Sigmund Freuds in den USA lebender Neffe Edward Bernays war einer der »Väter« der „Public Relations“. In seine Anleitungen zur Meinungsmanipulation ließ Bernays Thesen Freuds einfließen und behauptete:
»Wenn wir die Mechanismen und Motive der Massenseele verstehen, ist es uns nun möglich, die Massen nach unserem Willen zu kontrollieren und zu führen, ohne dass sie es mitbekommen« (Bernays 1928, S. 47–48).
Sein erstes Buch zu diesem Thema, das 1923 erschienene Crystallizing Public Opinion, wurde laut Bernays‘ Angaben auch von Joseph Goebbels zu Rate gezogen (Fossel i. V.).[1]
Doch wie Florian Fossel mitteilt, wird Freud in diesem Buch nur einmal namentlich erwähnt, sonst nur indirekt auf ihn Bezug genommen.
Vorab. Reich gründete im skandinavischen Exil 1934 die Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie. Für die Herausgabe und Autorenschaft mancher Beiträge wählte er das Pseudonym „Ernst Parell“. Die Zeitschrift existierte bis 1938.
ZPPS – die erste Ausgabe
Er nutzte sie nicht nur, um gegen den Faschismus anzuschreiben, sondern ebenfalls, um kritisch auszuwerten, was er zuvor an Kontraproduktivem bis Reaktionärem innerhalb von Psychoanalyse und Arbeiterbewegung erfahren musste. Letzteres betraf auch eine Art von Wissensvermittlung, wie sie selbst in der Zeitschrift Der Marxist auftauchte. Mit dieser Publikation – zu deren Redaktionskollegium Reich 1931/32 gehörte – wollte die ja tatsächlich populäre und volksnahe Marxistische Arbeiterschule MASCH noch größere Kreise erreichen. „(D)ie Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“, hatte Marx geschrieben. Aber wer die Massen „ergreifen“ will, sollte sich verständlich ausdrücken – ein Problem, das sich seither nicht erledigt hat. Andreas Peglau
Im Dezember 1929 kam es zu einem Schlagabtausch zwischen Reich und Freud auf einer der von Letzterem veranstalteten Diskussionsabende in Wien. Kernpunkt war Reichs Überzeugung, dass eine Prophylaxe sexueller und neurotischer Störungen ebenso nötig wie möglich sei – eine Sicht, die auch Freud früher vertreten hatte. Nun jedoch wandte sich Freud heftig gegen Reichs Thesen, qualifizierte diese als angeblich „völlig unpsychologisch“ ab.
Kinder der Zukunft lässt sich lesen als Bilanz dessen, was Reich dem in der ihm verbliebenen Lebensspanne in Forschung und praktischer Tätigkeit entgegensetzte.
bilanziert Wolfgang Brauer, dass die von Reich diagnostizierten destruktiven psychischen Konstellationen „erschreckenderweise (…) immer noch (…) funktionieren“. Weiterlesen →
Andreas Peglau: Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reich und die „Massenpsychologie des Faschismus“ als Erklärungsansatz
Gesprochen von Sabine Falkenberg und Thomas Nicolai. Produziert im Oktober 2019 im Hörbuch-Tonstudio Berlin. Ton und Schnitt: Berthold Heiland. Hörbuchfassung, Produktion und Regie: Andreas Peglau. Covergestaltung: Jan Petzold Gesamtlänge: ca. 138 Minuten
Andreas Peglau: Rechtsruck im 21. Jahrhundert. Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ als Erklärungsansatz
Vor einem Wiedererstarken des Faschismus hat schon Bertolt Brecht gewarnt: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Aber was ist dieser „Schoß“?Weiterlesen →
Andreas Peglau über 1933 veröffentlichte Erkenntnisse Wilhelm Reichs, die helfen, auch den Rechtsruck im 21. Jahrhundert zu verstehen (Vortrag, gehalten auf dem 16. EABP-Kongress in Berlin, 7.9.2018)
Im November 1930 zog der 33-jährige Wilhelm Reich von Wien nach Berlin – in der Hoffnung auf ein günstiges Umfeld für seine therapeutische, sexualreformerische und politische Tätigkeit. Auf all diesen Gebieten war er zuvor in Konflikte mit Sigmund Freud und dessen Kollegen geraten.
