehmer Kapital erwerben, vermehren, einteilen[7] und umwandeln,[8] befasst sich mit „Kapital von 500 Talern“[9] ebenso wie mit „Kapital, das 100 000 Pf[und] St[erling]“ kostet,[10] mit vorgeschossenem, zinstragendem, produktivem, variablem, konstantem, fixem, totem, flüssigem, fiktivem, zirkulierendem, gesellschaftlichem, funktionierendem, personifiziertem, Wucher-, Kaufmanns-, Geld-, Waren-, Handels-, Warenhandlungs- und Geldhandlungskapital.[11]

Damit sind seine Schilderungen nicht erschöpft. Er führte eine zusätzliche Erzählebene ein, durch die wir das Kapital noch einmal auf ganz andere Weise kennenlernen.

Das beseelte Ungeheuer

Während Kapitalisten und Arbeiter im Kapital meist als halbtote Gliederpuppen erscheinen, haben sie dort einen quicklebendigen, machtvollen Kontrahenten: eben „das Kapital“. Dieses Wesen wird von Marx mit „Lebensgeschichte“[12] und Persönlichkeitsprofil ausgestattet.

Das Kapital komme „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“[13] zur Welt, als „verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt“.[14] Es „konsumiere Arbeitskraft“,[15] beginne „zu ‚arbeiten‘ […], als hätt‘ es Lieb‘ im Leibe“:[16] ein „sich selbst verwertende[r] Wert, ein beseeltes Ungeheuer“. [17] Dabei komme es sich „selbst zum Bewußtsein als eine gesellschaftliche Macht“.[18]

Getrieben von „Exploitationsgier und Herrschsucht“,[19] habe es „einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb, sich zu verwerten“.[20] Es verfüge nicht nur über die Fähigkeit, „Mehrwert“ zu produzieren[21] und „Geld zu hecken“,[22] also zu (er)zeugen, sondern auch über „Geist“[23] und, jedenfalls in England, über ein „innerstes Seelengeheimnis“.[24] Die „Kapitalseele“[25] sei in der Lage, zu träumen, zum Beispiel davon, dass Arbeitshäuser eingerichtet würden.[26] Kapital könne sprechen, antworten, agitieren, Gesetze formulieren, über Steuern „zetern“, einen „Feldzug“ unternehmen, eine „Revolte“ einleiten und „Orgien“ feiern.[27]

Da die „Entwicklung der Produktivkräfte“ seine „historische Aufgabe“ sei, schaffe das Kapital „unbewußt die materiellen Bedingungen einer höhern Produktionsform“,[28] werfe sich „mit aller Macht und vollem Bewußtsein auf die Produktion von relativem Mehrwert“.[29] Es ordne „sich zunächst die Arbeit unter mit den technischen Bedingungen, worin es sie historisch vorfindet“,[30] übernehme „Kommando“, „Leitung, Überwachung, Vermittlung“ der Produktion,[31] beschäftige und entlohne die Arbeiter, treibe, „ohne daß es sich dessen bewußt wäre, zur gewaltsamsten Verlängrung des Arbeitstags“, stelle ein „Zwangsverhältnis“ her, „welches die Arbeiterklasse nötigt, mehr Arbeit zu verrichten“.[32]

Dabei sei das Kapital „rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird“, leugne „die Leiden“ der […] Arbeitergeneration“,[33] verlange und ertrotze sich „den Genuß, achtjährige Arbeiterkinder unausgesetzt von 2 bis halb 9 Uhr abends“ schuften und „hungern zu lassen!“[34]

Als „Auspumper von Mehrarbeit und Exploiteur von Arbeitskraft übergipfelt es an Energie, Maßlosigkeit und Wirksamkeit alle frühern auf direkter Zwangsarbeit beruhenden Produktionssysteme“.[35]

Nicht zu vergessen jene im wahrsten Sinne des Wortes Charakterisierung des Kapitals, die Marx zustimmend zitierte:

„‘Kapital‘, sagt der Quarterly Reviewer, ‚flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren‘.“[36]

Was für ein brutales, kreatives, intelligentes, hochpotentes Monster! Marx-Biograf Jürgen Neffe imaginiert es als „gefräßige[n], nimmersatte[n], zum ewigen Wachstum verdammte[n] Krake[n], der sich alles einverleibt, das ihm zu nahe kommt“ und bescheinigt dem Kapital-Buch Qualitäten einer Schauer- und Spukgeschichte, wie sie im 19. Jahrhundert vielfach verfasst wurden.[37]

„Nur“ Metaphern?

