Archiv der Kategorie: Zur Geschichte der Psychoanalyse und speziell zu Wilhelm Reich

Orgasmus und Revolution. Wilhelm Reich in Berlin-Friedrichshain

von Andreas Peglau

Sexualberatung ist keine Erfindung der 1968er Jahre. Es gab sie schon für Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen in den engen, ungesunden Wohnquartieren Berlins der Weimarer Zeit. Eine wesentliche Rolle dabei spielte Wilhelm Reich (1897-1957), der zu den herausragenden Gestalten der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts gehört. In den 1920er Jahren in Wien einer der wichtigsten Mitstreiter Sigmund Freuds, vertiefte er insbesondere die psychoanalytische Gesellschaftstheorie und Therapiemethodik, entwickelte letztere dann zur Körperpsychotherapie. 1927 trat er der Sozialdemokratischen Partei Österreichs bei, bald darauf auch der Kommunistischen Partei. Schon in Wien bemühte er sich um eine „linke“ Einheitsfront gegen den aufkommenden Faschismus, verband in seinen Schriften Psychoanalyse und Marxismus, veröffentlichte Aufklärungsbroschüren, führte Sexualberatungen durch. (…)

Sexualreform in Deutschland

1930 zog er nach Berlin. Hier wurde er umgehend KPD-Mitglied, galt als einer der besten Dozenten der weithin bekannten Marxistischen Arbeiterschule, engagierte sich gegen den Abtreibungsparagraphen 218 – und gehörte zum Leitungsgremium einer KP-Massenorganisation, den Einheitsverbänden für proletarische Sexualreform und Mutterschutz.
Auf Initiative der KPD war am 2. Mai 1931 in Düsseldorf der erste dieser Einheitsverbände gegründet worden. Später entstanden entsprechende Organisationen im Ruhrgebiet, in Sachsen sowie in den Regionen Halle-Merseburg, Mittelrhein und Berlin. Durch diese Einheitsverbände, deren Gesamtmitgliederzahl sich für Ende 1932 auf mindestens 20.000 schätzen lässt, sollten die diversen deutschen Sexualorganisationen „durch Anschluß an die Kommunistische Partei […] zu einem einheitlichen sexualpolitischen Verband zusammengeschmolzen werden“, so Reich. Der KPD ging es dabei weniger um gesunde Sexualität als darum, breite Bevölkerungskreise zu erreichen und sie gleichzeitig der SPD abspenstig zu machen. Immerhin hatten sich den deutschen Sexualreformorganisationen bis dahin mehr als 300.000 Menschen angeschlossen.
Schon die Düsseldorfer Gründungsversammlung im Mai 1931 wurde von Reich inhaltlich dominiert. Er hatte ein Aktionsprogramm dafür vorbereitet und hielt das einleitende Referat. Er gehörte dann auch zu der sechsköpfigen „Reichsleitung“ der Einheitsverbände, „Einheitskomitee für proletarische Sexualreform“ genannt. Dieses residierte in der Burgstraße 28 V, Zimmer 162 an der Spree, gegenüber der Museumsinsel.
Reichs Wirkungsfeld umfasste sowohl verschiedene Städte und Regionen Deutschlands als auch ganz Berlin. Hier hielt er nicht nur Vorträge, er leitete zugleich mehrere Beratungsstellen.

 „Die Warte“, November 1931
Mitteilungen aus „Die Warte“ von November 1931.

Sexualberatung …

Der Arzt und Sexualreformer Hans Lehfeldt berichtete 1932: „Die Beratungsstellen des Einheitsverbandes in Berlin, die von Dr. Reich gegründet wurden, haben die psychoanalytische Behandlung von Sexualkonflikten zu ihrer besonderen Aufgabe gemacht.“ Wie zuvor schon in Wien dürften sich auch andere „linke“ Psychoanalytiker daran beteiligt haben.
Über die Beratungstätigkeit wurde auch in der Vereinszeitschrift des Einheitsverbands „Die Warte“ informiert. So hieß es in der Novemberausgabe 1931: „Das Einheitskomitee für proletarische Sexualreform hat im Oktober in Berlin drei Sexualberatungsstellen, die von geschulten Ärzten geleitet werden, eröffnet […]: Norden: Dienstag, 6–8 Uhr, Müllerstraße 143 a, 1. Treppe. Osten: Dienstag, 6–7.30 Uhr, Kadiner Straße 17 (Lokal „Welt am Abend“). Zentrum: 6–8 Uhr, Kronprinzenufer 23, Parterre links.“ Im März 1932 wurden zusätzlich zur Müllerstraße zwei andere Adressen angegeben: „Lichtenberg, Friedrich-Karl-Straße 23, Freitags, 7–9 Uhr“ und „Mitte, Friedrichstraße 121, 3 Treppen rechts, Mittwochs von 5–7 Uhr“. In einer früheren Ausgabe der Warte wurde die Romintener Str. 6 genannt.