(…)
Schon 1929 hatte Reich begriffen, „daß der Ausgangskonflikt der seelischen Erkrankung […] sich in Form der muskulären Störung physiologisch strukturell verankert“. Seitdem richtete er sein Augenmerk zusätzlich zum verbalen auf den körpersprachlichen Ausdruck von Gefühlen und Gedanken. In Berlin bezog er dies systematischer in die Behandlung ein. Das spiegelt eine von ihm 1931 mitgeteilte Fallgeschichte wider.
Reich schrieb: „Es war zunächst nicht leicht, den Patienten dazu zu bewegen, das trotzige Agieren der Kindheit zu reaktivieren. […] Ein vornehmer Mensch […] kann doch derartiges nicht tun.“ Reich „versuchte es zuerst mit der Deutung, stieß aber auf völliges Ignorieren“ seiner Bemühungen. „Nun begann“ er, „den Patienten nachzuahmen.“ Dadurch verunsichert, wohl auch verärgert, reagierte dieser – Zitat:
„mit einem unwillkürlichen Aufstrampeln. Ich ergriff die Gelegenheit und forderte ihn auf, sich völlig gehen zu lassen. Er begriff zuerst nicht, wie man ihn zu derartigem auffordern könne, aber schließlich begann er mit immer mehr Mut, sich auf dem Sofa hin und her zu werfen, um dann zu affektivem Trotzschreien und Hervorbrüllen unartikulierter, tierähnlicher Laute überzugehen. Ganz besonders stark wurde ein derartiger Anfall, als ich ihm einmal sagte, seine Verteidigung seines Vaters sei nur eine Maskierung seines maßlosen Hasses gegen ihn. Ich zögerte auch nicht, diesem Haß ein Stück rationaler Berechtigung zuzubilligen. Seine Aktionen begannen nunmehr, einen unheimlichen Charakter anzunehmen. Er brüllte derart, daß die Leute im Hause ängstlich zu werden begannen. Das konnte uns nicht stören, denn wir wußten, daß er nur auf diese Weise seine kindliche Neurose voll, affektiv, nicht nur erinnerungsmäßig, wiedererleben konnte“.
Zitat Ende. Reich wurde bei diesem – für Freud undenkbaren – Vorgehen in ungeahnter Intensität mit der Destruktivität konfrontiert, die seine Patienten normalerweise hinter einer angepassten, höflichen Maske verbargen. Entsprach man ihren neurotischen Erwartungen nicht, unterstützte sie stattdessen dabei, ihre nun aufsteigenden Gefühle zu zeigen, brach sich oftmals seit der Kindheit gestauter Hass auf unterdrückende Autoritäten Bahn – in Gedanken, Worten, Gefühlen und Körpersprache. Reich entdeckte somit einen spezifisch körperpsychotherapeutischen, dem rein psychoanalytischen klar überlegenen Zugang zum Verständnis destruktiven Verhaltens – von dem das faschistische ja nur eine Spielart ist.
Lecture by Andreas Peglau held at the 16. EABP-congress in Berlin, 7.9.2018.
Translated by Martina Weitendorf
In November 1930, 33-year-old Wilhelm Reich moved from Vienna to Berlin – in the hope of a favourable environment for his therapeutic, sexual reform and political activities. In all these areas he had previously come into conflict with Sigmund Freud and his colleagues.
There are only a few architectural testimonies of Reich’s work in Berlin. I would like to show you four of them before I move on to the main topic of my presentation.
Andreas Peglau über 1933 veröffentlichte Erkenntnisse Wilhelm Reichs, die helfen, auch den Rechtsruck im 21. Jahrhundert zu verstehen (16. EABP-Kongress in Berlin, 7.9.2018)
Im November 1930 zog der 33-jährige Wilhelm Reich von Wien nach Berlin – in der Hoffnung auf ein günstiges Umfeld für seine therapeutische, sexualreformerische und politische Tätigkeit. Auf all diesen Gebieten war er zuvor in Konflikte mit Sigmund Freud und dessen Kollegen geraten.
