Ein ungewöhnliches Buch

Fritz Reheis rezensiert Weltall, Erde … ICH in FORUM POLITIKUNTERRICHT:

Wer sich nach dem schmerzlichen Verlust eines Menschen keine Zeit für die Trauerarbeit nimmt, den werden die psychischen Folgen dieses Verlusts so schnell nicht wieder loslassen. Nicht-verarbeitete Erlebnisse können zur Folge haben, dass ein Mensch sich zwanghaft immer wieder in jene Schmerz erzeugenden Situationen begibt, die es zu verarbeiten gilt. Die Psychologen sprechen von krankhaftem Wiederholungszwang. Das gilt für den Einzelnen wie für das Kollektiv. Der nicht-aufgearbeitete Verlust gesellschaftlicher und politischer Lebenswelten und Ideale kann dazu führen, dass im kollektiven Unterbewussten unablässig nach den am Untergang Schuldigen gesucht wird. Solche Gesellschaften können ohne Feindbild nicht leben, ihre kollektiven Ängste und Aggressionen suchen sich immer wieder neue Bahnen zur Entladung.

Bezogen auf die deutsche Geschichte: Eine Gesellschaft, die den Nationalsozialismus und sein Ende psychisch nicht wirklich verarbeitet hat, bringt schlechte Voraussetzungen für den Aufbau einer antifaschistischen Ordnung nach 1945 mit. Und wer sich nach 1989/90 die Trauerarbeit über den Untergang der DDR zu sparen versucht hat, der wird auch in der BRD nicht wirklich heimisch werden können. Das psychische Leiden der Individuen kann trotz Wechsels der Gesellschaftsordnung weiter gehen. Kollektive Pathologien sind das Resultat einer charakteristischen Faktorenkombination: starke Leistungsorientierung mit freilich unterschiedlichen Leistungskriterien und Zielen, frustrierte Grundbedürfnisse nach sozialer Anerkennung und Liebe, diffuse Ängste und – als Kompensation dazu – Aggressivität gegen alle möglichen inneren und äußeren Feinde. Faschismus, Stalinismus und „Konsumterrorismus“ entwürdigen den Menschen, indem sie ihm das Geliebtwerden um seiner selbst willen verwehren und ihn dadurch selbst liebesunfähig werden lassen.

Diese These zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch „Weltall, Erde, … ICH“ von Andreas Peglau und dem „ich e.V.“. Die These stammt von dem Hallenser Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz, einem intimen Kenner der psychischen Verfasstheit vieler Bürger der ehemaligen DDR, der durch seine fundamentale Gesellschaftskritik bekannt geworden ist, an der er auch nach der Wende mit Bezug auf die bundesrepublikanische Gesellschaft vehement festhält ( „Der Gefühlsstau“ ). „Weltall, Erde, … ICH: Anregungen für ein (selbst)bewussteres Leben“ versammelt neben mehreren Interviews mit Maaz und anderen namhaften Zeitkritikern aus beiden deutschen Staaten Texte von Klassikern der Psychoanalyse und der psychologisch interessierten Sozialphilosophie sowie Reportagen über Menschen und ihre Wendegeschichten, Interviews, Leserbriefe, Gedichte u.ä.

Die Texte des ersten Abschnitts versuchen die Ausgangssituation im Wendejahr 1990 zu verdeutlichen. Der zweite Abschnitt dient einem Rückblick auf die DDR, einer an den realen Gegebenheiten ausgerichteten wirklichen Trauerarbeit, die auch die Suche nach weit zurück liegenden Spuren psychischer Deformation in Stalinismus, Faschismus und Patriarchat einbezieht. Im dritten und umfangreichsten Abschnitt geht es um Ausblicke auf eine menschenwürdigere Zukunft in der BRD, um die Möglichkeit, den Teufelskreis von Frustration und Aggression zu durchbrechen. Dabei werden u.a. so konkrete Themen wie Schwangerschaft und Geburt, Partnerschaft und Sexualität, Selbsthilfe und Therapie, gemeinschaftliches Leben und Arbeiten, Ökonomie und Ökologie aufgegriffen.

Wer diese eindrucksvolle Sammlung gelesen hat, so die Hoffnung Peglaus, der „sollte besser verstehen können, wie seine eigene Lebensgeschichte und die seiner Vorfahren sein heutiges Leben und das seiner Mitmenschen beeinflusst – und er oder sie sollten mehr Möglichkeiten sehen, dieses gegenwärtige Leben und ihre Zukunft (sowie die ihrer Nachfahren) bewusster zu gestalten.“

Ein ungewöhnliches Buch, vorgelegt von einem ungewöhnlichen Menschen, zu einer ungewöhnlichen Zeit: Da ist zum ersten der Titel, angelehnt an das Buch „Weltall, Erde, Mensch“, das in der DDR bis 1973 jedem zur Jugendweihe in die Hand gedrückt wurde. Da ist zum zweiten Andreas Peglau und der Verein „ich e.V.“.

Andreas Peglau, von seiner Ausbildung her Psychologe, war seit 1985 als Journalist im Jugendradio 64 des Berliner Rundfunks für die psychologische Ratgebersendung „Mensch“ verantwortlich. Die ungewöhnliche Resonanz dieser für die DDR einzigartigen Sendung veranlasste Peglau, zusammen mit Hans-Joachim Maaz und vielen seiner Hörer 1989 den „ich e.V.“ zu gründen, der zwischen 1990 und 1998 die Zeitschrift ICH herausgab, deren beste Artikel nun in diesem Band dokumentiert sind. Und da ist zum dritten der Zeitpunkt: Während alle Welt zu mehr Flexibilität und Temposteigerung aufruft und aufgerufen wird, plädiert hier jemand, der noch bis 1990 SED-Mitglied war und die darauf folgenden zehn Jahre als „die besten“ seines Lebens wertet, für das Innehalten, das Sich-Zeit-Nehmen für die Trauerarbeit, für das Nachdenken über eine bewusstere Gestaltung der eigenen Zukunft.

Dieser Band enthält einen überaus wertvollen Schatz für all jene, die sich für das psychische Innenleben der DDR wie der BRD interessieren, die die menschliche Innenseite der Wende umfassend und fundiert kennen lernen wollen, die nicht nur über den realen Sozialismus, sondern auch über den realen Kapitalismus hinaus zu denken wagen.

Quelle: FORUM POLITIKUNTERRICHT, 1/2002, S. 103-104.