Kadiner straße, ca. 1910 | Quelle: Historische Postkarte
Die Kadiner Straße um 1910. Im Hintergrund die 1949 gesprengte Lazaruskirche. / Quelle: Historische Postkarte /
Colbestraße 23 in Berlin-Friedrichshain | Foto: Andreas Peglau
Colbestraße 23 heute: Unter anderem in diesem Haus gab es in den 30er Jahren eine Sexualberatungsstelle. / Foto: Andreas Peglau /

… in Friedrichshain

Für drei dieser Beratungsstellen lassen sich Adressen im heutigen Friedrichshain nachweisen: Kadiner Str. 17, Colbesstr. 23, die ehemalige Friedrich-Karl-Straße, bis 1938 Lichtenberg und Grünberger Str. 14, die ehemalige Romintener Straße. Vermutlich zog die Letztere dann in die Kadiner Straße um. Zwei dieser Häuser sind erhalten geblieben: in der Colbestraße und der Grünberger Straße – siehe Foto.
Wie sehr sich Reichs Ansatz von der sonstigen Sexualberatung unterschied, auch von der, die durch andere KP-Massenorganisationen durchgeführt wurde, verdeutlicht ein Bericht von 1931. Dort wird geschildert, wie Frauen aus der von der Internationalen Arbeiterhilfe getragenen Beratungsstelle Wedding zurückkamen: „mit freudigerem, frohem Gesichtsausdruck“, unter andrem, „weil sie nun nicht mehr dem Mann die ‚eheliche Pflicht‘ verweigern und somit fremden Frauen in die Arme zu treiben“ brauchten. Die Institution Ehe wurde somit als einzig legitimer Ort sexueller Verwirklichung betrachtet, die sexuelle Verfügbarkeit der Ehefrau vorausgesetzt. Reich hingegen ging es um die Verhütung bzw. Linderung von Neurosen und sexuellen Störungen sowie um die Schaffung von Möglichkeiten für beide Partner, durch lustvolle Betätigung inklusive Orgasmus leiblich und seelisch zu entspannen. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau war dabei für ihn eine ebenso selbstverständliche Basis wie die Notwendigkeit, die sexuelle Zwangsgemeinschaft, wie sie die Ehe für viele bedeutete, abzuschaffen und durch freiere und freiwillige Partnerschaftsbeziehungen zu ersetzen.

„Freie“ Liebe?

Worum es ihm allerdings niemals ging, war das, was viele „68er“ dann in seine Schriften hineindeuteten und als „freie Liebe“ propagierten. Reich schrieb 1946: „Wenn unterdrückte Menschen das Wort frei verwenden, so meinen sie damit stets ein wahlloses Herumficken.“ Aber Reich wusste auch: Nur psychisch gesunde Menschen sind in der Lage, gesunde soziale Verhältnisse herzustellen, Revolutionen zu nachhaltigem Erfolg zu führen. Und zu dieser psychischen Gesundheit gehört eben auch sexueller Genuss.

 

Erstveröffentlichung: https://fhzz.de/wilhelm-reich-in-berlin-friedrichshain/view-all/

 

Wilhelm Reich und die „Massenpsychologie des Faschismus“ – eine traurige Leerstelle in der Münzenberg-Zeitschrift „Zukunft“

von Andreas Peglau

Im September 2015 fand in Berlin der erste internationale Willi-Münzenberg-Kongress statt zu Leben, Werk und aktueller Bedeutung des außergewöhnlichen „linken“ Multifunktionärs und Internationalisten Münzenberg (1889-1940).

Nun ist der Kongressband erschienen. Weiterlesen

Ein wichtiger Film mit wichtigen Auslassungen: „Love, work and knowledge – the life and trials of Wilhelm Reich” von Kevin Hinchey und Glenn Orkin.

von Andreas Peglau

(PS 2019: Zum Streaming des Films siehe hier.)

