Menschen als Marionetten? Teil 10: Alternative Gedankenwege – eine Diskussionsanregung

von Andreas Peglau

Was sich ergeben hätte, wenn Marx und Engels um 1844 ihre Weichen anders gestellt, wenn sie die Psyche auf angemessene Weise einbezogen hätten, lässt sich nicht rekonstruieren. Aber ich will wenigstens bei einigen ihrer Annahmen durchspielen, was passiert, wenn ich diese mit dem konfrontiere, was mir heute als ausreichend gesichertes Wissen erscheint.
Wie anfangs mitgeteilt, gehe ich davon aus, dass wir mit dem Potential auf die Welt kommen, soziale, liebenswerte, liebesfähige und liebesbedürftige, kontaktfreudige, wissbegierige, kreative Wesen zu sein. Das ist kein Wunschdenken von mir, sondern inzwischen vielfach wissenschaftlich belegt.[1]
Vielleicht nehmen andere meine Fäden auf und spinnen sie weiter, in ihrer Weise, individuell und selbstbewusst, im Sinne von Max Stirner und nach Kants Motto: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Eine andere Antwort auf die „Grundfrage der Philosophie“[2]

1859, im Vorwort seiner Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie, grenzte sich Marx so von der idealistischen Philosophie ab: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“[3] Engels hat das später als Antwort auf die „Grundfrage der Philosophie“ bewertet.[4] Diese Antwort, oft reduziert auf „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“,[5] fand weite Verbreitung.

Mit „Bewusstsein“ war bei Marx offensichtlich auch hier die gesamte psychische Aktivität gemeint. Davon ausdrücklich das Unbewusste abzugrenzen und ihm zum Teil eigene Gesetzmäßigkeiten zuzubilligen, blieb Sigmund Freud vorbehalten, der erst um 1900 mit seiner Psychoanalyse an die Öffentlichkeit trat. Dass es einen unbewussten Bereich im Seelenleben gibt, akzeptierten allerdings auch Marx und Engels. Bereits vor 1859 benutzten sie die Vokabel „unbewusst“ mehrfach.[6]

Insofern wäre der Satz von Marx zumindest aus heutiger Sicht so zu komplettieren: „Es ist nicht das Bewusstsein und das Unbewusste der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein und ihr Unbewusstes bestimmt.“

Freud sollte dann herausarbeiten, dass das Unbewusste nicht zuletzt aus Fehlwahrnehmungen und -verarbeitungen („Neurosen“) besteht, daher „irrationale“ Denk- und Handlungsweisen verursacht. Dass Menschen sich oft irrational verhalten, war schon zuvor Allgemeinwissen. Marx und Engels haben es dennoch nicht einbezogen, bei ihnen erscheint alles „logisch“, rational.

Fasse ich Bewusstsein und Unbewusstes, inklusive Neurosen beziehungsweise Irrationalem, als „Psyche“ zusammen, lautet der Satz: „Es ist nicht die Psyche der Menschen, die ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das die Psyche bestimmt.“[7]  

Das negiert allerdings jene Wechselwirkungen, die Marx und Engels gelegentlich erwähnten. Beziehe ich sie ein, verändert sich der Satz weiter: „Die Psyche der Menschen wird weitaus mehr durch ihr gesellschaftliches Sein bestimmt als das gesellschaftliche Sein durch die Psyche.“

Dieser Gewichtung könnte ich jedoch nicht beipflichten. Unseren begrenzten Erkenntnissen entspricht stattdessen die Formulierung: „Die Psyche der Menschen steht in ständiger Wechselwirkung mit dem gesellschaftlichen Sein.“ Was hierbei Priorität hat, ist nicht entscheidbar: Woran ließe es sich festmachen, wie könnte die notwendige „Messung“ objektiviert werden? Ob vor hunderttausenden von Jahren zuerst menschliches „Bewusstsein“ existierte oder „gesellschaftliches Sein“, ist erst recht nicht zu klären: eine Huhn-oder-Ei-Frage, die sich im Dunkel der Vorgeschichte verliert.

Hat die vorgenommene Umformulierung einen praktischen Wert?