Es steht außer Frage, dass Marx nicht glaubte, das Kapital sei ein menschliches Wesen. Wenn er fabuliert, das Kapital komme „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ zur Welt, ist das eine Metapher, ein poetisches Bild.[38]

Statt des „eigentlichen Wortsinns“ wird in der Metapher „etwas anderes zu verstehen gegeben“,[39] der „eigentliche Ausdruck wird durch etwas ersetzt, das deutlicher, anschaulicher oder sprachlich reicher sein soll“.[40] Metaphern produzieren daher immer einen „Überschuss“ an Information, „der anregend und irritierend zugleich ist“.[41]

Mit diesem Stilmittel kann auch ein wissenschaftlich umrissener Sachverhalt sprachlich variiert, illustriert, ausgeschmückt, ironisiert werden, lässt sich ein Text bereichern, verständlicher, emotionaler machen.

Aber diese metaphorische Umschreibung darf der ursprünglichen Botschaft nicht zuwiderlaufen. Metaphern können aufgrund ihrer notwendigerweise stärker ausdeutbaren Formulierungen zudem nur zusätzlich verwendet werden zum wissenschaftlichen „Klartext“. Wo kein „eigentlicher Ausdruck“ vorhanden ist, kann er nicht gelegentlich durch poetische Bilder ersetzt werden.

Doch was ist bei Marx der „eigentliche Ausdruck“?

Animismus?

Kapital als Wert, der im kapitalistischen Produktions- und Handelsprozess bereits an Wert gewonnen hat, ist selbstverständlich real, zum Beispiel in Form von Geldscheinen oder -münzen, Bankkonten, Immobilien.

Was passiert, wenn wir dieses reale Kapital in einige der Marx-Zitate einsetzen? Ein Hundertmarkschein erkennt die „Entwicklung der Produktivkräfte“ als seine „historische Aufgabe“. Ein Haufen Dollarmünzen schafft „unbewußt die materiellen Bedingungen einer höhern Produktionsform“. Ein Bankkonto wirft sich „mit aller Macht und vollem Bewußtsein auf die Produktion von relativem Mehrwert“. Eine Immobilie ertrotzt sich „den Genuß, achtjährige Arbeiterkinder unausgesetzt von 2 bis halb 9 Uhr abends nicht nur schanzen, sondern auch hungern zu lassen!“

So etwas funktioniert höchstens in Trickfilmen für Kinder oder in animistischen Vorstellungen einer grundsätzlich beseelten Welt[42] – die Marx in keiner Weise vertrat. Diese Ersetzung ergibt keinen Sinn.

Kapital = Kapitalismus?

Ist das Kapital-Wesen vielleicht eine Metapher für die gesamte vom Privatbesitz an Produktionsmitteln gekennzeichnete Gesellschaftsordnung?

1849 hatte Marx geschrieben, das Kapital sei ein „bürgerliches Produktionsverhältnis.“ Und: „Die Produktionsverhältnisse in ihrer Gesamtheit bilden das, was man die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gesellschaft nennt.“[43] Hier äußert er also die befremdliche Idee, Produktionsverhältnisse seien gleichzusetzen mit der gesamten Gesellschaft. Da er Letzteres im ersten Kapital-Band noch einmal zitiert,[44] scheint er bei dieser Auffassung geblieben zu sein.[45]
Das Kapital scheint in seiner Vorstellung allerdings nur eines von mehreren gleichzeitig existierenden Produktionsverhältnissen gewesen zu sein, konnte deshalb wohl nicht für den Kapitalismus insgesamt stehen. Bereits im Kommunistischen Manifest würdigten er und Engels den Kapitalismus zudem als notwendigen, insofern begrüßenswerten Fortschritt gegenüber früheren Gesellschaften.[46] Ich habe nicht entdeckt, dass Marx sich von dieser Wertung distanziert hätte. Dass er Kapitalismus pauschal einem bösartigen Wesen gleichsetzten wollte, halte ich daher für ausgeschlossen.

