Amazon-Rezension zu „Unpolitische Wissenschaft?“ von Robert Hase:
Das über 600-seitige engbeschriebene Werk mit über 900 Anmerkungen ist die Promotionsarbeit des Autors. Obwohl der Untertitel „Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus“ vermuten lässt, es ginge nur um Wilhelm Reich im Dritten Reich, wird im Buch, Wilhelm Reich betreffend, ein weit längerer Zeitraum untersucht, nämlich der von der Weimarer Republik bis zu Reichs Zeit in die USA ab 1940.Nach dem eher verwirrenden, in verschrobener Kunstsprache verfassten Vorwort des marxistischen Theoretikers Helmut Dahmer beschreibt Andreas Peglau den aktuellen Forschungsstand; er selbst befasste sich sieben Jahre lang mit der Thematik. Dabei zeigt sich, dass Peglau der erste Buchautor ist, der die Öffnung der Reich-Archive nutzte und diese auswertete. Wie sehr hätte man sich die Auswertung des Archivs schon bei Christiane Rothländers wichtigem Werk über Karl Motesiczky gewünscht, das Reichs Zeit in Norwegen 1934 bis 1939 ausführlich untersucht.Der Autor überrascht mit mehreren Forschungsresultaten, die das bisherige Urteil über Reich revidieren müssen. So zeigt sich, dass Reich schon in der Weimarer Republik mit massiven Zensurattacken zu tun hatte, die letztlich die juristischen Grenzen erweiterten. Dies zeigt sich an seiner Aufklärungsschrift für Jugendliche.Reich war ein bedeutender Dozent in der Marxistischen Arbeiterschule. Er erreichte dort Hörerzahlen von mehreren tausend Menschen, was auch zu einer starken Verbreitung seiner Schriften führte. Reichs Publikationen erlangten die höchsten Auflagen eines Psychoanalytikers zu Freuds Zeiten, selbst mehr als Freud. Peglau korrigiert einige Fehleinschätzungen anderer Forscher, dass Reich die Mitgliedszahlen seiner Sexualreform-Organisationen und deren Bedeutung stark übertrieben hätte. Entweder verwechseln sie die Anzahl der Aktivisten der Sexualreform-Bewegung mit eingeschriebenen Mitgliedern von einzelnen Organisationen oder produzieren gleich eigene Rechenfehler in der Addition der Mitglieder. Auch die Kritik an Reich, er hätte seine Reise nach Sowjetrussland zu blauäugig gesehen, kann der Autor widerlegen. Ein Abschnitt dokumentiert neue Ergebnisse zur Auseinandersetzung der KPD-Führung mit Reichs politischer Sexualreform. Dabei wird der groteske Umstand beschrieben, dass die KPD-Führung selbst nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und kurz vor dem Reichstagsbrand sich noch intensiv mit dessen Sexualpolitik beschäftigte und seinen Ausschluss aus der Partei erwog, als hätte sie zu diesem Zeitpunkt nichts Wichtigeres zu tun gehabt. Peglau belegt, dass Reichs Buch „Massenpsychologie des Faschismus“ bis heute das einzige fundierte Werk eines Psychoanalytikers zur Erklärung des Faschismus ist. Er diskutiert etwaige Vorläufer oder spätere Erklärungsversuche, wie z. B. Erich Fromm. Reich war zudem der einzige Psychoanalytiker, der sich kritisch zu Nationalsozialismus wie auch Stalinismus äußerte. Eine weitere Entdeckung ist ein Hochverratsprozess der nationalsozialistischen Justiz gegen Reich, was Reich selbst unbekannt blieb, da er zu der Zeit im Ausland dem Zugriff der Justiz entzogen war. Zudem stellt der Autor fest, dass die Tiefenpsychologen im Dritten Reich therapeutisch teilweise fortschrittlicher waren als die Analytiker in den Staaten außerhalb, weil damals die Todestriebtheoretiker die Oberhand im Diskurs gewonnen hatten. Sie erklärten auch soziale oder personale Phänomene mithilfe dieses Triebes und vernachlässigten den Gegensatz Außenwelt-Neurose. Mittels einer Zeitschriftenschau bestätigt Peglau, dass die Psychoanalyse im Dritten Reich nicht verpönt war, sondern durchaus gefördert wurde. Im Dritten Reich existierte eine Polykratie, die es verschiedenen Interessengruppen ermöglichte, Ziele auch gegensätzlicher Art zu verfolgen, solange das System und seine Politik nicht selbst in Frage gestellt wurde. Weiterhin zeigt er auf, dass die zuweilen behauptete Sexualfeindlichkeit des Dritten Reiches durchaus nicht vorhanden war. Die Nationalsozialisten hatten eher eine auffordernde Haltung zur Sexualität, um die Geburtenrate zu erhöhen. Der Autor beschäftigt sich in einem weiteren Kapitel, inwieweit Wilhelm Reich seit seinem Ausschluss aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung innerhalb der Psychoanalyse verdrängt oder verleumdet wurde. Reich wurde größtenteils geschmäht und verfälscht oder, häufiger, seine Rolle in der Psychoanalyse totgeschwiegen. In einem anderen Kapitel geht es um die Zusammenarbeit der Psychoanalytiker in den USA mit den US-Geheimdiensten ab den dreißiger Jahren. Der Autor gibt an, dass rund 50 Prozent der Analytiker für den Geheimdienst oder Regierungsstellen arbeiteten, aber auch im Kalten Krieg ihre Zusammenarbeit fortsetzten. Ebenfalls arbeiteten Psychoanalytiker im Dienste südamerikanischer Diktaturen oder arbeiteten bei Gehirnwäsche-Programmen mit. Zuletzt diskutiert Peglau die politische Abstinenz der Analytiker oder ihren fehlenden Beitrag zur politischen Psychologie. Im Anhang befindet sich noch ein interessanter Bildteil, teilweise aus nachgezeichneten Quellen und auch einigen Fotos. Als Résumé kann man festhalten, dass mit der Veröffentlichung Peglaus (und auch Rothländers) die Reich-Biographik ein höheres Level erreicht hat, wobei die Genauigkeit und das Quellenstudium an die Freud-Biographik heranreichen. Dabei ist das Buch nicht nur für den Fachkundigen von Interesse, da es der Autor versteht, ausführlich in jedes Thema einzuführen. Erstaunlich ist, dass Peglau noch so viele neue Erkenntnisse gewinnen konnte. Akribisch widerlegt er zahlreiche Falschbehauptungen und zeigt den Wissenschaftler Reich als ernstzunehmenden Akteur in Therapie und Politik. Zudem fällt Peglaus große Vorurteilsfreiheit gegenüber Quellen in Schrift und Person auf.