Ja. Wer glaubt, gesellschaftliches Sein bestimme die seelischen Vorgänge in den einzelnen Individuen, muss sich auf die Veränderung der Gesellschaft konzentrieren; die Psyche käme doch angeblich hinterher. So wurde es im „realen Sozialismus“ gehandhabt – mit bekanntem (Miss)Erfolg: 1990 war das „Bewusstsein“ der meisten DDR-Bürger und -Bürgerinnen noch immer gut anschlussfähig an die kapitalistische BRD.

Wer von wechselseitig abhängigen Komponenten ausgeht, kommt zu anderen Schlüssen.

Erich Fromm schrieb 1976 in seinem Buch Haben oder Sein:

„Das Ergebnis der Interaktion zwischen individueller psychischer Struktur und sozio-ökonomischer Struktur bezeichne ich als Gesellschafts-Charakter. Die sozio-ökonomische Struktur einer Gesellschaft formt den Gesellschafts-Charakter ihrer Mitglieder dergestalt, dass sie tun wollen, was sie tun sollen. Gleichzeitig beeinflusst der Gesellschafts-Charakter die sozio-ökonomische Struktur der Gesellschaft […].“[8]

Bereits 1934 hielt Wilhelm Reich in der Massenpsychologie des Faschismus fest:

„Versucht man die [psychische] Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann.“[9]

Solche Betrachtungsweisen sind nicht nur deutlich realitätsnäher, sie bieten auch erfolgversprechendere Ansätze für das Gestalten und „Umwälzen“ sozialer Verhältnisse.

 

Eine andere Sicht auf Menschheitsentwicklung

Ökonomie entwickelt „sich“ nicht – sie wird entwickelt: von Menschen. Menschen haben dafür Motive. Einen objektiven Zwang zu ökonomischer Entwicklung gibt es nicht. Woher sollte der kommen, welche außermenschliche Macht sollte ihn ausüben? Wenn es ihn gäbe, wie wäre zu erklären, dass manche Jäger- und Sammlerordnungen über Jahrtausende bestanden oder noch immer bestehen?[10]
Da Menschen üblicherweise psychisch gesund und damit prosozial auf die Welt kommen, würden sie – wenn sie so gesund blieben – eine ihnen gemäße, also ebenfalls gesunde Gesellschaft gestalten. Die Annahme von Marx und Engels, unterdrückende Gesellschaftsordnungen mussten entstehen, auch Kapitalismus sei eine (Natur-)Notwendigkeit gewesen, ist damit nicht zu vereinbaren: Psychisch gesunde Menschen würden kein kapitalistisches System errichten, zu keinem Zeitpunkt. Warum sollten sie sich selbst schaden?
Irgendwann in der Menschheitsentwicklung entstanden anscheinend Verhältnisse, die Wenigen die Möglichkeit eröffneten, Macht über Viele zu erlangen. Aber dass die Wenigen diese Chance tatsächlich nutzten und die Mehrheit das nicht verhinderte, deutet auf bereits massenhaft vorhandene autoritäre Störungen hin.
Wie diese Störungen ursprünglich zustande kamen, bleibt ein Rätsel. Nachdenkenswert ist die Idee, dass es sich um Auswirkungen katastrophaler Naturereignisse handelte, die anhaltende Not, Hunger, ohnmächtiges Ausgeliefertsein, Verzweiflung, sich aufstauende Wut, Blockaden sowohl von Empathie als auch von Liebesfähigkeit erzeugten. Im Kampf um die geringen Ressourcen könnte sich eine hierarchische Ordnung gebildet haben.[11] Waren die damit verbundenen autoritär-destruktiven psychischen, dann auch sozialen Strukturen erst einmal vorhanden, ließen sie sich per Erziehung späteren Generationen und durch Kriege anderen Völkern aufzwingen.[12] Für diejenigen, die nun an der Spitze jener Hierarchien standen, wur-de offenbar Erhalt und Ausbau von Macht und Besitz zur entscheidenden Triebkraft. Doch das sind ebenfalls neurotische Beweggründe, die sich nicht selbst erklären.
Sollte es tatsächlich so stattgefunden haben, wäre es ein Beispiel dafür, wie das Sein menschliche Psyche formen kann. Das Sein wäre in diesem Fall allerdings kein gesellschaftliches oder ökonomisches, sondern ein ökologisches. Und es hätte zunächst die Individuen verändert, die daraufhin allmählich eine neuartige Gesellschaftskonstellation herstellten – welche wiederum auf die Individuen zurückwirkte.
Erwiesen ist: Hierarchische Konstellationen entstanden weder überall, schon gar nicht zeitgleich, noch wurden sie überall beibehalten. In ihrem Buch Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit[13] geben David Graeber und David Wengrow eine detailreiche Darstellung unterschiedlicher Sozialsysteme der letzten Jahrtausende. Was sie an (Be)Funden aus Anthropologie, Archäologie und Geschichtswissenschaft dokumentieren, lässt sich nicht mit dem von Marx und Engels angenommenen wirtschaftlichen Voranschreiten der Menschheit in Einklang bringen. Schon gar nicht passt es in die unter Stalin kanonisierte Stufenfolge Urgesellschaft – Sklavenhaltergesellschaft – Feudalismus – Kapitalismus – Sozialismus.[14]