Es gibt nur noch wenige architektonische Zeugnisse von Reichs Wirken in Berlin. Vier davon möchte ich Ihnen zeigen, bevor ich zum Hauptthema meines Vortrags komme. Zunächst das Schickler-Gebäude an der Spree, unweit des Alexanderplatzes. Weiterlesen →
Sexualberatung ist keine Erfindung der 1968er Jahre. Es gab sie schon für Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen in den engen, ungesunden Wohnquartieren Berlins der Weimarer Zeit. Eine wesentliche Rolle dabei spielte Wilhelm Reich (1897-1957), der zu den herausragenden Gestalten der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts gehört. In den 1920er Jahren in Wien einer der wichtigsten Mitstreiter Sigmund Freuds, vertiefte er insbesondere die psychoanalytische Gesellschaftstheorie und Therapiemethodik, entwickelte letztere dann zur Körperpsychotherapie. 1927 trat er der Sozialdemokratischen Partei Österreichs bei, bald darauf auch der Kommunistischen Partei. Schon in Wien bemühte er sich um eine „linke“ Einheitsfront gegen den aufkommenden Faschismus, verband in seinen Schriften Psychoanalyse und Marxismus, veröffentlichte Aufklärungsbroschüren, führte Sexualberatungen durch. (…)
Sexualreform in Deutschland
1930 zog er nach Berlin. Hier wurde er umgehend KPD-Mitglied, galt als einer der besten Dozenten der weithin bekannten Marxistischen Arbeiterschule, engagierte sich gegen den Abtreibungsparagraphen 218 – und gehörte zum Leitungsgremium einer KP-Massenorganisation, den Einheitsverbänden für proletarische Sexualreform und Mutterschutz.
Auf Initiative der KPD war am 2. Mai 1931 in Düsseldorf der erste dieser Einheitsverbände gegründet worden. Später entstanden entsprechende Organisationen im Ruhrgebiet, in Sachsen sowie in den Regionen Halle-Merseburg, Mittelrhein und Berlin. Durch diese Einheitsverbände, deren Gesamtmitgliederzahl sich für Ende 1932 auf mindestens 20.000 schätzen lässt, sollten die diversen deutschen Sexualorganisationen „durch Anschluß an die Kommunistische Partei […] zu einem einheitlichen sexualpolitischen Verband zusammengeschmolzen werden“, so Reich. Der KPD ging es dabei weniger um gesunde Sexualität als darum, breite Bevölkerungskreise zu erreichen und sie gleichzeitig der SPD abspenstig zu machen. Immerhin hatten sich den deutschen Sexualreformorganisationen bis dahin mehr als 300.000 Menschen angeschlossen.
Schon die Düsseldorfer Gründungsversammlung im Mai 1931 wurde von Reich inhaltlich dominiert. Er hatte ein Aktionsprogramm dafür vorbereitet und hielt das einleitende Referat. Er gehörte dann auch zu der sechsköpfigen „Reichsleitung“ der Einheitsverbände, „Einheitskomitee für proletarische Sexualreform“ genannt. Dieses residierte in der Burgstraße 28 V, Zimmer 162 an der Spree, gegenüber der Museumsinsel.
Reichs Wirkungsfeld umfasste sowohl verschiedene Städte und Regionen Deutschlands als auch ganz Berlin. Hier hielt er nicht nur Vorträge, er leitete zugleich mehrere Beratungsstellen.
Mitteilungen aus „Die Warte“ von November 1931.
Sexualberatung …
Der Arzt und Sexualreformer Hans Lehfeldt berichtete 1932: „Die Beratungsstellen des Einheitsverbandes in Berlin, die von Dr. Reich gegründet wurden, haben die psychoanalytische Behandlung von Sexualkonflikten zu ihrer besonderen Aufgabe gemacht.“ Wie zuvor schon in Wien dürften sich auch andere „linke“ Psychoanalytiker daran beteiligt haben.