„Kapitalismus“ in seinen Text einzufügen statt „Kapital“, würde außerdem erneut sinnfreie Sätze erzeugen: Der Kapitalismus erkennt die „Entwicklung der Produktivkräfte“ als seine „historische Aufgabe“, schafft „unbewußt die materiellen Bedingungen einer höhern Produktionsform“. Kapitalismus ist eine Abstraktion, ein Begriff, aber kein handelndes Subjekt, er kann weder erkennen noch schaffen.

Kapitalist statt Kapital?

Wesentlich sinnvoller wird es, wenn wir in den zitierten Metaphern das Kapitalwesen ersetzen durch „Kapitalisten“.

Kapitalisten sprechen tatsächlich, sie antworten, agitieren, formulieren Gesetze, zetern über Steuern, unternehmen Feldzüge, leiten Revolten ein, feiern Orgien. Sie sind in der Lage „die materiellen Bedingungen einer höhern Produktionsform“ zu schaffen und sich „mit aller Macht und vollem Bewußtsein auf die Produktion von relativem Mehrwert“ zu werfen. Über Kapitalisten lässt sich wahrheitsgemäß aussagen, dass sie sich die Arbeit unterordnen, „Kommando“, „Leitung, Überwachung, Vermittlung“ der Produktion übernehmen, „zur gewaltsamsten Verlängrung des Arbeitstags“ treiben, ein „Zwangsverhältnis“ herstellen, „welches die Arbeiterklasse nötigt, mehr Arbeit zu verrichten“. Zumindest die meisten Kapitalisten sind „rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters“, wo sie „nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen“ werden; viele dürften in der Tat getrieben sein von „Exploitationsgier und Herrschsucht“.

Wenn wir uns den Text von Marx genauer anschauen, stellen wir freilich fest: Diese Aussagen sind im Wesentlichen bereits in ihm enthalten. Was er über das Kapitalmonster zu Papier bringt, formuliert er meist noch einmal ähnlich für die Kapitalisten. Mit wichtigen Unterschieden: Hier bevorzugt er einen vergleichsweise sachlich-nüchternen Tonfall, verzichtet weitgehend auf moralische Wertung – und entschuldigt die Unternehmer mehrfach damit, dass sie ja als Kapital-„Personifikationen“ und Getriebene ökonomischer Zwangsgesetze nicht anders könnten. Kapitalisten werden zwar als machtvoll gegenüber den Arbeitern geschildert, aber nicht als so mächtig, eigenständig und mystisch überhöht wie das Kapitalmonster, vor dem sie ja selbst zu Kreuze kriechen.

Auch dafür einige Belege: Kapitalisten hätten, so Marx, einen „absolute[n] Bereicherungstrieb“, eine „unauslöschliche Leidenschaft für den Gewinn“, spürten „Exploitationslust“, Lust am Ausbeuten. Die „Produktion von Gebrauchswerten oder Gütern“ finde „für den Kapitalisten und unter seiner Kontrolle“ statt.[47] Er müsse „die Arbeitskraft zunächst nehmen, wie er sie auf dem Markt vorfindet“, konsumiere diese Kraft,[48] verzehre sie,[49] verleibe sich „durch den Kauf der Arbeitskraft die Arbeit selbst als lebendigen Gärungsstoff“ ein.[50] Der „Arbeitsprozeß“ sei „ein Prozeß zwischen Dingen, die der Kapitalist gekauft hat, zwischen ihm gehörigen Dingen“.[51] Der Kapitalist wolle „nicht nur Wert, sondern auch Mehrwert“ erzeugen,[52] dränge daher mit „Heißhunger nach Mehrarbeit“ und „zu maßloser Verlängrung des Arbeitstags“.[53] „26 Firmen“ hätten den britischen Staat ersucht, durch „gewaltsame Einmischung“ zu verhindern, dass die Altersgrenze für Kinderarbeit heraufgesetzt werde.[54] Mit „zynischer Rücksichtslosigkeit, mit terroristischer Energie“ wären die „Herrn Fabrikanten“ „in offne Revolte“ ausgebrochen gegen das am 1. Mai 1848 in Kraft getretene Gesetz der Arbeitsbegrenzung auf zehn Stunden.[55] Die Bourgeoisie verwende auf verschiedene Weise „die Staatsgewalt, um den Arbeitslohn zu ‚regulieren‘“.[56]