Der Philosoph Eike Gebhardt fasst den Ansatz von Anfänge so zusammen: Die Autoren wollten

„das gesamte Narrativ sozialer Evolution aufbrechen: Sie halten den angeblich universellen Umschwung um ca. 9.000 v. Chr. vom primitiven Wildbeutertum zur landwirt-schaftlichen Zivilisation samt entsprechendem plötzlichen Primat des Privatbesitzes und der damit notwendig gewordenen Verwaltung und sozialen Hierarchie, für alles andere als natürlich, geschweige denn unvermeidlich.[15] […]

Graeber und Wengrow bieten dabei keine alternative Entwicklungslogik an, im Gegenteil: Eine solche einheitliche Stufen- oder gar Fortschrittslogik habe es nirgendwo gegeben. Immer schon und überall hätten Menschen mit allen möglichen Subsistenzformen experimentiert, mehr noch: deren Vor- und Nachteile bewusst verglichen und gewichtet und nicht selten mehrere Formen – Viehzucht, Jagd, Anbau, Handel – gleichzeitig praktiziert, das eine oder andere manchmal jahrhundertelang fallen gelassen und später wieder aufgegriffen.“[16]

David Wengrow und der 2020 verstorbene David Graeber fühlten sich anarchistischen Gedankengängen verpflichtet. Wohl auch deswegen versuchten sie, diese Vielfalt damit zu erklären, dass Menschen sich nun einmal nicht festlegen wollen, sondern wie aus einem Spieltrieb heraus immer gern verschiedene Modelle ausprobieren.[17]
Das halte ich für abwegig. Es hieße, Angehörige einer Gesellschaft könnten sich zusammensetzen und zum Beispiel beschließen: „Jetzt haben wir lange genug gut gelebt, machen wir doch nächstes Jahr mal Faschismus – den hatten wir ja noch nicht.“ Auch bei Graeber und Wengrow wirkt sich das Fehlen eines ausgearbeiteten Menschenbildes aus. Sie können weder die Entstehung unterdrückender, lebensfeindlicher Sozialstrukturen erklären noch deren zumindest zeitweise und regionale Überwindung.

 

Eine andere Idee von Revolution

Unser angeborenes prosoziales Potential drängt nach Entfaltung. Das bedeutet: Wir leiden, wenn es sich nicht entfalten kann. Wir spüren nicht nur, was wir brauchen, was uns guttut, sondern auch, was uns Schmerzen oder Ängste bereitet, was uns schadet. Unterdrückung schadet immer.

Es ist also nur dann nötig, Erwachsene zu Revolutionären zu „machen“, wenn ihnen in der Kindheit ihr gesunder innerer Maßstab verleidet wurde. Anders herum: Kindern zu helfen, mit diesem Maßstab weiterhin im Kontakt zu bleiben, bewahrt ihnen die entscheidende Voraussetzung, um später unter einem entfremdenden System wie dem kapitalistischen[18] bewusst zu leiden und sich für eine menschenwürdigere Ordnung zu engagieren.