Plakat Reich-Film

Quelle: http://loveworkknowledge.com/

Am 24. Mai 2018 fand die europäische Premiere des neuen Wilhelm-Reich-Dokumentarfilms statt, an einem ausgesprochen passsenden Ort: der Sigmund-Freud-Universität in Wien. Weiterlesen

Mythos Todestrieb. Über einen Irrweg der Psychoanalyse

von Andreas Peglau

1932 bezeichnete Freud (1999c, S. 101) „[d]ie Trieblehre“ als „unsere Mythologie“, Triebe als „mythische Wesen“. 1920, in Jenseits des Lustprinzips, hatte er das umstrittenste dieser „Wesen“ erstmals öffentlich vorgestellt: den Destruktions- oder Todestrieb, später Thanatos benannt, nach dem griechischen Todesgott. Noch heute hat die Annahme eines solchen Triebes Einfluss in- und außerhalb der Psychoanalyse – obwohl ihre Realitätsferne längst erwiesen ist. Weiterlesen

Vom Nicht-Veralten des „autoritären Charakters“

von Andreas Peglau 

Dieser Text (1) ist eine stark gekürzte und leicht veränderte Fassung des Beitrags „Vom Nicht-Veralten des ‚autoritären Charakters‘. Wilhelm Reich, Erich Fromm und die Rechtsextremismusforschung“, der erschienen ist in Sozial.Geschichte Online/ Heft 22/ 2018.
Dort finden sich zahlreiche zusätzliche Informationen und Quellenangaben.

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Vor über 100 Jahren begannen einzelne Psychoanalytiker, sich für die Entstehungsbedingungen und Auswirkungen dessen zu interessieren, was später „autoritärer Charakter“ genannt werden sollte. Wenn heute in der Sozialwissenschaft nach den Ursachen des europäischen „Rechtsrucks“ gefragt wird, spielt dieses Konzept kaum noch eine Rolle.
Dies jedoch keinesfalls, weil es „veraltet“ wäre.
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Über Freud und Marx hinaus: Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ (1933)

von Andreas Peglau¹

Nur gelegentlich wird heute, wenn es um die Hintergründe der aktuellen Erfolge „rechter“ Bewegungen und Parteien geht, auf Sigmund Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse verwiesen. Noch seltener ist eine Bezugnahme auf Wilhelm Reichs 1933 erschienene Massenpsychologie des Faschismus – obwohl dieses Buch Freuds Analyse an Tiefgründigkeit bei Weitem übertraf. Es war eines der wichtigsten psychoanalytischen Bücher, die je erschienen sind,² zugleich die erste Veröffentlichung dessen, was heute Rechtsextremismusforschung genannt wird.³ Dennoch ist es, insbesondere in seiner ursprünglichen Fassung, in der Reich noch als „linker“ Psychoanalytiker schrieb, weitgehend in Vergessenheit geraten. Dass dieses Werk 2013 in den Band 100 Klassiker der Sozialwissenschaften aufgenommen wurde,4 ist vielleicht ein Indiz für eine beginnende Wiederentdeckung. 2017, im Jahr von Wilhelm Reichs 60. Todes- und 120. Geburtstag, hat seine Massenpsychologie ihre Brisanz nicht verloren; sie ist sogar im Wachsen. Weiterlesen

Der Mensch ist dem Menschen KEIN Wolf – über eine eklatante Freud`sche Fehlleistung

von Andreas Peglau

Die noch immer – und nicht nur unter vielen kleinianischen und lacanschen Psychoanalytikern – verbreitete Auffassung, es gebe einen Todes-, Destruktions- oder zumindest einen, wie Konrad Lorenz postulierte, Aggressionstrieb, lässt sich mit guten wissenschaftlichen Argumenten bezweifeln.¹ Literatur dazu ist reichlich vorhanden.²
Bemerkenswert und meines Wissens wenig bekannt ist jedoch: Auch dem vielfach als Autoritätsbeweis für die Existenz angeborener Bösartigkeit herangezogenen Satz Sigmund Freuds liegt die krasse Fehlauslegung eines Zitates zugrunde.

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100 JAHRE „URSZENE“. Anmerkungen zu einem strittigen Begriff

von Andreas Peglau

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Psychoanalytische Geröllhalden

Johannes Cremerius (1995, S. 47) urteilte, die Psychoanalyse habe nur eine Zukunft, wenn sie sich „Aufräumarbeiten“ in der Begriffsbildung unterziehe, statt weiter dahin zu stolpern über „Geröllhalden beliebiger, vieldeutiger Begriffe oder solcher, die nur geheime Vokabeln für Eingeweihte sind“. Sogar „im Zentrum der psychoanalytischen Theoriebildung“ stoße man auf „generalisierende Ideen“, „Privatphilosophien“, nie Geklärtes und unreflektiert Weitergegebenes. Ich teile diese Ansicht.
Die als kindliche Beobachtung elterlichen Geschlechtsverkehrs verstandene, angeblich traumatisierende „Urszene“ scheint mir einer der hinterfragenswürdigen Begriffe zu sein. Daher wollte ich wissen: Wie wird in der Psychoanalyse Freuds tatsächlicher Umgang mit diesem Terminus berücksichtigt? Ist die dieser Szene zugeschriebene Wirkung mittlerweile empirisch geprüft?

Urszene

Sigmund Freud 1918: „Lösung aller Rätsel“.

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