Der „Befehl des Kapitalisten auf dem Produktionsfeld“ werde „so unentbehrlich wie der Befehl des Generals auf dem Schlachtfeld“. Die „Macht asiatischer und ägyptischer Könige“ sei „in der modernen Gesellschaft auf den Kapitalisten übergegangen“. Er habe „die unbedingte Autorität […] über Menschen, die bloße Glieder eines ihnen gehörigen Gesamtmechanismus bilden“.[57] Der „aus vielen individuellen Teilarbeitern zusammengesetzte gesellschaftliche Produktionsmechanismus gehört dem Kapitalisten“, welcher „unbezahlte Arbeit unmittelbar aus den Arbeitern“ herauspumpe und „in Waren fixiert“. Ihm gelinge sowohl „der Verkauf der produzierten Ware“ als auch „die Rückverwandlung des aus ihr gelösten Geldes in Kapital,“ womit er sich „Verwertungs- und Genußmittel“ verschaffe.[58] Die Lohnarbeiter wiederum befänden sich in „hilflose[r] Abhängigkeit vom Fabrikganzen, also vom Kapitalisten“, stünden „unter dem Kommando“ des Fabrikanten, gehörten ihm.[59]

Wiederholt verwischen sich in der Darstellung von Marx die Grenzen zwischen Kapitalwesen und Kapitalisten. So sei die „Rate des Mehrwerts […] der exakte Ausdruck für den Exploitationsgrad der Arbeitskraft durch das Kapital oder des Arbeiters durch den Kapitalisten.“ „Der Kapitalist“ tue „im einzelnen, was das Kapital bei der Produktion des relativen Mehrwerts im großen und ganzen tut.“ Zweck und Motiv „des kapitalistischen Produktionsprozesses“ sei „möglichst große Selbstverwertung des Kapitals, […] also möglichst große Ausbeutung der Arbeitskraft durch den Kapitalisten“.[60] „Nach mir die Sintflut!“ sei

„der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation. Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird. Der Klage über physische und geistige Verkümmrung, vorzeitigen Tod, Tortur der Überarbeit, antwortet es: Sollte diese Qual uns quälen, da sie unsre Lust (den Profit) vermehrt? Im großen und ganzen hängt dies aber auch nicht vom guten oder bösen Willen des einzelnen Kapitalisten ab. Die freie Konkurrenz macht die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion dem einzelnen Kapitalisten gegenüber als äußerliches Zwangsgesetz geltend“.[61]

Was den Kapitalisten noch vom Kapitalwesen unterscheidet, ist zum Beispiel, dass nur Letzteres „aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ zur Welt kommt, ein „beseeltes Ungeheuer“ ist, welches Geld „hecke“ und den Proletariern die Arbeitskraft „aussauge“: Zuschreibungen, die an Märchen wie das vom hinterlistigen, goldspinnenden Rumpelstilzchen, an Horrorstorys wie die von Frankensteins Monster[62] oder an Vampirgeschichten erinnern und das Kapitalwesen als übermenschlich stark und unmenschlich böse erscheinen lassen.

Was genau sich Marx dabei gedacht haben mag, eine nahezu identische Geschichte zweimal, mit verschiedenen Protagonisten und differierenden Haltungen zu erzählen, einmal als Dokumentation und einmal als Mythos, darüber lässt sich nur spekulieren. Klar ist jedoch, welche Konsequenzen er dadurch vermeiden konnte.

Marx war angetreten, mittels des Kapital-Buches zu beweisen, dass es sich bei der Entwicklung von Gesellschaftsformationen um einen „naturgeschichtlichen Prozess“ handle, dem Menschen sich zu beugen habe. Da dies so sei, könne der Einzelne nicht verantwortlich gemacht werden für die sozialen Verhältnisse:[63] Wer für sein Tun keine Wahl hat, kann ja nicht schuldig werden.