Reich hat die in uns angelegte Fähigkeit zu angemessenem Fühlen und dementsprechenden

Handeln als „biologischen Kern“ bezeichnet.[19] Da dieser Kern zwar durch Erziehung und „Sozialisation“ verschüttet jedoch nie zerstört werden kann, lässt er sich lebenslang wieder freilegen, je jünger wir sind, desto leichter. Aus diesem Grunde konnte Alexander Neill, schottischer Pädagoge und enger Freund von Reich, über Kinder sagen: „Freiheit heilt die meisten Übel.“[20] Erwachsene benötigen dafür mehr Zeit und Hilfe – die sie sich insbesondere in einer Probleme aufdeckenden, Lebensgeschichte, Bewusstsein, Unbewusstes, Gefühl und Körper einbeziehenden Therapie verschaffen können. Die eigenen Neurosen als Fakt anzuerkennen, aufzuarbeiten, zu lindern oder zu heilen, ist revolutionär und macht uns wieder revolutionär: fähiger zu konstruktiven Umwälzungen, privat wie gesellschaftlich. Und es schafft bessere Voraussetzungen, um Kinder liebevoll, nicht-autoritär ins Leben zu begleiten.

Aber auch aktiv nach guten und gleichberechtigten Partnerschaften und erfüllter Sexualität zu streben, privat und öffentlich lebensfeindliche, kriegsverherrlichende Normen in Schule, Beruf, Medien, Kirche, Politik und Staat anzuprangern und nach Gleichgesinnten zu suchen, mit denen sich dagegen Widerstand leisten lässt – all das sind Mittel, menschenwürdige Zustände zu fördern.
Würden Erwachsene an ihren Störungen arbeiten und Kinder davor schützen, diese Störungen überhaupt erst zu bekommen, dürften sich spätestens in der nächsten Generation wesentliche positive Veränderungen zeigen: Gesündere Menschen bauen eine gesündere Gesellschaft auf. Zur notwendigen ökonomischen „Umwälzung“ muss eine psychosoziale Revolution hinzukommen.[21] Damit kann, im Gegensatz zur ökonomischen Umwälzung, jeder und jede schon heute Abend anfangen: bei sich selbst.
Obwohl das kapitalistische Gesellschaftssystem dem Grenzen setzt, ist innerhalb dieser Grenzen vieles möglich – und die Grenzen sind verschiebbar. Das hat auch die Entwicklung der BRD bewiesen. Im westdeutschen Staat der 1970er und 1980er Jahre waren im Vergleich zum heutigen Zustand demokratische Züge noch nicht so massiv unterdrückt, waren lebensbejahende Elemente stärker ausgeprägt, was sich neben einer wirkungsvollen Friedensbewegung auch an der Popularität von Psychoanalyse, Psychotherapie, gewaltfreier Geburt und nichtautoritärer Pädagogik zeigte.[22] Ich meine: Der damalige BRD-Kapitalismus war menschenwürdiger als der „reale Sozialismus“ unter Stalin oder Mao Tse Tung. Das unterstreicht erneut, dass die Abschaffung kapitalistischer Produktionsverhältnisse noch nicht die Lösung ist.
Marx und Engels erläuterten 1845: „Der Communismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [sic]. Wir nennen Communismus die wirkliche Bewegung welche den jetzigen Zustand aufhebt.“[23] Da der „jetzige Zustand“ zu keinem Zeitpunkt ein rein ökonomischer war oder ist, sondern immer diverse Aspekte hatte und hat, kann und muss er auf diverse Weise „aufgehoben“ werden. Nicht zuletzt durch sinnvolle Veränderungen auf psychosozialem Gebiet.
Gelingen solche Veränderungen, erhöht sich zugleich die Chance auf einen friedlichen Übergang zu einer menschenwürdigen Ordnung. „Je grösser die Massenbasis der revolutionären Bewegung, desto geringere Gewaltanwendung ist notwendig, desto mehr schwindet auch die Angst der Masse vor der Revolution“, schrieb Reich 1934.[24] Wenn nicht nur den meisten Angehörigen der unterdrückten Bevölkerung – über Arbeiter und Arbeiterinnen hinaus – klar wird, dass dringende Veränderungen anstehen, sondern selbst Führern und Angehörigen des Machtapparates langsam dämmert, dass es so nicht weitergehen kann, steigt die Hoffnung auf unblutige „Umwälzungen“.
Objektiv betrachtet, leben ja nicht nur die Unterdrückten unter menschenunwürdigen Umständen, sondern auch die Unterdrücker: Menschen auszubeuten, zu verdummen, für massenhaftes Elend, rapide Umweltzerstörung und Kriege, für hunderttausende Tode verantwortlich zu sein, ist alles andere als anstrebenswert, läuft auf ein völlig verfehltes Leben hinaus, unabhängig davon, ob sich die Täter das bewusstmachen oder nicht. Wer möchte mit ihnen tauschen?
Aber sie können ihr Tun nur bewerkstelligen, weil sie von ihren Untertanen hinreichend unterstützt werden – und sei es nur durch das Zahlen von Steuern, mit denen zum Beispiel Waffenexporte finanziert werden. Die staatlichen Strukturen und die anerzogenen autoritären Anteile machen uns, bewusst oder unbewusst, zu Komplizen der Machthaber, zu Mitschuldigen.[25]
Es ist daher im Interesse von uns allen, menschenwürdige Verhältnisse herzustellen.

