Wilhelm Reich und der Nationalsozialismus: die Geschichte der Psychoanalyse einmal anders betrachtet

Bernd Nitzschke in der Psyche zu „Unpolitische Wissenschaft?“ (Auszüge):

»›Die einzige Pflicht, die wir der Geschichte gegenüber haben, ist, sie neu zu schreiben.‹ Im
Hinblick auf das ›Schicksal‹ der Psychoanalyse in der Zeit des Nationalsozialismus ist diese – von Oscar Wilde erhobene – Forderung wiederholt erfüllt worden, allerdings mit einer Einschränkung: Die von Ernest Jones in den 1950er Jahren vorgelegte Basiserzählung wurde bei Bekanntwerden neuer Fakten später in vielen Fällen nicht grundsätzlich hinterfragt, sondern in Übereinstimmung mit vereinskonformen Überzeugungen – lediglich neu justiert.«

»Aufgrund der umfassenden Berücksichtigung der bereits vorliegenden Arbeiten zur Geschichte der Psychoanalyse unter Hitler und durch die Einbeziehung bislang unveröffentlichter Dokumente ist es Peglau gelungen, eine Alternative zu der von Jones initiierten Basiserzählung zu formulieren. Auf diese Weise ist der Fabelgrund, auf dem sie ruht, endlich deutlich zu erkennen: Wunscherfüllung im Dienste von Schuld- und Schamabwehr. Die
Verschränkung zwischen dem Schicksal der Psychoanalyse im NS-Staat und der Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Emigrantengeschichte Wilhelm Reichs, die Peglau minutiös
rekonstruiert, ist Dreh- und Angelpunkt des Buches, das einen unverzichtbaren Referenzpunkt für jeden darstellt, der sich künftig ohne Scheuklappen mit der NS-Geschichte der Psychoanalytiker beschäftigen will.«

»Im Schlusskapitel seines Buches zieht Peglau die folgende Bilanz: ›Die Integration wesentlicher Aspekte der Psychoanalyse ins Dritte Reich war nur möglich, nachdem sich die deutsche und internationale Analytikerorganisation 1933/34 des einzigen Kollegen entledigt hatte, der schon zuvor eindeutig als Kommunist und Antifaschist in Erscheinung getreten war […] und nun auch öffentlich gegen den NS-Staat auftrat und publizierte […]: Wilhelm Reich.‹

»Die Bilanz, die Jones im August 1936 beim 14. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Marienbad (Tschechoslowakei) vortrug, hörte sich sehr viel freundlicher an. Jones teilte dem Kongresspublikum damals mit, die Psychoanalyse sei im NS-Staat ›neben anderen Richtungen der Psychotherapie‹ noch immer anerkannt und habe ›hinsichtlich der wissenschaftlichen Arbeit und der Lehrtätigkeit‹ auch ihre ›Selbständigkeit‹ bewahrt.«

»›Die Welt weiß, warum in Deutschland psychoanalytische Publikationen nach 1933 aufhörten und vergleichende Darstellungen über die Entfaltung der psychoanalytischen Theorie und Technik unmöglich wurden‹ – schrieb in den 1960er Jahren Helmut Thomä (1963/64, 5. 44). Inzwischen wissen wir noch etwas mehr. Das ist den in den 1970er Jahren einsetzenden Bemühungen zu verdanken, die Quellen unvoreingenommener zu befragten. Die Recherchen Peglaus haben den Umfang dieses Wissens jetzt noch einmal erheblich erweitert.«

Das vollständige Buchessay findet sich in Psyche, 68. Jahrgang, Heft 2, Februar 2014, S. 162-175 bzw. im digitalen Klett-Cotta-Archiv der Psyche:
http://www.volltext.psyche.de/#m%3Dh%26j%3D2014%26h%3D02%26p%3D0%26link%3D