Hätte er im Weiteren die Kapitalisten stattdessen als schuldhaft, damit eigenverantwortlich Handelnde enttarnt, die also doch über Alternativen verfügten, wäre seine – für ihn und die Bedeutung seiner Lehre fundamentale – These von der unvermeidlich ablaufenden sozialökonomischen Menschheitsentwicklung geplatzt. Das ersparte er sich durch die Erfindung eines übergeordneten Kapitalmonsters, eines Sündenbocks, auf welchen er Vergehen, Verbrechen, psychische Störungen und destruktive Motivationen von Fabrikanten projizierte.

Dieses Monster fungierte zugleich als „deus ex machina“: ein göttliches Wesen, wie es antike Dramatiker aus dem Hut zauberten, damit es objektiv unlösbare Konflikte vor den staunenden Augen des Publikums einer Scheinlösung zuführte. Thomas Steinfeld merkt an: Bei Marx dienen Metaphern oftmals „als Zauberstab, um das nicht recht ineinander Passende zusammenzufügen“.[64]

Da es für die Argumentation von Marx so wichtig war, individuelle Spielräume und Motive zu negieren, wäre es auch keinesfalls in seinem Sinne, in den zitierten Formulierungen „Kapital“ durch „Kapitalist“ zu ersetzen. Das heißt ebenfalls: Wenn wir seine Sichtweise übernehmen, gibt es keinen „eigentlichen Ausdruck“ für welchen das metaphorische Kapitalwesen steht; dieses poetische Bild hängt bei ihm in der Luft, ist blanke Phantasie – und somit für einen Text mit wissenschaftlichem Anspruch schlicht untauglich.

Mit dem Etikett „Kapital“ beklebte Marx ein Sammelsurium, das gar nicht auf einen Nenner zu bringen war, verschmolz Dinge, Menschen, Prozesse, Verhältnisse, Beziehungen, Berech-nungen, Reales und Irreales zu einer nur suggerierten Einheit. Er konnte daher „Kapital“ nie definieren.

Die Verfahrensweise, durch Personifizierung von Dingen offene Fragen ebenso auszublenden wie die eigentlichen, menschlichen Akteure, wendete Marx mehrfach an. „Das Kapital“ mischte weiter kräftig mit.

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Weiterlesen in Teil 6: Teil 6: Fremde Wesen, seelische Zustände und „soziale Naturgesetze“

Quellenverzeichnis

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Anmerkungen

[1] Vgl. Lotter/ Meiners/ Treptow 2016, S. 170–178. Dass sich in einem jahrzehntelangen Forschungsprozess, wie er den drei Kapital-Bänden zugrunde liegt, Thesen verändern können, ist nachvollziehbar. Aber bei seriöser Herangehensweise müssten die als nicht mehr zutreffend angesehenen früheren Thesen erkennbar revidiert werden. Ich habe nicht entdeckt, wo dies bezüglich der Kapital-Beschreibungen bei Marx der Fall sein sollte. Daher halte ich es für akzeptabel, mich hier und an anderen Stellen auf alle drei Bände zu berufen und manchmal auf weitere Schriften, die mir damit im Einklang zu stehen scheinen. Erschwert wird das, weil Marx ohnehin ihm wichtige Begriffe oftmals nicht definiert, noch nicht einmal in klare Hierarchien oder Bezüge zueinander bringt. Das dürfte – zusätzlich zu den vielen in sich widersprüchlichen Aussagen von Marx –

einer der Gründe dafür sein, dass seine Text oftmals bibelartig ausgelegt werden.

[2] Marx 2021, S. 165.

[3] Ebd., S. 161.

[4] Ebd., S. 169.

[5] Marx 1983a, S. 822f.

[6] Siehe auch die Marx-Zitatsammlung bei Lotter/ Meiners/ Treptow 2016, S. 290–297.

[7] Marx 2021, S. 324.

[8] Ebd., S. 462.

[9] Ebd., S. 323.

[10] Ebd., S. 428.

[11] Siehe auch Sachregister, ebd., S. 937.