 

Eine andere Zielvorstellung

Marx und Engels haben eine unverzichtbare Analyse kapitalistischen Wirtschaftens und damit verbundener Faktoren erarbeitet, die zum Teil noch immer Gültigkeit besitzt. Von ihnen lässt sich vieles darüber erfahren, was überwunden, abgeschafft werden muss – jedoch wenig dazu, was anstelle davon entstehen sollte.[26]
Im Mai 1893 wurde Engels von einem Journalisten der Zeitung Le Figaro gefragt: „Und was ist Ihr, der deutschen Sozialisten, Endziel?“ Engels habe ihn einige Augenblicke angeschaut, dann geantwortet:

„Aber wir haben kein Endziel. Wir […] haben nicht die Absicht, der Menschheit endgültige Gesetze zu diktieren. Vorgefaßte Meinungen in bezug auf die Organisation der zukünftigen Gesellschaft im einzelnen? Davon werden Sie bei uns keine Spur finden. Wir sind schon zufrieden, wenn wir die Produktionsmittel in die Hände der ganzen Gesellschaft gebracht haben […].“[27]

Doch war die „ganze Gesellschaft“ reif dafür, mit dem nach Engels‘ Ansicht entscheidenden Macht- und Gestaltungsmittel angemessen umzugehen? Mitnichten – und das mussten nicht erst die sozialen Katastrophen des 20. Jahrhunderts beweisen.

Engels selbst hatte, angefangen bei seiner Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England, aufgezeigt, wie unmenschlich große Schichten der Bevölkerung lebten. Glaubte er ernsthaft, dieses meist lebenslang anhaltende Leid, all die Unterdrückung und Verdummung würden Menschen nicht nachhaltig beeinflussen? Sollten die, die jahrzehntelang durch ihr „materielles Sein“ deformiert wurden, in deren Bewusstsein „die Ideen der herrschenden Klassen“ verinnerlicht waren, durch den Besitz an Produktionsmitteln erleuchtet werden, autoritäre Charakterstrukturen abstreifen, plötzlich eigenverantwortlich und selbstbewusst handeln können?

Wahrscheinlich glaubte er das. Ähnlich wie nach 1945 führende Funktionäre im „realen Sozialismus“ der DDR meinten, durch Enteignung der Kapitalisten, „Entnazifizierung“ und „antifaschistisch-demokratische Neuordnung“ würden die „Volksmassen“ hinreichend revolutionär. Aber die über Generationen hinweg erzeugten, in den psychischen Strukturen tief verankerten, im Faschismus verschärften, patriarchal-autoritären, lebensfeindlichen Normen und Werte machten ihnen einen Strich durch ihre oberflächlich-naive Rechnung.

Auf den neu entstehenden Machtpositionen hielten sich bevorzugt mehr oder weniger dogmatische, in der Sowjetunion unter Stalin auch menschenverachtende, lebensfeindliche Funktionäre und Bürokraten. Und das jeweilige Volk, obrigkeitsfürchtig, wie es erzogen worden war, war zum großen Teil froh, weiterhin regiert zu werden.
Analog geschah es dann 1990 in der DDR. Die „führende Rolle der Partei“ wurde durch die führende Rolle von Konzernchefs ersetzt statt durch einen besseren Sozialismus. Rolle rückwärts in den Kapitalismus, doch gottseidank: Die Unterordnung war gerettet!

Für einen im umfassenden Sinne besseren Sozialismus lagen freilich auch gar keine Konzepte vor. Diese wären ja nur auf der Basis angemessener Marx-Kritik zu erstellen gewesen und hätten psychosozialen Faktoren gebührende Anerkennung zollen müssen.