Über die Beratungstätigkeit wurde auch in der Vereinszeitschrift des Einheitsverbands „Die Warte“ informiert. So hieß es in der Novemberausgabe 1931: „Das Einheitskomitee für proletarische Sexualreform hat im Oktober in Berlin drei Sexualberatungsstellen, die von geschulten Ärzten geleitet werden, eröffnet […]: Norden: Dienstag, 6–8 Uhr, Müllerstraße 143 a, 1. Treppe. Osten: Dienstag, 6–7.30 Uhr, Kadiner Straße 17 (Lokal „Welt am Abend“). Zentrum: 6–8 Uhr, Kronprinzenufer 23, Parterre links.“ Im März 1932 wurden zusätzlich zur Müllerstraße zwei andere Adressen angegeben: „Lichtenberg, Friedrich-Karl-Straße 23, Freitags, 7–9 Uhr“ und „Mitte, Friedrichstraße 121, 3 Treppen rechts, Mittwochs von 5–7 Uhr“. In einer früheren Ausgabe der Warte wurde die Romintener Str. 6 genannt.
Die Kadiner Straße um 1910. Im Hintergrund die 1949 gesprengte Lazaruskirche. / Quelle: Historische Postkarte /Colbestraße 23 heute: Unter anderem in diesem Haus gab es in den 30er Jahren eine Sexualberatungsstelle. / Foto: Andreas Peglau /
… in Friedrichshain
Für drei dieser Beratungsstellen lassen sich Adressen im heutigen Friedrichshain nachweisen: Kadiner Str. 17, Colbesstr. 23, die ehemalige Friedrich-Karl-Straße, bis 1938 Lichtenberg und Grünberger Str. 14, die ehemalige Romintener Straße. Vermutlich zog die Letztere dann in die Kadiner Straße um. Zwei dieser Häuser sind erhalten geblieben: in der Colbestraße und der Grünberger Straße – siehe Foto.
Wie sehr sich Reichs Ansatz von der sonstigen Sexualberatung unterschied, auch von der, die durch andere KP-Massenorganisationen durchgeführt wurde, verdeutlicht ein Bericht von 1931. Dort wird geschildert, wie Frauen aus der von der Internationalen Arbeiterhilfe getragenen Beratungsstelle Wedding zurückkamen: „mit freudigerem, frohem Gesichtsausdruck“, unter andrem, „weil sie nun nicht mehr dem Mann die ‚eheliche Pflicht‘ verweigern und somit fremden Frauen in die Arme zu treiben“ brauchten. Die Institution Ehe wurde somit als einzig legitimer Ort sexueller Verwirklichung betrachtet, die sexuelle Verfügbarkeit der Ehefrau vorausgesetzt. Reich hingegen ging es um die Verhütung bzw. Linderung von Neurosen und sexuellen Störungen sowie um die Schaffung von Möglichkeiten für beide Partner, durch lustvolle Betätigung inklusive Orgasmus leiblich und seelisch zu entspannen. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau war dabei für ihn eine ebenso selbstverständliche Basis wie die Notwendigkeit, die sexuelle Zwangsgemeinschaft, wie sie die Ehe für viele bedeutete, abzuschaffen und durch freiere und freiwillige Partnerschaftsbeziehungen zu ersetzen.
„Freie“ Liebe?
Worum es ihm allerdings niemals ging, war das, was viele „68er“ dann in seine Schriften hineindeuteten und als „freie Liebe“ propagierten. Reich schrieb 1946: „Wenn unterdrückte Menschen das Wort frei verwenden, so meinen sie damit stets ein wahlloses Herumficken.“ Aber Reich wusste auch: Nur psychisch gesunde Menschen sind in der Lage, gesunde soziale Verhältnisse herzustellen, Revolutionen zu nachhaltigem Erfolg zu führen. Und zu dieser psychischen Gesundheit gehört eben auch sexueller Genuss.