[12] „Welthandel und Weltmarkt eröffnen im 16. Jahrhundert die moderne Lebensgeschichte des Kapitals“ (ebd., S. 161).

[13] Ebd., S. 788.

[14] Ebd., S. 247.

[15] Ebd., S. 279.

[16] Ebd., S. 209. „Als hätt‘ es Lieb‘ im Leibe“ ist ein Zitat aus Goethes „Faust“, Teil 1.

[17] Ebd.

[18] Marx 1983a, S. 205.

[19] Marx 2021, S. 668. Exploitation = Ausbeutung.

[20] Ebd., S. 247.

[21] Ebd., S. 321.

[22] Marx 1983a, S. 357.

[23] Marx 2021, S. 295, 520.

[24] Ebd., S. 627.

[25] Ebd., S. 247.

[26] Ebd., S. 293.

[27] Ebd., S. 275, 280, 304, 296, 447, 582, 300, 303, 294.

[28] Marx 1983a, S. 269.

[29] Marx 2021, S. 432.

[30] Ebd., S. 328.

[31] Ebd., S. 328, 350.

[32] Ebd., S. 331f., 342, 430, 328.

[33] Ebd., S. 285.

[34] Ebd., S. 304.

[35] Ebd.

[36] Ebd., S. 788, Fn 250. Autor: T. J. Dunning. Encouragieren: ermutigen. Das Zitat belegt: Marx war mit seiner Kapital-Personifizierung nicht allein.

[37] Neffe 2017, S. 387, 410. Steinfeld (2017, S. 118–121) verweist darauf, dass Marx das Kapital mehrfach als Vampir zeichnet. Vielleicht knüpfte Marx mit diesen Stilmitteln auch an die dichterischen Ambitionen seiner Jugendzeit (Heinrich 2018, S. 198–209) an.

[38] Hans Hiebel (2019), der den im Kapital verwendeten „Metaphern des Karl Marx“ ein eigenes Buch gewidmet hat, weist darauf hin, dass sich die Zahl der Metaphern in Band 2 und 3 deutlich reduziert (ebd., S. 8f.).

[39] Mittelstraß 2004, Bd. 2, S. 867.

[40] https://de.wikipedia.org/wiki/Metapher.

[41] Hänseler 2005, S. 130.

[42] Zum Animismus: Mittelstraß 2004, Bd. 1, S. 117; https://de.wikipedia.org/wiki/Animismus_(Religion).

[43] Marx 1961, S. 408.

[44] Marx 2021, S. 793, Fn 256.

[45] 1859 hatte es zwischenzeitlich zurückhaltender geklungen: „Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft“ (Marx 1971a, S. 8f.).

[46] Dort beschrieben sie die Klasse, welche den Kapitalismus maßgeblich gestaltete, so: „Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt […], hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört […,] die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. […] Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut […], und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur. Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation“ (Marx/ Engels 1972b, S. 464, 466).

[47] Marx 2021, S. 168 (Fn 9), 418, 192.

[48] Ebd., S. 199.

[49] Ebd., S. 616.

[50] Ebd., S. 200.

[51] Ebd.

[52] Ebd., S. 201.

[53] Ebd., S. 251.

[54] Ebd., S. 286, Fn 114.

[55] Ebd., S. 302.

[56] Ebd., S. 766.

[57] Ebd., S. 350, 353, 377.

[58] Ebd., S. 381, 589, 590, 595.

[59] Ebd., S. 445, 348, 596.

[60] Ebd., S. 232, 337, 350.

[61] Ebd., S. 285f.

[62] Mary Shellys Erzählung Frankenstein oder der moderne Prometheus, in der – wie bei Marx‘ „Kapital“ – die Grenzen von Totem und Lebendigem verwischt werden, war 1818 erschienen. Zum Horror-Genre passt auch die Vorstellung von Marx (2021, S. 425), der Kapitalist sei ein vom Kapital gesteuerter „Automat“. Einen menschenähnlichen, durch einen Bösewicht gesteuerten Automaten hatte beispielsweise 1816 E.T.A. Hoffmann für seine Erzählung Der Sandmann kreiert.

[63] Marx 2021, S. 16.

[64] Steinfeld 2017, S. 126.