Aber im „realen Sozialismus“ war nahezu völlig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden, dass – auch für den jungen Marx – die notwendigen wirtschaftlichen Veränderungen nur ein Mittel zum Zweck waren, nämlich zum Zweck des Aufbaus einer Ordnung, in der Menschen nicht mehr erniedrigt, geknechtet, isoliert und verachtet werden, sondern ihre individuellen Fähigkeiten und gesunden Bedürfnisse entfalten können. Dieses Mittel geriet immer mehr in den Mittelpunkt, letztlich fast zum Selbstzweck.

Marx und Engels hatten in der Deutschen Ideologie vermerkt: „Zum Leben […] gehört vor Allem Essen & Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere.“[28] Dass sie mit dem Anderen etwas Psychisches meinten, ist aufgrund des Kontextes höchst unwahrscheinlich. Das, was sie aufzählten, gab es 1989 in der DDR ausreichend und – im Gegensatz zur BRD – zu Preisen, die alle bezahlen konnten. Doch wie sich bald darauf herausstellte: Meist erfüllte Wirtschaftspläne hatten beim Gros der Bevölkerung kein als erfüllt empfundenes Dasein bewirkt. Das Ende privater Aneignung von Mehrwert hatte für die Mehrheit keine als unverzichtbar empfundene soziale Ordnung entstehen lassen.

Trotzdem wird noch heute von vielen, die sich Marxisten nennen, als entscheidendes Kriterium zur Beurteilung eines Staates nicht etwa herangezogen, wie es dessen Bevölkerung geht, wie zufrieden sie berechtigterweise mit ihrem Dasein ist, sondern inwieweit dort die Produktionsmittel in der Hand von Kapitalisten („des Kapitals“) sind.
Geht man diesen Gedanken konsequent zu Ende, kann oder „darf“ es sich im heutigen China natürlich nicht um Sozialismus handeln – obwohl sich dort in den letzten Jahrzehnten Lebenserwartung, Lebensstandard, Gleichberechtigung der Geschlechter, Rechtssicherheit, Gesundheitsversorgung, ökologische Verhältnisse und persönliche Zufriedenheit dramatisch verbessert haben und die Zustimmung zu Staat und Regierung Werte angenommen hat, von denen heutige „westliche“ Führerinnen und Führer nur träumen können.[29]

Umgekehrt müsste man dann sagen, dass selbst in den Zeiten des schlimmsten stalinistischen Massenmordes in der Sowjetunion Sozialismus herrschte. Ich halte das für einen perversen Gedanken. Sozialistisch und menschenwürdig wären bei dieser Betrachtung jedenfalls inhaltlich völlig unterschiedliche Begriffe.
Ökonomiefixierung be- oder verhindert auch, sich in der gegenwärtigen weltpolitischen Konfrontation zu orientieren. Wer auf die bloßen Produktionsverhältnisse starrt, muss sich sagen (oder kann sich bequemerweise sagen): „Auf allen Seiten agieren ja kapitalistische Staaten, da gibt es keinen Akteur, der besser oder schlechter ist, ich bleibe neutraler ‚linker‘ Beobachter, bewahre souveräne ‚Äquidistanz‘.“ Wer sich davon löst, findet Kriterien, um sich hier zu positionieren.

Wenn es also im Kern nicht um Produktionsverhältnisse geht, sondern darum, Menschen ein gutes, erfülltes, sinnvolles, idealerweise auch oftmals glückliches Leben zu ermöglichen, kann Ökonomie nur eine Hilfswissenschaft sein für den Weg dorthin. Und eine „Auffassung des Weltgeschichtsverlaufs“, welche die Ursache „aller wichtigen geschichtlichen Ereignisse […] in der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft“ sieht,[30] kann dazu nur ein bedenkenswerter aber schon wegen ihrer Einseitigkeit kritikbedürftiger Beitrag unter anderen sein.

Sich einer menschenwürdigen Ordnung anzunähern, ist auf verschiedene Weise möglich und nötig. Wirtschaftliche Umwälzungen gehören zwingend dazu. Durch rein wirtschaftliche Ver-änderungen ist dieses Ziel jedoch nicht zu erreichen. Schon gar nicht lässt es sich wirtschaftlich definieren.
Für diese Definition brauchen wir Antworten auf Fragen, die in erster Linie psychologischer Natur sind: Was ist „gutes“ Leben, was macht einen glücklichen Menschen aus, was benötigen wir, um tatsächlich zufrieden zu sein, was genau ist „menschenwürdig“?

Nur in dem Maße, wie wir uns ein reales, umfassendes, ganzheitliches Menschenbild erarbeiten – das psychosoziale Zusammenhänge ebenso berücksichtigt wie biologische Gegebenheiten und ökologische Abhängigkeiten –, können wir tatsächlich beurteilen, wie eine Sozialordnung beschaffen sein müsste, die uns gemäß ist.

Je klarer wir ein solches Ziel vor Augen haben, desto leichter wird es uns fallen, wieder loszulaufen.

***

Danksagung

Gudrun Peters war wie so oft die Erstleserin und -kritikerin des Textes. Jan Petzold gestaltete einmal mehr den Buchumschlag. Werner Abel, Wolfgang Brauer, John Erpenbeck, Michael Heinrich, Lutz Kerschowski, Kristina Peters, Jan Petzold, Brigitte Röder, Hans Scherner, Wolfgang Stern und Hannes Stubbe haben Passagen oder frühere Fassungen gelesen, mir mit Informationen, Austausch und Kontroversen weitergeholfen. Ihnen allen: herzlichen Dank! Für das vorliegende Resultat inklusive vermutlich vorhandener Fehler bin ich allein verantwortlich. Über Hinweise auf solche Fehler und konstruktive Kritik würde ich mich freuen.

 

Quellenverzeichnis.

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Anmerkungen

[1] Siehe z.B. Hüther 2003; Solms/ Turnbull 2004, S. 138ff., 148; Tomasello 2010; Klein 2011; Bauer 2011; Bregman 2020.

[2] Weiterentwickelt aus Peglau 2024a.

[3] Marx 1971a, S. 9.

[4] „Die große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein“ (Engels 1975a, S. 274). Auch hier fällt die begriffliche Unklarheit auf: „Denken“ – Engels schreibt kurz darauf „Empfinden“ – und „Bewusstsein“ werden gleichgesetzt.

[5] Unter dieses Motto stellte z.B. Otto Finger (1977) ein Kapitel seines Buches Über historischen Materialismus und zeitgenössische Tendenzen seiner Verfälschung.

[6] U.a. 1844 in Die heilige Familie: „HegeIs Geschichtsauffassung setzt einen abstrakten oder absoluten Geist voraus, der sich so entwickelt, dass die Menschheit nur eine Masse ist, die ihn unbewusster oder bewusster trägt“ (Marx/ Engels 1972a,  S. 89). 1857, im Entwurf einer Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, schrieb Marx (1971b, S. 639), über eine „noch unbewusst heuchlerische Form“.

[7] 1845 hatten Marx und Engels (2017, S. 135) vermerkt: „Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein.“ Das als Maßstab genommen, ist der Satz von Marx tautologisch: „Das Sein bestimmt das Sein.“ Wenn jedoch die, eigenen Gesetzen unterliegende individuelle Psyche dem „Sein“ der Gesellschaft gegenübergestellt wird, steht auf beiden Seiten so verschiedenartiges Sein, dass sich die Abgrenzung lohnt.

[8] Fromm 1989d, S. 364.

[9] Reich 2020, S. 195. Ohne zu glauben, Marx (1969, S. 6) meine hier das Gleiche, möchte ich auf den ähnlich klingenden Satz aus den Feuerbach-Thesen hinweisen: „Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.“

[10] https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%A4ger_und_Sammler; vgl. Scott 2019; Ryan/ Jetha 2016, S. 177–244; Graeber/ Wengrow 2021, S. 473–476. Auch Marx (2021, S. 379) dachte über das „Geheimnis der Unveränderlichkeit“ von „selbstgenügsamen Gemeinwesen“ nach, kam dabei zu sich im Laufe der Jahre verändernden Schlüssen (Kuckenburg 2023, S. 41).

[11] Ähnliche Zusammenhänge meinte vielleicht auch Marx (1960b, S. 129), wenn er von der Despotie der „asiatischen Produktionsweise“ annahm, sie sei maßgeblich der Wasserknappheit geschuldet gewesen (vgl. Kuckenburg 2023, S. 21–58).

[12] Braumann/ Peglau 1991 (Vgl: https://historiablogweb.wordpress.com/2019/02/15/die-saharasia-these-oder-der-untergang-des-paradies/).

[13] Graeber/ Wengrow 2022.

[14] Kuckenburg 2022, S. 27; Geiss 1974. So strikt chronologisch abgegrenzt haben es Marx und Engels nie beschrieben. Marx (1971a, S. 9) schrieb 1859 über „asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen“. Die von ihm sehr unpräzise angewendete Zuordnung „asiatisch“ ersetzte er später „durch die Bezeichnung der ‚archaische[n] Formation‘“ (Wimmer 2019, S. 14, Fn 14) oder durch „naturwüchsigen Kommunismus“ (Weissgerber, zitiert in Kuckenburg 2023, S. 57). Stalin sollte dann untersagen, sich mit der „asiatischen“ Produktionsweise zu befassen, die auffällige Ähnlichkeiten mit dem unter ihm errichteten System aufwies (Kuckenburg 2023, S. 123f.).

[15] Ähnlich argumentiert hier Scott (2019), auf den sich Graeber und Wengrow auch berufen.

[16] Gebhardt 2022. Zu Anfänge siehe auch: Ongaro 2022; https://geschichtedergegenwart.ch/praehistorie-als-geschichte-der-gegenwart-ein-gespraech-ueber-anfaenge-von-david-graeber-und-david-wengrow-2/; https://www.perlentaucher.de/buch/david-graeber-david-wengrow/anfaenge.html.

[17] Graeber/ Wengrow 2022, S. 161f. und an vielen anderen Stellen im Buch.

[18] Auch darüber, was „Kapitalismus“ ist, besteht keine Einigung (Sandkühler 2021, S. 1192–1212). Ich verwende „Kapitalismus“ als Synonym eines Systems, in dem sich Produktionsmittel, Betriebe, Industriezweige in so hohem Maße in Privatbesitz befinden, Reichtum und politische Macht in den Händen einzelner Unternehmer so konzentrieren, dass die Gesellschaft weitgehend von ihnen beherrscht wird – woran eine bürgerliche Scheindemokratie nichts ändert (vgl. Mausfeld 2018).

[19] Vgl. Peglau 2017b, S. 48, 63, 108f.

[20] Neill 1992, S. 55. Vgl.: https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/alexander-neills-summerhill-projekt-hoerbuch-kostenlos-herunterladen-und-anhoeren/

[21] Ausführlich: Peglau 2017b, S. 53–120. Meine Überlegungen dazu knüpfen an das Konzept einer „therapeutischen Kultur“ an, das der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz 1989 in die DDR-„Wende“-Zeit einbrachte (Peglau/ Maaz 1990).

[22] Dass es in Gestalt der DDR einen Konkurrenten gab, demgegenüber man sich in diesen Fragen als überlegen darstellen wollte, spielte dabei zusätzlich eine wesentliche Rolle.

[23] Marx/ Engels 2017, S. 37.

[24] Reich 1934, S. 56. Siehe dazu auch Peglau 2024c.

[25] Ausführlich: Peglau 2017b, S. 87–115.

[26] Das zeigt, sicher wider Willen, u.a. Peter Hudis (2022). Er suchte nach Überlegungen von Marx und Engels zur „postkapitalistischen Gesellschaft“, kann jedoch nur auf einige, teils spekulative, ökonomische Detailaussagen verweisen. Unausgegoren sind auch Phantasien, die Marx und Engels in der Deutschen Ideologie dazu mitteilten. Während in der Klassengesellschaft „jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Thätigkeit“ hat, „aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker, & muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will“, könne er sich „in der kommunistischen Gesellschaft […] in jedem beliebigen Zweige ausbilden“, sich entscheiden, „heute dies, morgen jenes zu thun, Morgens zu jagen, Nachmittags zu fischen. Abends Viehzucht zu treiben nach dem Essen zu kritisiren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger Fischer Hirt oder Kritiker zu werden“ (Marx/ Engels 2017, S. 34, 37). Brodbeck (2018, S. 5) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sich kompliziertere Aufgaben als Fischen so kaum angemessen bewältigen lassen.

[27] Engels 1977c, S. 542.

[28] Marx/ Engels 2017, S. 26.

[29] Siehe Elsner 2020, 2024; Peglau 2021.

[30] Engels 1972, S. 298.